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BPB

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Bimmelebimmelebim! Die goldene Rathausglocke in der Hand von Bürgermeister Radolf Müller-Pfuhr läutete die letzte Sitzung des Stadtrats vor der Weihnachtspause ein. Versammelt hatte sich die komplette Bürger-Partei-Bresel.

Die BPB regierte das Städtchen, seit sich König Ludwig II. im Starnberger See ertränkt hatte. Und das war weit länger her, als die meisten Breselner sich erinnern konnten.

Zu Radolfs Linken saß seine rechte Hand Doktor Jorgonson, seines Zeichens Kassenwart und Protokollführer. Zu seiner Rechten zupfte sich Agathe das geblümte Dirndl zurecht. Sie verkörperte den gesamten weiblichen Teil der BPB. Wenn man mal von Martina Dall absah. Was man heute wie so oft auch konnte. Agathe war Radolfs bessere Hälfte, wie man so sagt.

Ebenfalls auf Einladung des Bürgermeisters anwesend eine Fotografin und zwei Reporter vom Breselner Volksblatt, die an der Fensterfront des Saals leise vor sich hin murmelnd Platz genommen hatten.

Bimmelebimmelebim! Der Bürgermeister zielte mit seinem hervorragenden Kinn der Reihe nach auf jeden Anwesenden.

„Wie ich sehe sind wir …“ Die Saaltür wurde aufgerissen. Vierundzwanzig Köpfe drehten sich wie von einem gemeinsamen Faden gezogen. In einer Wolke aus Mehl schnaufte Bäckermeister Blume herein, stapfte einmal halb um den Ratstisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Allgemeines Husten.

„Wie ich sehe …“ Fünfundzwanzig Köpfe wanderten zurück, Radolfs Augenbrauen stellten sich steil, „… sind wir inzwischen so gut wie vollzählig und freuen uns, jemanden in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, der für unsere geliebte Stadt und besonders für das Historische Museum Bresel Großartiges geleistet hat.“ Radolf erhob sich und machte eine einladende Bewegung etwa in die Richtung von Bäckermeister Blume, der verwirrt durch seine Brezelbrille blinzelte. Neben ihm rückte ein Herr mit mundumkreisenden Bart seinen Stuhl zurück und stand auf. Mit leichtem Kopfnicken dankte er dem Applaus, den die BPB auf die Tische trommelte. Bäckermeister Blume sackte erleichtert in seinen staubigen Stuhl zurück.

„Der ehrenamtliche Vorsitzende des Historischen Museums Bresel, Herr Clemens Zuffhausen!“ Das Trommeln verebbte. „Sie haben das Wort.“ Radolf Müller-Pfuhr setzte sich wieder und gespanntes Schweigen machte die Runde. Sozusagen.

Clemens Zuffhausen wischte etwas Mehl von seinem Ärmel und räusperte sich.

„Meine Herren“, begann er, „meine Dame. Das alte Jahr neigt sich seinem Ende zu, und, wie Sie alle wissen, liegen turbulente Ereignisse hinter uns, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Bis auf eines. Es betrifft unser überregional bekanntes und bedeutendes Kloster Sankt Florian. Vor etwa zwei Monaten verließen die letzten sechs Florian-Mönche – teilweise lebend, teilweise … nun ja – jedenfalls steht seit dem das Kloster Sankt Florian leer.“

Der versammelte Stadtrat nickte sorgenvoll in Erinnerung an die turbulenten Ereignisse des vergangenen Herbstes [die in dem Buch Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel für die Nachwelt überliefert sind].

„Was einerseits bedauerlich ist.“ Clemens Zuffhausens Stirn warf Falten, „andererseits aber auch Chancen für die Zukunft bietet.“

Beim Stichwort Zukunft leuchtete das Gesicht von Bürgermeister Müller-Pfuhr wie eines seiner Wahlplakate, unter dem Dank meiner umsichtigen Politik stand. Die Fotografin ließ ihren Fotoapparat dreimal schnell hintereinander klicken. Clemens nickte Radolf zu und fuhr fort.

„Zum einen schätzen sich die Archäologen des Historischen Museums Bresel glücklich, in den nächsten zwei Monaten die Klosteranlage auf Herz und Nieren untersuchen zu können – dank ihrer freundlichen Unterstützung.“

Clemens blickte in die Runde. Der gesamte Stadtrat nickte unterstützend. Clemens hustete ein wenig Mehl von den Stimmbändern.

„Zum anderen hatten der Herr Bürgermeister …“, strahlendes Lächeln – Klick, „… und meine bescheidene Wenigkeit die Idee, das Klostergebäude zu einem zentralen Treffpunkt für die Bürger unserer geliebten Stadt Bresel umzubauen.“ Clemens nahm einen Schluck aus dem bereitgestellten Wasserglas. „Aus dem Schwimmbad im Keller entstünde eine Erlebnistherme mit Saunabereich. Konzerte, Ausstellungen, Dichterlesungen und Volkshochschulkurse würden das Breselner Leben bereichern. Und nicht zuletzt böten die unterirdischen Stollen bis hinauf ins Knittelsteiner Labyrinth, ja bis zur legendären wiederentdeckten Tropfsteinhöhle im Breselberg – dank der Aufgeschlossenheit der neuen Baronenfamilie – glänzende Attraktionen für den für unsere geliebte Stadt so wichtigen - …“, Herr Zuffhausen holte sichtlich bewegt Luft, „… Tourismus.“

Allgemeines Nicken. Bäcker Blume nieste.

„Die Jugend“, flüsterte Agathe Müller-Pfuhr quer über den Tisch. „Vergessen Sie die Jugend nicht!“

Clemens schluckte und hustete in Agathes Richtung. „Richtig. Wie Sie ja alle wissen, bin ich im Hauptberuf Direktor des hiesigen Gymnasiums. Am vergangenen Freitag fand in der Aula des Adalbertinums eine Konferenz aller Breselner Schulleiter statt. Dort wurde der Wunsch geäußert, die Jugend in das Klosterprojekt einzubeziehen. Der Herr Bürgermeister …“, Klick! Die Fotografin war wieselflink, „… hat schon grünes Licht gegeben. Und so möchte ich die heute freundlicherweise anwesenden Damen und Herren des Breselner Volksblattes bitten, in ihrer Zeitung auf ein besonderes Angebot des Historischen Museums hinzuweisen. Wir suchen interessierte Schüler, die in ihrer Freizeit die Archäologen unterstützen möchten. Als Grabungshelfer. Eine einmalige Gelegenheit, davon bin ich überzeugt. Alles Weitere entnehmen sie bitte dem Faltblatt an ihrem Tisch. Ich danke Ihnen.“

Nachdem der Stadtrat den Sitzungssaal verlassen (und Bäcker Blume seinen Sitzungsstuhl entstaubt) hatte, baten die Reporter den Herrn Bürgermeister und Clemens Zuffhausen zu einem Foto. Am besten – angesichts des strahlenden Wetters – mitten auf dem Marktplatz vor dem Kunibaldbrunnen. Dort standen nun die beiden Herren, lächelnd und händeschüttelnd. Und Doktor Jorgonson umkreiste solange den Brunnen, bis ihn Radolf mit aufs Bild bat.

Die Volksblattjournalisten – besonders die Fotografin – waren zufrieden und zogen ab (und mussten später von den besten Bildern eine Mehlwolke digital entfernen, die vor dem Portal der Sankt-Urban-Kirche auf den Bäckerladen von Bäcker Blume zusteuerte).

Clemens, Radolf und Doktor Jorgonson verabschiedeten sich wortreich und verließen Ritter Kunibald, der eisern die Lippen aufeinander presste. Die Menschen (und speziell die Politiker) hatten sich in den verflossenen eintausend Jahren kein Stück geändert. Was eigentlich auch nicht zu erwarten gewesen war.

Breselner Volksblatt, 10. Dezember

EVENT-CENTER IN GREIFBARER NÄHE

GRABUNGSHELFER GESUCHT

Der schon seit einigen Wochen diskutierte Umbau des baufälligen Sankt-Florian-Klosters zum Event-Center (EC) ist nun beschlossene Sache. In der gestrigen Stadtratssitzung stellte der Leiter des Historischen Museums Bresel (HMB) Clemens Zuffhausen den Stand der Planungen vor. Demzufolge sind eine Erlebnis-Therme mit Sauna, verschiedene kulturelle Events bis hin zu Führungen in die berühmte Breselberger Tropfsteinhöhle vorgesehen.

Außerdem darf man auf die weiteren Ergebnisse der Ausgrabungen in und um das denkmalgeschützte Gebäude gespannt sein, von denen sich die Fachleute Erhellendes zur Geschichte des Klosters, ja der ganzen Stadt erhoffen.

In diesem Zusammenhang wies Herr Zuffhausen auf ein Gemeinschaftsprojekt der Breselner Schulen und des HMB hin. Eine begrenzte Anzahl Schüler darf in den Weihnachtsferien als Grabungshelfer im Kloster den Archäologen zur Hand gehen. Interessenten melden sich bitte bis zum übernächsten Freitag im HMB.

„Scheißname“, sagte Freddie. Jan nickte. Die beiden Jungs standen vor dem schwarzen Brett im Eingangsbereich des Adalbertinums.

„Event-Center.“ Jan drückte schaudernd seinen Zeigefinger auf die Kopie des Zeitungsartikels. „Kommt gleich nach Mehrzweckhalle und Einkaufsparadies.“

„Oder hier: Erlebnis-Therme“, ergänzte Freddie. „Wer denkt sich nur so'n …“ Der neuerliche Gebrauch des Wortes, das irgendwo zwischen Scheibe und Schweiß lag, wurde unterbrochen vom Klingelzeichen, das die große Pause beendete.

„Aber Grabungshelfer klingt nicht übel“, meinte Jan, als sie die Treppe zum Klassenraum der 6b hinaufkeuchten.

„Morgen soll übrigens Radolf den ersten Spatenstich in den Klosterkeller treten, sagt mein Vater.“ Freddie drückte die Klinke der Klassentür runter.

„Das gucken wir uns an!“

Das Adalbertinum war eine hufeisenförmige Renaissance-Anlage, deren Gebäudeflügel einen lauschigen Park umschlossen. Adalbert Stifterstein zu Bresel hatte sie 1556 für den Jesuitenorden errichten lassen. Damals noch vor den Toren der Stadt. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beherbergte sie eine Schule. Ihre Umgebung war heute längst dicht besiedelt. Bresel-Neustadt.

Von dort brachte ein Schulbus jeden Mittag einen großen Teil der Adalbertinum-Schüler zurück nach Bresel. Die Linie 7. Lisa Favretti, die Tochter der weit und breit besten Eisdielenbetreiber, saß heute auf der Rückbank und blätterte in einer zerknitterten Zeitung, die jemand dort liegengelassen hatte. Ihre blonden Zöpfe tippten auf einen fett umrandeten Artikel.

„Hier“, sagte sie und sah Freddie und Jan erwartungsvoll an.

„Kennen wir schon.“ Freddie gähnte.

Jan rollte die Augen. „Event-Center!“

Der Bus ruckelte über die Eisenbahnbrücke und rollte am Stadtpark vorbei. Lisa las murmelnd weiter. Am Ende des Artikels hob sie die Stimme: „… darf in den Weihnachtsferien als Grabungshelfer im Kloster den Archäologen zur Hand gehen.“

Vor den schmutzigen Busfenstern verschwanden die letzten Ulmen der Grünanlage und das Breselner Theater erschien. Jan zeigte auf ein Banner, das die breite Eingangstreppe überspannte. Ein Weihnachtslied – von Charles Dickens stand darauf. Das diesjährige Weihnachtsstück.

„Da gehen wir doch mit der ganzen Klasse rein. Weiß einer wann?“

Freddie nickte. „Übermorgen. Freitag um neun. Wenn uns Ebeneezer Scrooge ins Theater lässt.“

„Wer iss'n das?“

„Der böse Onkel von der kleinen Annie.“

„Von wem?“ Jan nervte, dass Freddie ständig in Rätseln sprach. Aber Freddie war nicht nach einer näheren Auskunft zumute.

„Hoffentlich ist das kein Kinderkram“, sagte Jan noch.

Lisa hob den Kopf und legte die Zeitung auf den Sitz. „Das ist doch total spannend!“

„Sag bloß, du kennst das Stück?“

„Welches Stück? – Ach nee“, Lisa hatte kapiert, „ich meine doch die Sache mit den Grabungshelfern. Bis nächste Woche Freitag muss man sich da anmelden.“

Freddie zuckte mit den Schultern. „Ich guck mir morgen erstmal Radolfs Spatenstich an.“

Jan erzählte nochmal, was er von seinem Vater wusste. Morgen würden die Umbauarbeiten im Kloster feierlich eröffnet. Mit einer Rede von Bürgermeister Radolf Müller-Pfuhr, Musik und kaltem Buffet.

„Dann können wir dem Bürgermeister persönlich die Hand schütteln“, sagte Jan ernst. Als ob das einer wollte.

Der Bus hielt an der Theaterstation. Einige Schüler verließen den Wagen. Dick vermummte Leute drängten sich mit ihren Einkaufstüten durch die Sitzreihen und rutschten durch die Pfützen im Mittelgang.

Der Bus ruckelte wieder an. Lisa starrte aus dem Seitenfenster.

„Weiß einer was von Jo?“, fragte sie.

„Jo!“ Jan schlug sich vor die Stirn. „Fast hätt ich's vergessen.“ Er tippte Freddie auf die Schulter. „Kannst du meiner Mutter Bescheid geben? Ich fahre noch zur Burg hoch und bringe Jo die Hausaufgaben.“

„Fleißig, fleißig.“ Freddie kassierte einen nicht freundlichen Blick.

„Was ist denn mit ihr?“, fragte Lisa, ohne die ewige Kabbelei der Jungs zu beachten.

Jan zuckte mit den Schultern. „Komm doch mit.“

Lisa schüttelte den Kopf und seufzte: „Unsere Eisdiele wird renoviert. Wir räumen heute den Laden aus, damit Firma Spreißelmeier loslegen kann.“

Freddie gähnte. „Morgen reißt mein Alter bei euch die erste Wand ein.“ Freddies Vater war Maurermeister beim Bauunternehmen Spreißelmeier, und Jans Vater stand ebenfalls auf der Lohnliste des größten Arbeitgebers der Stadt. Als Elektroingeneur.

Der Bus hielt am Augsburger Tor. Lisa und Freddie stiegen aus. Schon nach wenigen Metern waren die beiden hinter einer dichten Schneeflockenwand verschwunden. Jan lehnte sich zurück. Zischend schlossen die Türen. Die Linie 7 zockelte weiter um die alten Stadtmauern von Bresel. Am Ulmer Tor bog sie stadtauswärts in Richtung Burg. Die Breselbergstraße hatte ein Schneepflug heute bereits das dritte Mal freigeräumt. Der Bus brummte die engen Serpentinen hinauf bis zum Wendeplatz vor der gewaltigen Zugbrücke.

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