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Brief

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Agathe Müller-Pfuhr starrte aus dem Fenster. Es schneite. Es schneite ohne Unterlass, seit sie das Kloster verlassen hatten. Eine Wand aus weißer Watte. Agathes Blick versuchte beharrlich, einzelne Flocken festzuhalten und wurde von diesen genauso beharrlich nach unten gezogen. Schwer wie Blei. Die Dämmerung, die sonst um diese Zeit die Bäume im Garten in ein blaues Zwielicht tauchte, veränderte heute nichts. Überhaupt nichts. Agathe probierte, die Augen stur geradeaus zu richten.

Die Haustür knallte. Radolf kam vom Briefkasten zurück.

„Zieh die Schuhe aus“, murmelte Agathe. Schlurfende Schritte näherten sich durch den Flur, und die Wohnzimmertür öffnete sich.

„Zieh die Schuhe aus“, kreischte Agathe. Radolf stand auf dem Teppich und senkte sein Bratpfannenkinn zu den Fußspitzen. „Oh!“

Zehn Minuten später hatte er das meiste wieder aufgewischt und die Filzpantoffeln übergestreift, die Agathe ihm zur Bürgermeisterwahl geschenkt hatte. Vor zwei Monaten, kurz bevor sie das neue Haus in Bresel-Neustadt bezogen hatten. Agathes Rosen hatten zwar die Verpflanzung nicht überlebt, aber das hatte ihre Freude über das neue Heim nicht trüben können. Die Freundinnen vom Rosenzüchterverein Breselblume e.V. hatten vollstes Mitgefühl gezeigt und schnellstens Ersatz beschafft. Und Agathe erneut zur Vorsitzenden gekürt. Wenigstens etwas.

Agathe seufzte, und Radolf ließ sich in seinen Sessel fallen.

„Es schneit“, sagte er, und Agathe musste kurz überlegen, ob sich irgendein Funken von Verstand in diesen zwei Worten verbarg. Sie fand keinen.

Schließlich sagte sie: „Ja.“

Radolf schlug umständlich ein Bein über das andere und zog einen Brief hervor.

„Sibylle von Oelmütz“, las er den Absender. „Woher kenne ich …“

Agathe gab den Kampf mit den Schneeflocken endgültig auf und drehte den Kopf.

„Das war doch …“ Sie starrte auf Radolf große Hände, die den Briefumschlag zerstörten. „Ich meine, die Hauslehrerin auf Knittelstein hätte so geheißen.“

„Wozu brauchen die eine Hauslehrerin?“, brummte Radolf und zerrte einen geblümten Zettel aus den Überresten des Umschlags.

„Brauchten“, korrigierte Agathe und sah ihrem Mann regungslos bei der weiteren Zerfledderung des Briefes zu. „Für diese … Josephine.“

„Geht die denn auf keine richtige Schule? Dann müsste das Jugendamt mal …“ Der Blümchenzettel war befreit und Radolf zerknüllte den Rest.

„Jetzt ja“, sagte Agathe. „Jetzt geht sie auf eine richtige Schule. Glaub ich. Und was will die von uns?“ Agathe nahm erneut die fallenden Schneeflocken ins Visier. Sie war eine Frau, für die es kein endgültig gab.

„Frau Oelmütz?“, fragte Radolf, der Mühe hatte, den Gedankengängen seiner Frau zu folgen.

Agathe ersparte sich die Antwort.

„Ich les mal vor“, brummte der Bürgermeister.

Der Schnee vor dem Fenster wurde immer dichter. Radolfs monotone Stimme erfüllte den Raum. Agathe wurde schläfrig.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Frau Müller-Pfuhr!

Wie schnell doch die Zeit verrinnt. Und so frage ich mich, ob Sie sich noch meiner erinnern. Schon sind ein Sommer und ein Herbst ins Land gegangen, seit ich Burg Knittelstein verließ, um in Augsburg einen neuen – wohl meinen letzten – Lebensabschnitt zu beginnen. So sitze ich in meinem kleinen Wintergarten. Es schneit. Neben mir saugt Rosalinde eine Heuschrecke aus. Ich fühle mich so leer.

Radolf ließ den Brief sinken. „Wer ist denn Rosalinde?“

Agathe atmete einmal tief ein und wieder aus, als hätte sie seit Minuten keine Luft bekommen. „Vielleicht ein Kind.“

Radolf hob den Zettel wieder vor die Augen. „Saugen Kinder Heuschrecken aus?“

„Lies weiter.“ Agathe atmete wieder ruhiger. Radolf las:

… fühle mich so leer. Und mir bleibt nichts als die Erinnerung. Die Sehnsucht nach Knittelstein, meiner Heimat. Doch jeglicher Kontakt ist abgebrochen, seit dem unglückseligen Tod meiner Nichte, Baronin Tusnelda, der letzten rechtmäßigen Erbin von Knittelstein! Mit den jetzigen Bewohnern verbindet mich nichts mehr! Doch ein Wunsch überwältigt mich in den einsamen Stunden hier in meinem Wintergarten: Der Wunsch, Verbindung nach Bresel zu halten. Vielleicht über Sie, liebe Frau Müller-Pfuhr, die doch noch flüchtige Erinnerungen an mich haben dürfte. Ob wohl ein Besuch meinerseits in ihrem neuen Heim zu einem regelmäßigen Austausch führen könnte?

Es harrt Ihrer Antwort in Hoffen und Bangen

Ihre vor Sehnsucht vergehende

Sibylle von Oelmütz.

Radolf wendete den Zettel. Der Brief war zu Ende. „Ihre vor Sehnsucht vergehende …“

Agathes Kopf zuckte in Radolfs Richtung. „Mach dich nicht lustig über die einsame Frau!“

„Ja aber …“ Radolf war ratlos.

„Nichts da, aber!“ Agathes Augen hatten endlich eine Technik gefunden, dem Sog der fallenden Flocken zu trotzen. „Wir werden die Frau von Oelmütz mal einladen.“

Radolf sackte etwas tiefer in seinen Sessel. Es gab Entschlüsse seiner Frau, die waren so unerwartet wie unwiderruflich.

„Nun gut“, brummte er und legte den geblümten Wisch auf den Beistelltisch. Und starrte ebenfalls aus dem Fenster. Auf nichts als eine fallende weiße Wand.

Agathe atmete unhörbar. Das Ticken der Wanduhr war das einzige Begleitgeräusch zu dem weißen Film. Es tickte ununterbrochen. Sehr lange.

Dann sagte Agathe: „Ich hätte auch gern einen Wintergarten.“

Radolf nickte langsam in das fast schwarze Zimmer.

Sie saßen und lauschten dem lautlos fallenden Schnee. Und dem Ticken der Uhr.

„Es schneit“, sagte Agathe schließlich.

„Ja.“

Auch diese Nacht wurde bitterkalt.

Rosalinde äugte regungslos durch die Scheibe. Vor dem Terrarium saß das große hagere Wesen, das immer die Heuschrecken brachte. Es drückte ein Puzzleteil zwischen die anderen auf dem Tisch. Vor dem Glaskasten entstand Rosalindes Ebenbild aus Pappe.

Sibylle beugte sich darüber und zischte leise. Sie hatte Agathe Müller-Pfuhr geschrieben. Wieder ein Puzzleteil in ihrem Plan, das passte. Ich wünschte, sie wären… Sibylle hob den Kopf. Rosalindes und ihre Blicke trafen sich.

Wird sie antworten?

Ganz kurz zuckten Rosalindes Greifzangen.

Theater in Bresel

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