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An den Grenzen der Wirklichkeit

Coverbild: Eigenbesitz

Unterwasseraufnahme Malediven 2013

Gerhard Grollitsch

An den Grenzen der Wirklichkeit

Roman

Erika Kerbler

Ich bekam kaum noch Luft, - so küsste mich Dieter, als ich seinem Drängen nachgab und mich auf einen Abendspaziergang mit ihm zum Kreuzbergl einließ. Wir landeten bei einer Parkbank oberhalb des zweiten Teiches.

In Klagenfurt geboren, verlebte ich, als einziges Kind eines Industriellen, eine wunderschöne Zeit. Im Sommer waren wir oft am Meer und im Winter meist in Kitzbühel, wo ich recht gut Skifahren lernte.

Mit einem Schlag änderte sich alles, als ich zehn Jahre wurde. Meine Mutter starb, weil sie sich einem Bankräuber in den Weg stellte. Sie wollte doch nur kurz einkaufen gehen und bald wieder zurück sein.

Lange brauchte ich, um den Schmerz zu überwinden, ganz ist es mir noch immer nicht gelungen. Am meisten spüre ich das, wenn ich mit Vater zu Allerheiligen an ihrem Grab stehe. Ich besuche sie öfter, aber gemeinsam mit Papa nur an diesem Tag.

Wie sehr hätte ich sie gebraucht, als ich begann eine Frau zu werden. Da half mir nur meine Freundin Flora, die ein Jahr älter ist. Mit ihr bespreche ich alle meine Geheimnisse.

Ich liebe meinen Vater. Er tut alles für mich, aber in manchen Dingen ist er sehr gehemmt. Doch das macht nichts, ich habe ja Flora.

Meine Beziehung zu den Jungs war immer sehr unkompliziert. Ich spielte lieber mit ihnen als mit Mädchen. Puppenspiele hatten mich nicht interessiert, dann schon lieber Eisenbahn und Autos. In der Schule gab es mehr Freunde als Freundinnen und das änderte sich auch beim Studium nicht wirklich.

Als ich Dieter kennen lernte, wurden die Beziehungen zu den Burschen mit einem Mal schwieriger. Diese Unbefangenheit war nun Geschichte.

Ich studiere BWL, weil mein Vater glaubt, dass ich das später brauchen werde. Wahrscheinlich hat er recht, denn ich will nicht abhängig sein, sondern auch im Leben auf eigenen Füßen stehen.

Bei Überraschungen bin ich gewohnt mich zu erforschen, bevor ich mich zu etwas hinreißen lasse. Jetzt aber, bei diesem spontanen Kuss, bei dem ich um Luft ringen und mich zugleich gegen seine Hand, die unter meinen Rock fuhr, wehren musste, ließ er mir keine Wahl.

Ich stieß ihn weg und funkelte ihn an. „Versuch das nie wieder.“

Dieter gab nicht auf.

Zwar bedrängte er mich körperlich nicht mehr in dieser Weise, aber er fing an, mich nun öffentlich zu küssen, so dass ich bald als seine feste Freundin galt. Ich war aber noch nicht so weit mich zu binden, und deshalb war mir das zunächst peinlich.

Gut, er war ungestüm, aber er konnte auch sehr charmant sein, und ich wurde mit der Zeit immer bereiter, mich wirklich auf ihn einzulassen. Das fand ein jähes Ende, als mir Flora mitteilte, was ihr Hubert, Dieters bester Freund, beichtete

Dieter hatte Ginetta geküsst, eine Italienerin, die mit uns studiert, und Hubert fragte ihn erstaunt, ob er jetzt nicht mehr mit mir gehe.

„Klar doch“, erwiderte Dieter, „die Millionärin lass ich doch nicht aus, aber sie ziert sich und spielt eiserne Jungfrau, da brauch ich doch eine Abwechslung.“

Dazu gab es nichts mehr zu sagen

Hermann Keppler

„Ich bin zurück vom Einsatz bei Turbotec. Alles erledigt“, rief ich unserer Sekretärin zu, die gerade das Telefon ans Ohr nahm.

Von meiner Firma, Ortner GmbH Maschinenbau, war ich als Servicetechniker im Außendienst eingestellt worden.

Sie winkte mich in Richtung Chefbüro.

„Ah, da sind Sie wieder, das ging aber schnell.“

Mein Chef, Diplomingenieur Werner Hildebrand, lächelte mich hinter seinem mächtigen Schreibtisch erfreut an. Er warf eine Mappe, in der er gelesen hatte, auf einen Stoß zu bearbeitender Akten, die sich vor ihm türmten, und schenkte mir seine Aufmerksamkeit.

Ich begann zu berichten.

„Den Fehler habe ich schnell gefunden, weil ich …“ In diesem Augenblick begann das Telefon sich störend einzumischen.

Der Chef meldete sich. Er nahm Haltung an, als er hörte, wer am Apparat war.

„Es tut mir leid, Herr Kommerzialrat. Wir müssen uns das genau anschauen…“

Ich wollte diskret den Raum verlassen und hatte schon den Türgriff in der Hand, als mich eine heftige Handbewegung des Chefs verharren ließ.

„Beruhigen Sie sich doch, ich schick Ihnen gleich meinen besten Mann…“

Er wollte noch etwas sagen, aber sein Gesprächspartner hatte wohl aufgehängt.

Mit gerötetem Gesicht rief er mir zu: „Fahren Sie gleich zur Firma Kerbler ins Industriezentrum Ebental, Adresse bei Frau Bürger. Die haben ein Problem.“

Ich schloss die Türe und eilte zur Sekretärin, die mir bereits den Arbeitsauftrag hinhielt.

„Na, hoffentlich gelingt es Ihnen, die Störung bei Kerbler zu beheben, damit wir die lästige Firma endlich abhaken können.“

Während ich im Auto unterwegs zum Kunden war, gingen mir höchst angenehme Gedanken durch den Kopf. Mein Chef hatte mich seinen besten Mann genannt. Das baute auf. Ich war noch nicht sehr lange bei Maschinenbau Ortner tätig, aber es gefiel mir.

Das Betriebsklima war gut, die Arbeitskollegen hatten mich akzeptiert und der Chef mich soeben gelobt.

Es war mein erster Arbeitsplatz nach der HTL, die ich noch vor meiner Flucht aus Wien, abzuschließen vermochte. Lief doch sehr gut. Was wollte ich mehr?

Ich war jung und hier in Klagenfurt hatte ich schon einige hübsche Maiden ausgemacht. Sogar im Haus meiner Wirtin begegnete ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit einem Mädchen, dessen Lächeln täglich intensiver wurde, so dass ich mich wohl näher mit ihr befassen müsste.

Industriegelände Ebental.

Die Firma Kerbler war leicht zu finden. Ein großes Werksgelände wurde durch eine Schranke neben einem Wärterhäuschen abgegrenzt.

Ich meldete mich an, bekam einen Laufzettel, und mit dem Hinweis „Sie werden schon dringend erwartet, aber vorher ins Sekretariat, Bürogebäude zweiter Stock“ wurde mir die Dringlichkeit bewusst gemacht.

Als ich die Stiege hocheilte, rannte mich beinahe eine schwungvoll nach unten gleitende Person um.

„Hoppla“, sagten wir wie aus einem Mund und hielten uns aneinander fest.

Sie lachte.

„Entschuldigung, ich hab Sie nicht bemerkt, Sie waren so plötzlich da...“

„Es gibt nichts zu entschuldigen. Im Gegenteil, ich bin ein Glückpilz, weil mir ein Engel schon am frühen Morgen in die Arme fliegt.“

Sie errötete und machte sich von mir frei.

„Was machen Sie hier?“. Ihr Lächeln begann zu erlöschen.

„Ich werde dringend im Sekretariat erwartet, daher meine Eile.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Tschüss“

Beeindruckt schaute ich ihr nach.

Im Sekretariat wurde ich vom Werkmeister abgeholt und über die häufig auftretende Störung informiert.

„Unser Chef ist ganz schön sauer. Hoffentlich kommen Sie auf den Fehler. Ihre Kollegen haben die Ursache nicht gefunden und nur Ersatzteile getauscht.“

Ich positionierte meine Messgeräte und schaltete, um mir ein Bild zu machen, die Anlage mehrmals ein und aus.

Ich lokalisierte die Bereiche und dann hatte ich es.

„Es liegt nicht an den Hydraulikelementen, es liegt an der Ansteuerung hier. Bei mehreren Impulsen hintereinander lässt ein Chip aus. Das habe ich gleich.“

Ich wechselte das ganze Modul.

„Und sind Sie sicher, dass die Anlage keinen Ärger mehr macht? Warum sind Ihre Kollegen nicht darauf gekommen?“

„Ja, liegt wahrscheinlich daran, dass wir im Servicebereich nur Mechaniker haben, die elektronisch nicht so geschult sind, ich aber schon.“

Die Miene des Meisters entspannte sich, er lächelte, unterschrieb die Arbeitsbestätigung und wies mich an:

„Die Kopie geben Sie bei unserer Frau Pontasch im Sekretariat ab.“

Mit kräftigem Händedruck verabschiedete er sich.

Ich ging zurück zum Sekretariat, um dort auftragsgemäß die Kopie abzugeben, als wieder das Bild des Mädchens in mein Bewusstsein trat.

Ich muss mehr über sie erfahren, überlegte ich.

„Ich bin fertig, die Anlage läuft“, rief ich der Vorzimmerdame zu und setzte mein charmantestes Lächeln auf.

„Hoffentlich tut sie das morgen auch noch“, brummte sie.

„Wenn Sie mir eine Frage beantworten, komme ich gerne wieder“, zwinkerte ich ihr zu.

Sie schenkte mir nun ihre Aufmerksamkeit.

„Worum geht es denn?“

„Ich bin früher mit einem blonden Mädchen zusammengestoßen. Ist die bei euch beschäftigt?“

„Ah die Erika. Nein, die hat uns nur besucht.“ Nun lächelte auch Frau Pontasch.

„Ist sie öfter da?“

„Ja, häufig“, ihr Lächeln wurde intensiver.

Mir fiel im Moment nichts mehr ein, was ich noch fragen könnte, und so winkte ich ihr nur verabschiedend zu.

Erika.

Mir ist, als wäre der Tag stehen geblieben.

Ich bilde mir ein, doch eine ganz vernünftige Person zu sein, jedenfalls hab ich das bisher geglaubt. Aber seit mich der junge Mann im Stiegenhaus im Arm gehalten und in meine Augen geschaut hat, bin ich wie gelähmt.

Ich hörte gar nicht so recht, was er sagte, ich wollte nur weg von ihm. Doch er lässt mich nicht los. Dauernd muss ich an diese Begegnung denken. So etwas habe ich noch nicht erlebt.

Und dann dieser Zusammenstoß. Komplett verrückt, meine Reaktion auf diesen Jungen. Na ja, als Junge ist er wohl nicht mehr einzustufen, denn er wirkt auf mich sehr souverän, wie er unsere plötzliche Begegnung gemeistert hat.

Ist das am Ende der Grund für meine Gemütslage? Weil ich einem richtigen Mann begegnet bin?

Na gute Nacht, wenn ich auf Männer immer so reagiere. Ich muss mich mehr zusammennehmen…

Vielleicht kann ich bei Frau Pontasch mehr über ihn erfahren?

Hermann

Ein völlig neues Gefühl bestimmt mich.

Niemals hat mich eine Person wie dieses Mädchen derart gefangen genommen.

Als ich in der Früh zur Arbeit fahren wollte, lag am Nebensitz die Kopie der Arbeitsbestätigung, die ich in tendenziösem Unterbewusstsein bei Kerbler nicht abgegeben hatte. Ich wollte den Zettel schon wegwerfen, als mir eine Idee kam. Nun habe ich doch einen unverfänglichen Grund wieder hinzufahren, um mehr über Erika zu erfragen, dachte ich. Vielleicht sehe ich sie sogar, wenn sie so häufig dort ist, wie die Sekretärin angedeutet hat.

Zunächst musste ich mich aber in meiner Firma melden.

Mit Ungeduld wartete ich auf die Gelegenheit, mich wieder in den Außendienst absetzen zu können. Die kam bald mit einem neuen Auftrag.

Zuerst zu Kerbler, nahm ich mir vor. Der neue Auftrag konnte solange warten.

„Einen schönen guten Morgen“, schmetterte ich in den Raum.

Die Sekretärin schaute mich erstaunt an.

„Was machen Sie bei uns, wir haben Sie nicht angefordert. Es funktioniert alles.“

„Das ist doch schön“, erwiderte ich frohgemut und erklärte ihr den Grund für mein Erscheinen, die vergessene Arbeitsbestätigung.

„Und deswegen kommen Sie extra her?“

Ihre Augen begannen schalkhaft zu glitzern, wie mir schien, und bleiern lastete ihre Frage auf mir.

Ich wollte sie nicht beantworten und gleich zum Punkt kommen, aber es gelang mir nur stotternd die Worte „das blonde Mädchen“ hervorzubringen.

Sie nickte lässig, nahm einen Zettel und schrieb etwas auf.

Es war eine Telefonnummer

Erika

„Entschuldige, wenn ich dich störe, Papa.“

„Du störst mich nicht“, lächelte mein Vater, wie er es immer tat, wenn er mich sah.

„Da war gestern ein Servicetechniker von der Firma Ortner bei uns. Was hast du mit dieser Firma zu tun?“

„Die haben uns die neue elektronische Zuschneidestraße eingerichtet. Warum fragst du?“

„Hat mich nur interessiert, weil ich gestern von dem jungen Mann fast über den Haufen gerannt worden wäre. Der hatte es aber eilig.“

„Das glaub ich. Schließlich hatten wir eine Menge Ärger mit der Anlage. Gestern haben sie endlich einen wirklichen Fachmann geschickt und jetzt ist alles in Ordnung.“ Nachdenklich ergänzte er: „Angeblich ein Elektroniker, frisch aus der Ausbildung, aber tüchtig und kompetent, hat mir unser Werkmeister Schmiedinger berichtet.“

Sein Blick fokussierte mich. „Ist etwas?“

Ich schüttelte den Kopf und ging hinaus.

Hermann

Erika raubte mir den Schlaf.

Ich lag im Bett und wälzte mich hin und her. Das war neu. Mit Schlafproblemen musste ich eigentlich nie zu kämpfen, aber seit ich Erika kannte, war das wohl anders.

Immerhin, ich hatte ihre Telefonnummer. Die hütete ich wie einen Schatz, nur sie zu benutzen traute ich mich nicht und das war wohl einer der Gründe für meinen Zustand.

Meine Gedanken schweiften ab, weit zurück in die Schulzeit des Jungen, der ich einmal war.

Dieser Junge hatte gelernt, Entscheidungen allein zu treffen. Seine Eltern hatten keine Zeit oder wollten sich nicht mit den Problemen des Jungen befassen. An Geld gab es keinen Mangel, obwohl sie in Wien-Favoriten, einem Arbeiterbezirk, wohnten. Der Vater war Maschinenschlosser, die Mutter Köchin, so war ihr Einkommen in dieser Gegend als überdurchschnittlich anzusehen, aber persönliche Zuwendung, nein, das gab es nicht, denn sie waren ja nie da.

Die Erziehung erhielt er von der Nachbarin im Verbund mit ihren Sprösslingen. Da ging alles in einem Aufwaschen und war nicht sehr nachhaltig. Alle Kinder waren sich meist selbst überlassen, denn bei der Ersatzmutter stellte sich der Nachwuchs mit periodischer Gleichmäßigkeit ein. Seine Wertevorstellung, sofern er damals überhaupt welche gehabt hatte, bekam er von dem Buchhändler in der Leebgasse vermittelt, der sich zu einem väterlichen Freund entwickelte und den er am meisten vermisste, seit er Wien verlassen hatte.

Jetzt bräuchte ich ihn mehr denn je, dachte ich. Die Leebgasse mit seinem Laden wird wohl ewig in meiner Erinnerung verankert sein, sosehr ich auch alles Sonstige, was mit meiner Wiener Zeit zusammenhängt, verdränge

Wieder schob sich in meinen Gedanken Erika vor. Morgen ruf ich sie an. Unverzüglich, befahl ich mir, und als ich diesen Entschluss gefasst hatte, überlegte ich nicht mehr, was ich ihr sagen würde. Das war mein Glück. Denn nun nahm mich endlich der Schlaf gefangen.

Erika

„Ja, Erika hier“, meldete ich mich.

Ich war in Eile, denn ich hatte gleich in der Früh eine Vorlesung an der Uni.

Mein Vater war schon aus dem Haus und ich wollte gerade gehen, als das Telefon anschlug.

„Ich bin es … das heißt Keppler … eigentlich Hermann“, kam es stotternd aus dem Hörer.

Ich musste lachen.

„Jetzt haben Sie sich aber umfassend vorgestellt … und?“

„Sie kennen mich. Es war eine stürmische Begegnung … auf der Stiege bei der Firme Kerbler … der blonde Engel…“

„Ich erinnere mich dunkel.“ Der Hafer stach mich, die Überheblichkeit war mein.

„Und …?“

„Ich kann nachts nicht mehr schlafen und bin total geschlaucht. Ich muss Sie treffen.“

„So schlimm steht es um Sie? Ja, da muss ich wohl großmütig sein.“

„Wann?“, fragte er wie ein Ertrinkender, so hatte ich wenigstens den Eindruck, und Schande über mich, weil ich darüber erfreut war.

„Jetzt muss ich dringend zur Uni, aber wenn Sie Zeit haben, könnten wir uns zu Mittag in der Mensa sehen.“

„Ich werde da sein.“

„Ab halb eins?“

„Um halb eins“.

An den Grenzen der Wirklichkeit

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