Читать книгу An den Grenzen der Wirklichkeit - Gerhard Grollitsch - Страница 4
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ОглавлениеIn höchstem Maße aufgeregt, wie eben ein Jugendlicher vor seinem ersten Date nur sein kann, zählte ich die Stunden herunter.
Bereits um Viertel nach Zwölf betrat ich das Lokal, welches sich zu füllen begann.
Ein kleiner Tisch, etwas abseits, fiel mir ins Auge. Da wären wir trotz des Rummels ungestört.
Endlich trat sie ein. Nervös stand ich auf, ging ihr ein paar Schritte entgegen. Ich wies fragend zum Tisch hin. Sie nickte und schenkte mir ein Lächeln.
Ein kleines, flüchtiges Lächeln, aber mich traf es mitten ins Herz.
Mir, dem nüchternen Techniker, passierte so etwas?
Wir saßen einander gegenüber und schauten uns schweigend an.
„Wollen wir etwas essen?“, unterbrach ich die Spannung, die zwischen uns entstanden war.
„Ja, eine Kleinigkeit“, meinte sie, „die müssen wir uns an der Theke holen.“
„Was möchten Sie denn?“
„Nur einen Salat und ein Mineralwasser.“
Ich eilte zur Theke und stellte mich an. Für mich nahm ich nur ein Schinkenbrot und ein kleines Bier, denn ich wollte mich auf sie konzentrieren und nicht aufs Essen.
Während sie in ihrem Salatteller stocherte, stellte ich fest: „Sie sind also Studentin. Was studieren Sie hier?“
„BWL, bin aber erst am Anfang.“ Sie blickte auf. Eine Locke fiel ihr in die Stirn. Sie war so reizend, dass ich sie am liebsten an mich gezogen hätte, aber es war ja der Tisch dazwischen.
„Da wir uns hier auf studentischem Boden befinden, wollen wir doch das `Sie´ weglassen, ja?“, schlug sie vor.
„Aber gern.“
Ihr Angebot hob meine Stimmung und ließ mich forscher werden.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so rasch eine so hübsche Kärntnerin kennen lernen würde. Das Schicksal ist mir wohl sehr gewogen.“
Sie errötete. „Bist du nicht von hier?“
„Merkt man das nicht? Ich bin geborener Wiener, aber wirklich glücklich hier zu sein.“
„Was hat dich nach Klagenfurt verschlagen?“
„Nach der HTL habe ich hier einen Job gefunden, aber reden wir über dich.“
„Was soll ich sagen? Ich bin hier geboren, hier in die Schule gegangen und studiere hier.“
„Und ein Freund?“
„Natürlich habe ich Freunde, alte und neue, aber keine feste Beziehung, wenn du das meinst.“
„Gott sei Dank, mir fällt ein Stein vom Herzen.“
Sie schob verlegen ihren Teller weg und schaute mich ernsthaft an. „Das heißt aber nicht …“
Ich unterbrach sie. „Mach dir keine Sorgen. Ich freue mich einfach, dass ich dich kennen lernen durfte.“
Ich merkte, wie sie sich entspannte, und wagte es nicht mehr, weiter in sie zu dringen.
Ich habe immer gehört, Frauen plaudern gerne. Ich hatte gehofft, sie würde Privates preisgeben, etwas über ihr Umfeld, ihre Familie oder dergleichen.
Obwohl wir uns noch gut eine halbe Stunde unterhielten, erfuhr ich eigentlich nichts, so dass ich zu dem Schluss kam, sie wollte kein Gespräch über ihre Familie. Da ging es ihr wohl wie mir. Auch ich war auf meine Familienverhältnisse nicht stolz und vermied es möglichst, darüber zu reden. So blieb unsere Unterhaltung auf Belanglosigkeiten beschränkt, und doch hatte ich das berauschende Gefühl, ihr etwas näher gekommen zu sein.
Sie schaute auf die Uhr.
„Es war sehr nett mit dir, aber jetzt muss ich leider wieder in den Hörsaal.“
Sie durfte mir nicht entgleiten. Deshalb fragte ich etwas zu hastig: „Wann kann ich dich wiedersehen?“
Sie schaute zum Fenster. Dann wandte sie mir ihr liebliches Gesicht zu.
„Ach weißt du, ruf mich einfach an.“
Rasch stand sie auf und hielt mir ihre Hand hin.
Erika
„Erika, ich habe für heute Abend jemanden eingeladen und möchte, dass du sie kennen lernst.“
Erstaunt schaute ich zu meinen Vater. Das musste wohl was Ernstes sein, denn noch nie hatte er seit dem Tod meiner Mutter eine Beziehung gehabt, jedenfalls soweit ich das wusste.
„Ja wirklich?“, fragte ich nur.
„Ich habe beim Sandwirt einen Tisch reserviert. Für vier Personen. Frau Daniels hat einen Sohn, der für unsere Firma interessant sein könnte, und den möchte ich mir gerne näher ansehen.“
„Wo hast du die Frau kennen gelernt?“
„Auf einer Tagung der Industriellenvereinigung in Wien.“
„Ach, deshalb warst du in letzter Zeit öfter in Wien“, sagte ich und lächelte verständnisvoll.
Ein Paar steuerte auf uns zu. Mein Vater sprang auf und eilte der Dame entgegen. Die Art, wie er sie umarmte, ließ keinen Zweifel, dass die beiden miteinander schon viel, viel weiter waren, als ich angenommen hatte.
Der junge Mann hinter ihr, der sie um Haupteslänge überragte, stand verlegen daneben, bis mein Vater so weit war, sich von der Dame zu lösen und sie an unseren Tisch zu führen.
„Elvira, darf ich dir meine Tochter Erika vorstellen.“
Frau Daniels hielt mir ihre beringte Hand entgegen.
„Ich freue mich. Ihr Vater hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Das ist Theobald, mein Sohn.“
Der junge Mann reichte mir die Hand und verbeugte sich knapp. „Doktor Daniels.“
Was für ein steifer Knabe, dachte ich.
Mein Vater hätte kein besser passendes Lokal für seine Gäste finden können. Für sein Einfühlungsvermögen bewunderte ich ihn wieder einmal.
Die Atmosphäre dieses Restaurants wurde den gehobenen Ansprüchen, die Frau Daniels offensichtlich stellte, durchaus gerecht. Die warme Holztäfelung, das gedämpfte Licht und das lautlos, kaum wahrnehmbar agierende Personal machten es sehr exquisit.
Während alle die Speiskarte studierten, hatte ich zwischendurch Gelegenheit, Frau Daniels zu beobachten.
Ich musste zugestehen, dass sie eine attraktive Person war, die zwar den Zenit ihres Lebens überschritten hatte, ich schätzte sie ihres Sohnes wegen an die sechzig, die aber, als offensichtlich gute Kundin der Kosmetikindustrie, keineswegs so alt wirkte.
Auf ihrem silbrigen Haar lag ein blauer Schimmer, der durch das Kerzenlicht am Tisch changierte. Ihr Schmuck war echt und die Kleidung erlesen. Eine reiche Frau, so hatte es jedenfalls den Anschein.
Mein Blick schweifte zu Theobald, Doktor Daniels, wie er sich mir respekteinflößend vorgestellt hatte.
Groß, hager und unnahbar war mein erster Eindruck gewesen, aber jetzt, da er saß, schien er mir zugänglicher zu werden, trotz seiner Brille, die professionelle Distanz vermittelte.
Das Essen war hervorragend, die Nachspeise ein Traum, und dann saßen wir beim Wein und Vater versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Sie waren bisher an der technischen Universität Wien beschäftigt“, wandte er sich Doktor Daniels zu.
„Ja, als Assistent habe ich dort meinen Doktor gemacht.“
„Darf ich fragen, zu welchem Thema?“
„Über den Einfluss oszillierender Massenkräfte auf verschiedene Drehkraftamplituden.“
„Das ist sehr theoretisch.“
„Ich habe ja auch auf der Uni als Wissenschaftler gearbeitet.“
Nachdenklich betrachtete Vater sein Weinglas.
„Sie wären bei mir der richtige Mann. Einen Theoretiker brauche ich, Praktiker habe ich genug. Ich möchte die in meinem Betrieb benötigten Maschinen selbst herstellen, und dazu ist Entwicklung notwendig“, sagte er und fügte mit einem Blick zu Frau Daniels hinzu: „Außerdem will ich mich etwas zurückziehen. Das kann ich nur, wenn ich eine vertraute Führungskraft gewinne.“
„Sie können mit mir rechnen, Entwicklungsarbeit interessiert mich.“
„Morgen reden wir eingehender darüber, aber jetzt widmen wir uns den Damen.“
Er nahm sein Glas und prostete uns zu.
Nun schenkte er seine Aufmerksamkeit der Frau neben ihm, und wir beide waren uns selbst überlassen.
Um die entstandene Pause zu überbrücken, fragte ich ihn nach seinen Hobbys.
„Ach wissen Sie, dazu habe ich nie Zeit gehabt.“
„Irgendein Sport?“, fragte ich.
„Eigentlich nichts Besonderes. Schwimmen kann ich leidlich, bei allen anderen Disziplinen in der Schule war ich nicht sehr geschickt. So habe ich mich halt auf den Lehrstoff konzentriert. Und was machen Sie?“
Ich hatte den Eindruck, dass sich, als ich ihm mitteilte, was ich studiere, leichte Geringschätzigkeit in seiner Miene breit machte, und zerknirscht dachte ich: Nicht jeder kann Wissenschaftler sein. Dann aber siegte mein Selbstbewusstsein und ich überließ ihm in der Folge den sehr holprig geführten Dialog. Was hätte ich auch mit ihm reden sollen. Als ich vorsichtig Kunst und Theater ins Gespräch bringen wollte, kam kein Echo. Einen letzten Versuch riskierte ich noch.
„Welches sind Ihre Lieblingsblumen?“
„Lieblingsblumen?“, fragte er. „Hab ich eigentlich nicht. Und Ihre?“
„Weiße Lilien.“
Ich war froh, als wir uns endlich verabschiedeten.
Am nächsten Morgen war ich sehr überrascht, als er mit einem großen Strauß weißer Lilien vor der Tür stand.
Hermann
Tagelang zerbrach ich mir den Kopf, was ich mit Erika unternehmen sollte, um mich ihr angenehm zu machen. Ich war nicht gewohnt mit Mädchen auszugehen. Mir würde genügen, nur mit ihr beisammen zu sein, aber das, so glaubte ich, wäre ihr sicher zu wenig.
Am besten, ich würde jemanden meiner jüngeren Kollegen fragen.
„Wo geht ihr mit Mädchen hin, wenn ihr sie einladen wollt?“
„Natürlich in die sensationelle Groß-Disko. Die ist neu eröffnet worden und Tanzen, das mögen die Mädchen.“
„Ich kann doch nicht tanzen. Da blamier ich mich.“
„In der Disko? Da kannst du dich nicht blamieren. Schau, wie es die anderen machen, dann geht das schon.“
Trotzdem war mir nicht wohl, als ich zum Telefon griff.
Ihre helle Stimme wischte meine Bedenken weg.
„In eine Disko willst du mit mir gehen? Ja, warum nicht? Ich habe davon gehört, dass bei uns eine große Disko eröffnet wurde. Interessiert mich dort einmal hinzukommen. Wann?“
„Ist dir Samstag recht?“
„Um zwanzig Uhr am `Neuen Platz´ vor dem Rathaus. Ich freu mich.“
Scheinbar hatte sie es eilig, aber mich hatte sie damit auch in Schwung gebracht.
Erika
Was zieht ein Mädchen an, wenn es in eine Disko eingeladen wird? Diese Überlegung machte mir ungewohnt lange zu schaffen, aber ich fühlte intensiv das damit verbundene, aufregende Prickeln.
Er war schon da, als ich am `Neuen Platz´ ankam.
„Ich muss dir gestehen, ich war noch nie in einer Disko, und tanzen kann ich auch nicht.“ Verlegen drückte er mir die Hand.
„Mach dir nichts draus, ich auch nicht, und was das Tanzen angeht, das kriegen wir schon hin“, lachte ich ihn an, und eingehängt schritten wir frohgemut der Gegend zu, wo sich angeblich die Disko befand.
Es fühlte sich sehr gut an, so neben dem großen Mann, von ihm quasi geführt, einherzuschreiten, und meinetwegen hätte es unendlich lange dauern können.
Es dauerte lange genug und nach einigem Fragen fanden wir das Lokal. Allerdings würde ich Hermann den langen Fußweg nicht zugemutet haben, hätte ich gewusst, wo sich die Disko wirklich befand. Aber es war ein schon recht milder, zunehmend mondheller Abend, und ich habe den Fußweg genossen.
Das Lokal war in Vollbetrieb. Davor krachten infernalisch die Mopeds der jugendlichen Besucher. Eintretend, empfingen uns ein das Trommelfell zerstörender Rhythmus und eine Menschenmenge, in der wir ein weiter-geschobener Teil der Masse wurden. Ein Ruheplatz von einer Sitzgelegenheit konnte nicht die Rede sein war momentan nicht zu finden und so begannen wir uns auf der Tanzfläche der brodelnden Menge anzugleichen. Wir hielten uns an den Händen, wurden losgerissen und verloren uns, waren von Freude durchglüht, wenn wir uns wieder fanden, und mit der Zeit wurde daraus ein lustiges Spiel sich verlieren und wiederfinden.
Der Durst zwang uns schließlich an einen Tisch, an den wir uns quetschen konnten, nur um wenigstens einen Abstellplatz für ein mühsam ergattertes Getränk zu finden.
Ich war von mir begeistert, dass ich da so einfach mitmachte. Gedränge war eigentlich nicht mein Ding, aber es war so schön, immer wieder an Hermann gedrückt zu werden, und ob er es wollte oder nicht, er musste mich beschützend in den Arm nehmen.
Rasend verging die Zeit und irgendwann standen wir auf der Straße.
Ich atmete die Nachtluft genießerisch ein, als ich aus dem Schatten des Gebäudes ein lautes Schreien vernahm. Offensichtlich bedrängten zwei Jugendliche ein Mädchen.
Hermann eilte ihr zu Hilfe und riss einen der Knaben von ihr weg. Zitternd drückte sie sich an die Mauer, während der Junge sich drohend Hermann zuwendete.
Plötzlich blitzte ein Messer in seinen Händen und schoss auf Hermann zu. Mir raste das Herz und mein Aufschrei blieb mir im Hals stecken. Es ging alles blitzschnell.
Mein Freund war ein Kämpfer. Sein Arm wehrte das Messer gekonnt ab und es flog in weitem Bogen weg, während sein Gegner, von einem Haken getroffen, aufstöhnend zu Boden ging. Auch der zweite Junge, der sich nun einmischen wollte, wusste gar nicht, wie ihm geschah, als ihn Hermanns Fußspitze empfindlich traf und außer Gefecht setzte.
Es schien mir wie im Film.
Plötzlich war die Szene leer, nur das Mädchen stand noch immer zitternd an die Mauer gedrückt. Die Jungen hatten sich so schnell es ging, aufgerappelt und eiligst die Flucht ergriffen.
„Alles in Ordnung?“, fragte mein Held das Mädchen.
Sie nickte.
Hermann wandte sich lächelnd zu mir, legte seinen Arm um mich und ging mit mir, so als wäre nichts geschehen, weiter hinein in die silbrig glänzende Nacht.