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ОглавлениеHermann
Dieser Abend hatte mich aufgewühlt.
Mit einem Mal war ich Erika so nah wie noch nie. Diese Freude, mit ihr beisammen sein zu können, diese Übereinstimmung unserer Denkweise und diese Ausgelassenheit, die uns erfasst hatte.
Jetzt ahnte ich, wie Liebe ist, und jetzt wusste ich, dass ich sie unendlich liebte. Ich scheute mich darüber nachzudenken wie sie sich fühlte, denn ich war schon glücklich, wenn ich mir einbildete, dass es bei ihr ähnlich sei.
Warum hätte sie sich sonst an mich gedrängt, mich berührt und angelächelt?
Vor lauter Glücksgefühl fand ich wieder einmal keinen Schlaf.
Meine Gedanken schweiften ab, zu diesem Kampf, und mir war das unangenehm.
Was wird sie wohl nach diesem Intermezzo von mir halten?, dachte ich.
Aber ich konnte nun einmal Gewalt gegen Schwächere nicht ertragen.
Der Kampf selbst war nebensächlich. Ich hatte als Junge viel gekämpft, zu viel, wie ich heute wusste. Deshalb verdrängte ich diese Zeit, konnte mich mit ihr nicht identifizieren und wenn ich daran denken musste, dann unbeteiligt, wie ein Beobachter, der, persönlich über den Dingen stehend, nur zusieht. Das damals war nicht ich gewesen, und daran zu denken, gelang mir nur in der dritten Person, davon zu sprechen war mir unmöglich.
Ja, der kleine Junge aus der Leebgasse 39 hatte eben früh lernen müssen sich zu wehren. In diesem Umfeld wuchs er auf, in das er hineingeworfen worden war, einem Umfeld aus Neid, Gier, Hass und Niedertracht, wo nur der Stärkere sich behaupten konnte, nur der galt, wer in der Lage war, sich und seine Habseligkeiten zu verteidigen.
Auch unter den Freunden, jenen Kindern, mit denen er leben musste, den Kindern der Nachbarin, gehörte Auseinandersetzung wie selbstverständlich dazu.
Kurti, im gleichen Alter, wurde sein bevorzugter Spielkamerad. Da gab es dann schon die ersten Streitigkeiten. Hermann bekam von seinen Eltern eine ganze Menge mehr oder weniger geliebtes Spielzeug. Das aber war für Kurti ein unerreichbarer Schatz. Von seinen Eltern hatte der kaum jemals etwas geschenkt erhalten. Deshalb ließ ihn Hermann auch mit seinen Spielsachen spielen, und manches schenkte er ihm.
Wenn es aber um das ferngesteuerte Auto ging, kannte er kein Pardon. Dieses hütete er wie seinen Augapfel, und oft wurde darum gerauft, denn Kurti wünschte sich auch nichts sehnlicher als dieses Auto.
Später dehnten sie ihre Spiele auf die weitere Umgebung, die Straßen, Plätze, Höfe und Parks aus. Da waren Kämpfe mit anderen unvermeidlich. Die beiden schweißte das allerdings zusammen, und sie lernten die Erfahrung kennen, dass man gemeinsam stärker ist.
Ihr Heimatbezirk Favoriten ist Arbeiter- und Fabriksviertel. Seine Hauptblüte erlebte dieser Stadtteil in der Gründerzeit, um die Wende in das zwanzigste Jahrhundert. Dies, sowie die Bombennächte des vergangenen Krieges ließen Ruinen und leere Hallen entstehen, die spannender Spielplatz, aber auch Kulisse von Bandenbildung war.
In der Hauptschule wurden sie zu den wichtigsten Objekten für die beiden.
Jede Gruppierung hatte einen Ruf und wollte ihn nicht nur verteidigen, sondern auch ausweiten. Das führte zu Kämpfen, Terror und Unterdrückung der Schwächeren. Diese waren daher gezwungen sich unter einen Schutz zu begeben.
Schorschis Bande hatte unter den Jugendlichen einen legendären Ruf. Ihr anzugehören war eine Auszeichnung und bot absolute Sicherheit. Auch Kurti und Hermann strebten danach. Aufgenommen wurde aber nur, wer sich bewährt, das heißt besondere Taten vollbracht hatte und dadurch den Bossen aufgefallen war.
Zunächst handelte es sich um reine Mutproben, denen sich die Buben unterzogen. Bald stellten sie fest, dass das zu wenig war. Es musste etwas mehr geschehen.
Ein alter Fußballspieler hatte sich der Jungen angenommen, und im Arthaberpark wurde ein Fußballplatz adaptiert. Dort trainierte er die Kinder und es fanden auch Spiele gegen andere Bezirke statt.
Hermann und Kurti machten mit und lernten dort die Stufenleiter der Hierarchie im Bezirk kennen. Der Star unter den Spielern, Toby, war auch Mitglied in Schorschis Bande.
Anlässlich einer Auseinandersetzung mit einem anderen der arrivierten Spieler staunten sie über die Kampftechnik des Jungen und fragten ihn, wo er das gelernt habe.
„In unserer Gang lernt das jeder“, erwiderte er stolz.
„Kann ich auch zu euch kommen?“, fragte Hermann.
Er schaute Hermann abschätzig an.
„Was hast du denn vorzuweisen?“
Hermann wies auf das kleine Gebäude, wo sie ihre Utensilien verstauen konnten.
„Ich spring vom Dach herunter.“
Mitleidig lächelnd wandte sich der Junge ab.
„Das ist zu wenig. Wenn du nicht mindestens einen ordentlichen Bruch gemacht hast, redet der Schorschi gar nicht mit dir.“
Die beiden saßen in einem Raum der ehemaligen Kesselfabrik, der ihr bevorzugter Treffpunkt war.
„Wenn wir einbrechen wollen, muss ein ganz genauer Plan her“, sagte Hermann. „Zuerst legen wir fest, wo wir einbrechen.“
„Das ist doch klar. Wo es am meisten zu holen gibt“, erwiderte Kurti.
„Falsch, wo es am leichtesten geht und doch Aufsehen erregt.“
Die Buben beschlossen durch die Gassen zu streifen und ein Objekt auszuforschen, das diese Kriterien erfüllen würde.
Kurti hatte einen Fußball mitgenommen und so konnten sie spielerisch auch die Hinterhöfe erkunden, ohne besonders aufzufallen.
Hermann blieb bei der Buchhandlung in der Leebgasse stehen und blickte in die Auslage.
Leise raunte er Kurti zu: „Den hinteren Hof müssen wir anschauen.“
Kurti ließ den Ball fallen und kickte ihn durch die Einfahrt. Hermann rannte hinterher und spielte mit dem Ball gegen die Mauer, wobei er sich die Eingänge und Fenster einprägte. Dann kickte er das Leder wieder hinaus auf die Gasse und Kurti nahm es wieder hoch.
In ihrer Fabrikruine besprachen sie das weitere Vorgehen.
„Die Buchhandlung ist am besten geeignet. Die Hofeinfahrt hat keine Türen, ist also auch in der Nacht offen. Von hinten führt die Eingangstüre, wie es scheint, direkt in das Geschäft. Die bringen wir sicher auf. Vorher gehe ich noch in den Laden und schau mir alles von innen an.“
„Gut“, sagte Kurti „und ich besorg uns entsprechende Werkzeuge.“
Als Hermann die Buchhandlung betrat, kam ein älterer Mann auf ihn zu.
„Was kann ich für dich tun?“
„Ach, ich will mich nur etwas umsehen.“
„In welche Schule gehst du?“, fragte der Mann.
Das machte Hermann verlegen, weil er nicht wusste, ob er damit nicht zu viel über sich verraten würde.
„Ich will mir nur was anschauen“, sagte er stattdessen und wandte sich einem Regal zu.
„Ich glaub, hier wirst du nichts finden. Das ist mein Antiquariat, aber siehst du, dort gibt es Interessanteres für dich. Abenteuerromane, ich glaub, das ist es, was du suchst.“
„Vielleicht“, meinte Hermann achselzuckend.
„Na, dann schau dich nur um und frag mich, wenn dich etwas interessiert.“
Hermann überflog das Lokal und sah am Tresen eine alte Registrierkasse stehen. Er nahm ein Buch aus dem Regal und begann es, ohne zu lesen, durchzublättern. Selbst der Titel drang nicht in sein Bewusstsein.
Lesen interessierte ihn eigentlich nicht. Er war ein Mann der Tat, bildete er sich ein, und dieser Bücherladen war nur dazu da, zu zeigen, was in ihm steckte.
Er stellte das Buch zurück und winkte, den Laden verlassend, ganz cool dem Händler zu.
Das Werkzeug enthielt neben Schraubenziehern verschiedener Größe, Hammer und Zangen, auch ein Brecheisen.
Etwas nach Mitternacht tauchten die Buben vor der Buchhandlung auf und drückten sich in den Innenhof. Die Türe zum Laden war aus massivem Holz, aber dem Brecheisen widerstand der Rahmen nicht und mit einem Knirschen gab er nach.
Sie befanden sich in einem Gang.
Es gab drei Türen. Eine kleinere ging wohl in eine Abstellkammer oder ein WC, war also nicht von Interesse.
Hermann rüttelte an der nächsten versperrten Türe. Es war eine gewöhnliche Zimmertür und mit einem Ruck des Brecheisens war sie offen.
Im Schein einer Taschenlampe sah er den Verkaufsraum der Buchhandlung. Er entdeckte gleich die Registrierkasse und machte sich an sie heran. Die Lade hielt dem kräftigen Schraubenzieher und den Hammerschlägen nicht lange stand. In ihr lagen mehrere Geldscheine, die er herausnahm und in seine Tasche steckte. Das Kleingeld ließ er unangetastet.
Nun hatten es die Buben eilig, wobei sie alles, außer der Hoftüre, offenstehen ließen.
„Ich möchte mit Schorschi reden“, sprach Hermann seinen Fußballfreund an.
„Will er mit dir reden?“
„Ich glaube schon. Hast du von dem Überfall auf die Buchhandlung in der Leebgasse gehört?“
Er nickte. „Stand in der Zeitung.“
„Das waren wir, Kurti und ich.“
„Aha gut, dann frag ich halt den Schorschi, und wenn er einverstanden ist, führe ich euch hin.“
Es war nicht weit. Über die Quellenstraße hinüber. Ein riesiger Schornstein überragte einen Gebäudekomplex. Durch ein altes, quietschendes Tor gelangten sie in einen mit Gerümpel angefüllten Hof.
Eine energische Stimme ließ sie verharren. „Was wollt ihr hier, verschwindet.“
„Ich bin es, Toby, ich möchte zu Schorschi und ihm zwei interessante Leute bringen. Er erwartet uns.“
Ein kräftiger Bursche im Alter von etwa zwanzig Jahren tauchte zwischen dem Gerümpel auf.
„Ach, Toby ist gut. Der Schorsch ist da. Du weißt ja, wo du ihn findest.“
Toby nickte, und sie betraten ein verfallenes Stiegenhaus. Auf den Stufen nach oben lag Schutt. Toby führte sie hinunter in den Keller.
Hier war es feucht, aber als sie eine Tür öffneten, änderte sich das Bild. Sie fanden sich in einem Personalraum. In der Mitte stand ein großer Tisch, an dem zwei Jungen saßen, deren Gelächter wie eine Welle auf die Eintretenden traf.
Das Gelächter verstummte und sie schauten auf.
„Hallo Toby, willst du zum Boss? Er ist drinnen. Geh nur hinein.“
Der Sprecher stand auf und klopfte Toby auf die Schulter.
„Ihr wartet hier“, wies Toby Hermann und Kurti an.
Es dauerte nicht lange, bis sich wieder die Tür öffnete und Toby sie hereinwinkte.
Ein alter Schreibtisch dominierte den Raum. Dahinter saß ein bulliger Mann mit einer breiten Narbe im Gesicht, dessen Alter schwer einzuschätzen war, aber wohl zwischen zwanzig und dreißig Jahren liegen musste.
„Der Bruch in der Buchhandlung geht also auf euch.“
Schorsch schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an.
Hermann nickte und legte das erbeutete Geld auf den Tisch.
Schorschi entspannte sich, und ein kleines Lächeln formte seine schmalen Lippen.
„Ein Anfang? O. K. ihr wollt also zu uns?
Toby, geh mit ihnen zum Boxclub im Jugendzentrum und sag Max, er soll sie trainieren und ihnen Kämpfen beibringen.“
Nun gehörten sie also zur Bande und fühlten sich große Klasse.
Das Wochenende konnte ich kaum erwarten, denn als ich mich endlich entschlossen hatte, Erika wegen eines Wiedersehens anzurufen, war die halbe Woche schon um.
Sie meldete sich mit gewohnt fröhlicher Ansage. Als ich meinen Namen nannte schien es mir, dass ihre Stimme noch erfreuter klang, oder bildete ich mir das nur ein?
So fiel es mir leicht, meine Bitte um ein Treffen vorzubringen.
„Ja, ich würde mich auch freuen, wenn wir uns sehen könnten.“
„Wann“, fragte ich dringlich.
Sie schlug den Samstag vor, „abends um acht, wieder vor dem Rathaus?“
„Das wäre schön.“ Mein Herz schlug höher.
„Ich freu mich sehr“, klang ihre süße Stimme aus dem Hörer.
„Was wollen wir unternehmen“, fragte sie, als wir uns an den Händen hielten.
„Was möchtest du? Disko?“
„Lieber nicht“, meinte sie lächelnd, und dann entschlossen: „Wir gehen spazieren und ich führe dich.“
Es war wärmer geworden und vom Theaterpark kam uns ein betäubender Duft entgegen. Zielstrebig wanderten wir die Radetzkystraße entlang. Das Kreuzbergl mit der Kirche kam näher und oberhalb, aus dem Dunkel des Waldes, begannen die Lichter des Schweizerhauses an Kraft zu gewinnen.
Über den Kreuzweg mit den Motiven einer schweren Zeit, die mir Erika einfühlsam nahebrachte, stiegen wir zur Kirche hoch.
Sie nahm mich bei der Hand und zog mich unter die Bäume.
Dem Waldweg folgend, traten wir plötzlich auf eine weite Wiese, stirnseitig durch einen Teich begrenzt und ringsum von Bäumen eingerahmt. Mitten durch die Wiese führte der Weg am Teich vorbei wieder in den Wald hinauf. Seitlich befand sich ein Kinderspielplatz mit allerhand Klettergerüsten.
Oberhalb der kleinen Wasserfläche stand neben dem Weg eine Bank, bei der wir Halt machten und zurückblickend den Teich, die Wiese und im Hintergrund, die uns zu Füßen liegende Stadt, sehen konnten.
Die Romantik des Ortes, die einfallende Dämmerung und die körperliche Nähe meines geliebten Wesens befreiten mich von meiner Gehemmtheit und wie magnetisch zog es uns zueinander, zu einem Kuss, der mir den Himmel öffnete. Ich hätte ewig da stehen und sie im Arm halten können.
Irgendwann sanken wir auf die Bank, hielten uns umarmt und bedeckten uns mit Küssen.
Es gibt Augenblicke im Leben, die man niemals vergisst. Für mich war das ein solcher.