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ОглавлениеErika
In meinem Mädchenzimmer hatte ich es gemütlich. Ein großes Fenster bot einen Blick über Bäume und Gärten.
Vorhänge verschleierten und dämpften das Licht. Da konnte ich träumen, und in letzter Zeit waren Träume meine ständigen Begleiter.
Was war nur mit mir los?
Ich bin verliebt, diagnostizierte ich, und zwar ordentlich.
Nach der Disko hatte er mir noch imponiert, nach dem Kreuzbergl-Spaziergang wusste ich, dass ich ihn liebte.
Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass dieser so viel Kraft und Energie ausstrahlende Junge auch sensibel sein könnte.
Ich hatte ihn ganz bewusst zu jener Bank geführt, wo ich auch mit Dieter gewesen war. Ich wollte den direkten Vergleich, und da gewann Hermann haushoch.
Dieter war direkt geworden und hatte auf mein Gemüt keine Rücksicht genommen.
Wie anders war doch Hermann. Er redete fast nichts, aber in seiner Gegenwart fühlte ich mich wohl und sicher, nicht angegriffen, nicht in Verteidigungsposition, sondern einfach in Watte gepackt. Ein Gleichklang der Seelen vielleicht, aber das weiß ich nicht, denn wir redeten eben wenig.
Ich hätte gern vieles von ihm gewusst, trotzdem musste das gar nicht sein, denn ich fühlte, als würden wir uns schon ewig kennen und es bedürfe keiner Worte.
Noch immer war ich ganz benommen von dem Eindruck, der mir verblieben war. Dabei hatte er mich gar nicht besonders berührt.
Ja, geküsst hatten wir uns ganz ordentlich, aber das war auch schon alles. Er hatte nichts gefordert, was sich nicht von selbst ergeben hätte.
Durch Klopfen an meiner Tür wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.
Mein Vater steckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer.
Hättest du Lust mit uns einen kleinen Ausflug zu machen? Du solltest bei diesem Wetter nicht den ganzen Tag im Zimmer vertrödeln.“
„Wer ist wir und wohin soll es gehen?“
Er lächelte.
Natürlich Elviraich meinte, Frau Daniels und ihr Sohn.“
„Gehören die jetzt auch zur Familie“, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
„Das wird bald der Fall sein, und Theobald, Doktor Daniels ist als Führungskraft in unser Unternehmen gekommen.“
„Das heißt, ich sehe ihn jetzt öfter?“, fragte ich beunruhigt.
Vater wiegte zustimmend seinen Kopf.
Um ihm zuvorzukommen, ergänzte ich schnell: „Gut, ich zieh mir nur was Passendes an.“
„Wohin geht es?“, fragte ich, als wir in unserem Mercedes saßen.
„Ich will Elvira Kleinkirchheim zeigen, da war sie noch nicht.“
„Aber ich habe schon so viel darüber gehört“, zwitscherte sie leicht nach hinten gewandt.
Wir, Theobald und ich, hatten im Fond Platz genommen.
Er wirkte angespannt, wie er da so saß, steif wie eine Fahnenstange. Hatte er etwa Angst vor mir? Ich beiß doch nicht, dachte ich, oder vielleicht doch, wenn er mir zu nahe kommt?
Am Nordhang des Tales, in welchem Kleinkirchheim lag, führte ein Serpentinenweg nach oben, und nachdem Vater den Mercedes am Parkplatz bei der Liftstation Kaiserburg geparkt hatte, wählten wir diesen, weil er in der Sonne lag und es hier, im Taleinschnitt, doch noch recht kühl war. Die Temperatur stieg aber an diesem Hang rasch an und wir kamen ganz schön ins Schwitzen, besonders Theobald, der sich ununterbrochen seine Brillengläser wischte. War wirklich die Hitze daran schuld, oder meine Worte, mit denen ich bemüht war, eine eventuell sich anbahnende Vertraulichkeit im Keim zu ersticken?
Immerhin gewann ich, mit nicht geringer Genugtuung, den Eindruck, dass der Herr Doktor mir gegenüber sehr gehemmt war.
Dass Vater ihn in die Firma aufgenommen hatte, störte mich insgeheim, warum ,wusste ich eigentlich gar nicht so recht, wenn ich aber schonungslos mein Inneres betrachtete, drängte sich mir der Verdacht auf, es könnte Eifersucht auf alles sein, was von Elvira kam oder mit ihr zusammenhing. Mein Verstand weigerte sich das zu glauben, mein Herz aber befürchtete es.
Ich konnte es nicht lassen, ich musste provozieren.
„Warum sind Sie denn mit Ihrer beruflichen Ausbildung ausgerechnet in unserer Firma gelandet? Gab es nichts anderes?“ Unschuldig schaute ich ihn von der Seite an.
„Natürlich, natürlich“, japste er, „habe ich eine Reihe von Angeboten gehabt, aber meine Mutter wollte unbedingt nach Klagenfurt, und ihr Vater hat mir doch eine sehr interessante Arbeit in Aussicht gestellt.“
„Wie interessant, beruflich oder finanziell?“
„Eigentlich beides. Beruflich soll ich eine Entwicklungsabteilung für Sondermaschinen aufbauen und finanziell besteht die Möglichkeit, zum Geschäftsführer aufzusteigen, und auch eine Beteiligung wurde mir in Aussicht gestellt.“
Das schockierte mich. Beteiligung?
Vater wird doch nicht so verrückt sein, diese Familie ins Unternehmen zu holen, dachte ich, denn wenn er beteiligt wäre, hätte Elvira wohl das Reden. Scheint mir sehr nach einem Attentat der Daniels auf unser Werk zu werden. Da muss ich mit Vater ein ernstes Wort sprechen.
Weiter oben befand sich ein Gasthof mit wunderbarem Blick auf die sonnig beschienene Bergwelt.
Wir studierten die Speisekarte mit einem sehr bäuerlichen Angebot, hier auf der Alm durchaus zu erwarten.
„Ist das essbar?“, fragte Theobald seine Mutter, „saure Suppe, für meinen empfindlichen Magen?“
„Sie ist sehr gut“, fiel ich ein, „in unserem Alter muss man dem Magen doch auch etwas zutrauen können.“
Ich erntete einen bösen Blick von Elvira. „Vielleicht solltest du doch etwas vorsichtig sein“, riet sie ihm.
„Dann lass ich die Suppe besser weg. Schweinsbraten mit Knödel?“
„Wenn er nicht zu fett ist, ja, aber vielleicht ohne die Knödel, wer weiß, wie schwer die sind“, gab Elvira zu bedenken und ergänzte mokant: „Erwin, dass man hier keine internationale Küche hat!“
Ich schaute Theobald intensiv an und musste mich einfach einmischen.
„Schweinsbraten muss fett sein, sonst schmeckt er nicht. Versuchen Sie es, Sie werden es schon überleben.“
„Gut“, meinte er schließlich und ergänzte heldenhaft: „Ich probier es.“
Ich hatte gesiegt, aber zu Elvira hinzublicken wagte ich doch nicht. So schluckte ich meinen Triumph in mich hinein, fühlte mich dabei aber sehr wohl.
Nachdem wir den Berg wieder heruntergeklettert waren, kamen wir bei einer einladenden Konditorei vorbei.
Mein Vater nahm Elvira bei der Hand.
„Komm, ich muss jetzt diesen berühmten Kaffee haben und du kannst die legendären Indianer mit Schlag genießen. Die gibt es in dieser Qualität nirgends.“
Er duldete keinen Widerspruch und so saßen wir bald um den Cafétisch.
Theobald hatte eine warme Milch bestellt und durfte von dem riesigen Indianer seiner Mutter kosten.
Auch dieser Tag ging zu Ende und ich erfreute mich an den Gedanken, die keine Sekunde mein Bewusstsein verließen, den Gedanken an Hermann und unser letztes Beisammensein.
Hermann
Ich war wie benommen. Doch untypisch für einen Mann. Aber seit diesem Abend, diesen Küssen, gab es in meiner Welt nur noch Erika.
Diese übertraf alle Idealvorstellungen, die mir einst jener Buchhändler aus der Leebgasse zu vermitteln bemüht war.
Zuerst wurde er von mir bestohlen, dann ein väterlicher Freund, der Beste, den ich je hatte.
Die Hauptschule lag hinter mir und die Aufnahmsprüfung für die HTL war bestanden.
Wir bekamen eine Liste von Büchern, die angeschafft werden mussten. Da ich nur die eine Buchhandlung kannte, war mir klar, dass ich mich überwinden müsste, diese aufzusuchen.
Kleinlaut betrat ich den Laden und zwang mich Herrn Bobisch in die Augen zu sehen. Er blickte freundlich zurück, und das gab mir Mut. Trotzdem brachte ich kein vernünftiges Wort heraus und überreichte ihm schließlich den Zettel mit den gewünschten Büchern.
Konzentriert studierte er ihn, während er auf ein Regal wies und sagte: „Schau dich derweil um.“
Verlegen ging ich hin und betrachtete die bunten Rücken der Bücher. Nach einer Weile rief er mich zum Pult, wo er Bücher aufgestapelt hatte.
„Da wäre alles beisammen, nur das Physikbuch muss ich bestellen. Es tut mir leid, aber du musst noch einmal zu mir kommen.“ Er lächelte. „Du kannst immer zu mir kommen. Wie du siehst, es gibt eine Menge Bücher hier, die dir etwas sagen wollen. Nicht nur Mathematik und eure Technik. Die ist natürlich wichtig, aber auch die Seele braucht Nahrung.“
Zu meiner eigenen Überraschung fragte ich: „Was ist die Seele?“
„Hast du noch nie etwas gefühlt, gewollt und ins Herz geschlossen? Was ist mit deinen Eltern?“
„Meine Eltern? Die sehe ich kaum. Die Nachbarin gibt mir zu essen und das reicht.“
„Magst du die Frau?“
„Darüber hab ich nie nachgedacht.“
„Hast du ein Hobby?“
„Ein Hobby“, überlegte ich, „Sie meinen, was ich mache, wenn ich keine Aufgaben zu erledigen habe? Ja da geh ich in unseren Boxklub.“
„Die bist also Sportler?“
„Wenn Sie meinen“, sagte ich ungeduldig und hielt ihm Geld hin.
Er nahm es und ging zur Registrierkasse. Die war scheinbar noch immer kaputt, denn er drehte nicht an ihr, sondern zog nur die Lade heraus.
„Ich muss dir einen Beleg schreiben. Das Ding geht nicht.“
Er gab mir den Zettel und zwinkerte mir zu.
„Also komm übermorgen wieder. Bis dahin ist das Buch da und denk nach, vielleicht brauchst du ja doch noch etwas für die Seele.“
Er lächelte, und sein weißer Schnauzbart schien es zu verstärken. Ich musste zugeben, der Mann hatte etwas Anziehendes.
Es war eigenartig. Seine Worte über die Seele gingen mir nicht aus dem Kopf.
Bisher bestand mein Gefühlsleben aus Schmerz, wenn ich mich anschlug, oder Hunger, wenn Essenszeit war. Wärme und Kälte fühlte ich auch.
Das war es aber dann, obwohl manches Mal gab es auch ein unbewusstes Sehnen, welches in der Skala meiner Befindlichkeit keinen wirklichen Stellenwert hatte, und wenn überhaupt, da wohl nutzlos, ganz zum Schluss kam. Trotzdem, es war da und drängte nun nach vorne. Was war ich eigentlich? Was trieb mich an? Was beherrschte mein Denken außerhalb der Tagesroutine?
Herr Bobisch hatte das etwa so definiert: `Der Trieb wird zum Willen, die Wahrnehmung zur Erkenntnis. ´ Ich konnte leider nur ahnen, was er damit meinte.
Da war dann noch etwas. Die Bilder der Nacht.
Ich träumte doch und meist bedauerte ich dann aufwachen zu müssen.
Ich fühlte mich oft in Träumen geborgen und akzeptiert, ganz anders als in der Wirklichkeit. War das vielleicht ein Schutz für meine Seele?
Es schien mir auf einmal wichtig, darüber nachzudenken, und eigentlich konnte ich kaum erwarten, wieder in die Buchhandlung zu gehen. Ich wollte mehr über die Seele hören und wusste, von Herrn Bobisch würde ich einiges darüber erfahren können.
Je besser ich ihn kennen lernte, umso mehr verachtete ich mich, weil ich ihn bestohlen hatte.
Er war ein so freundlicher Mann und ich sah ihm an, wie ernsthaft er sich für mich interessierte. Das war eine völlig neue Erfahrung und steigerte nicht nur meine Persönlichkeit, sondern führte mein Denken auch auf den neuen Pfad der Selbstbeobachtung.
Er erwartete mich bereits, als ich den Laden betrat, denn am Tresen lag schon mein eingepacktes Physikbuch.
„Zuletzt haben wir ein sehr nettes Gespräch gehabt.“
Ich nickte zustimmend.
„Wir haben über die Seele gesprochen. Gibt es die nun, oder existiert sie nur in unserer Phantasie? Das ist schon seit Aristoteles ein Grundproblem der Philosophie.
Für außermaterielle Wahrnehmungen haben wir keine Sensoren. Wir können sie, falls es sie tatsächlich gibt, nicht spüren. Da wir aber intuitiv fühlen, dass es da etwas geben muss, schaffen wir uns Theorien.
Das betrifft auch die Religionen, über deren absolute Wahrheitsansprüche sogar Kriege geführt und viel Blut vergossen wurden. Diese Auseinandersetzungen waren aber völlig sinnlos, denn diese Frage lässt sich mit den uns gegebenen Sinnesorganen ja überhaupt nicht beantworten.
Trotzdem sind Religionen aber ein wichtiger kultureller Faktor und ein Wertemaßstab.
Doch zurück zur Seele. Die Philosophen haben im Laufe der Zeit nach meinem Wissen dreizehn Theorien entwickelt, angefangen beim `Dualismus´ der Unsterblichkeit der Seele und der Sterblichkeit des Körpers bis zur völligen Negierung ihres Vorhandenseins in der `Theorie der letzten Wirkung´. Letztere geht davon aus, dass unser Bewusstsein nur getragen wird von neuroelektrischen Signalen im Gehirn.
Ich glaube, um eine einigermaßen haltbare Meinung zu gewinnen, muss abstrahiert werden. Alle im Zusammenhang mit physischen Funktionen stehenden Phänomene müssen weggedacht werden, um zu sehen, was übrig bleibt. Also reine Gehirnbefehle an die Mechanik des Körpers, Gefühle, die Körperbedürfnisse hervorrufen, Reaktionen auf Außeneinflüsse und abgespeicherte erlebnisrelevante Vorgänge im Gehirn.
Bleibt dann noch etwas? Ich sage ja.
Dieses ´Ich´, welches in seiner unendlichen Vielfalt Generation um Generation, unter dem Einfluss des Erlebens, natürlich der genetischen Basis und dem individuellen Wollen, entsteht, geschmiedet im Feuer des Existenzkampfes, soll mit der Materie, die es ja auch nicht tut, einfach verlöschen?
Materie wird umgewandelt und Geist soll spurlos verschwinden? An Energie geht nichts verloren, behaupten die Physiker. Wenn das stimmt, muss auch die Seelenenergie, deren Größe uneinschätzbar ist, in irgendeiner Form erhalten bleiben, weil ja auch geformt, in und durch unsere real existierende Welt.“
Fasziniert folgte ich seinen Ausführungen.
Vieles war mir nicht klar, aber ich würde allen Ehrgeiz daran verwenden, immer mehr davon zu verstehen.
„Über diese Dinge habe ich noch nie nachgedacht“, bekannte ich fasziniert. „Sie haben mir eine neue Welt gezeigt. Dafür danke ich Ihnen, und ich bitte Sie, dass ich Sie wieder besuchen darf. Ich möchte noch mehr erfahren und Ihnen Fragen stellen dürfen.“
Ich wunderte mich über die Worte, die da aus meinem Mund sprudelten. Das war doch so gar nicht meine Denkweise, aber ich fühlte mich eigenartig bereichert.
Seit diesem Gespräch ging mein Blick nicht nur nach außen.