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Erika

Normalerweise war ich keine Träumerin. So viele Wachträume wie jetzt hatte ich noch nie gehabt. Alle drehten sich um Hermann.

So gerne hätte ich mich jemandem mitgeteilt. Mit Flora konnte ich über manches sprechen, aber das was mir wirklich so am Herzen lag, war unaussprechlich.

Meine Mutter ging mir ab, wie nie zuvor. Ihr hätte ich wohl alles sagen können.

Die Gedanken schweiften zurück in meine Kindheit.

Aus der Babyzeit erschienen Bilder wie Momentaufnahmen, altvertraute Sinneseindrücke und Befindlichkeiten, die meist durch Gerüche hervorgerufen werden, kehrten zurück. Das Parfüm meiner Mama, das mich anwehte, oder Vaters herbes Rasierwasser.

Verklärt erschien mir das Bild meiner Mutter. Sie war nicht nur einfach da, wie ein Engel umschwebte sie mein Dasein. Für mich war sie die schönste Frau, die ich je gesehen hatte und die Bilder, die ich öfter betrachtete, bestätigten das.

Nicht der geringste Streit war mir im Gedächtnis geblieben, auch nicht aus der Zeit, als ich in die Schule kam und Leistung gefordert wurde. Diese Erinnerungen verblassten aber zunehmend und wurden verdrängt, von dem einschneidensten Ereignis meines Lebens, den letzten Stunden mit ihr.

Es war in den ersten Ferientagen gewesen. Ich nutzte die Gelegenheit und schlief länger.

Als ich ins Badezimmer kam, empfing mich eine warme, feuchte, leicht von ihrem Parfum erfüllte Atmosphäre. Sie stand am Spiegel und frisierte ihr langes Haar. Zwischendurch trocknete sie mit dem Föhn.

Ich setzte mich auf die Kante der Badewanne und beobachtete sie.

Sie schaute zurück und warf mir ein kleines Lächeln zu.

„Wie fühlst du dich in den Ferien? Ich habe eine Überraschung für dich. Es soll unvergesslich für dich werden.“

„Sag’s mir“, bettelte ich.

„Noch nicht. Es wäre ja sonst keine Überraschung.“

Meine Morgenträgheit war wie weggewischt.

„Was könntest du mir schenken? Eigentlich hab ich alles und Weihnachten ist ja noch weit.“

„Es ist auch nicht direkt etwas Materielles, obwohl …“

„Du machst es aber spannend.“

„Wird es auch werden“, verkündete sie, „ich freu mich selbst sehr darauf.“

„Dann ist es etwas für uns beide?“

Sie nickte lächelnd.

„Und Papa, hat der auch einen Anteil?“

„Das weiß ich noch nicht.“ Sie drehte sich um und strahlte mich an.„Ich muss es ihm erst vorschlagen. Vielleicht kann er mitmachen. Das wäre am Allerschönsten.“

Ihre Augen bekamen einen so sehnsüchtigen Glanz, wie ich ihn an ihr noch nie gesehen hatte. Nun verstand ich meinen Vater, dass er sie über die Maßen liebte und ihr jeden Wunsch erfüllen wollte. Ich stand auf und schmiegte mich glücklich in ihre Arme.

Es war der 17. Juli 2010., ein Datum, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat.

Jetzt höre ich noch ihre Stimme, die mir, als sie an meinem Zimmer vorbeiging, zurief: „Ich muss noch schnell auf die Bank. Es wird nicht lange dauern.“

Für mich wurde es zur Ewigkeit. Sie kam nicht mehr zurück.

Mein Vater gestatte es mir nicht, sie nochmals zu sehen.

Der Sarg stand verschlossen unter einem Meer von Blumen, gekrönt durch ein Bild zur Erinnerung an Sabine Kerbler, geborene Ruthnig.

Ich verstand nicht, warum ich nicht noch einmal von ihr Abschied nehmen durfte.

„Du sollst sie so in Erinnerung behalten, wie du sie zuletzt gesehen hast“, versuchte mich Papa zu trösten.

Dabei brauchte er doch selbst Trost.

Ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen, und es zerriss mir das Herz, als ich sah, wie ihm Tränen von den Wangen tropften.

Laut aufschluchzend bekam ich kaum Luft und es dauerte eine ganze Weile, bis sich mein Atem beruhigt hatte.

Meine Mutter war, als sie den Kassenraum der Bank betrat, direkt einem bewaffneten Bankräuber in die Arme gelaufen. Sie war mit ihm zusammengeprallt und hatte sich, wahrscheinlich um nicht zu stürzen, an den Tragriemen der Tasche festgehalten, in der das erbeutete Geld steckte. Die auf sie gerichtete Pistole hatte meiner Mutter offenbar einen Schock versetzt, denn als der Bankräuber sie wegstoßen wollte, ließ sie nicht los. Da gab er einen Schuss ab und flüchtete auf die Straße.

Er hatte ihr in den Kopf geschossen. Meine Mutter war sofort tot. Sie war nicht mehr dazu gekommen, Geld abzuheben, das Geld für ihre Überraschung, unsere gemeinsame Ferienreise nach Spanien.

Was mir verloren gegangen war, wurde mir erst viel später wirklich bewusst, und immer kam ein unendlicher Schmerz in mir auf, wenn ich nach ihr suchte, weil ich die Mutter brauchte, und das war, besonders im Stadium der Pubertät, sehr häufig der Fall.

Mein Vater spielte in meinem Leben schon immer die große Rolle. Er war mir als Kind Leitbild und in der Jugendzeit Mutterersatz und Freund. Wie von selbst schlüpfte er in diese Rolle.

Wir trugen gemeinsam den Schmerz um sie. Ich übernahm langsam die Aufgabe der Lady im Haus und später nahm er mich zunehmend gern mit, wenn es um Repräsentation ging.

So hatten wir keine Geheimnisse voreinander, außer jenen, die allzu persönlich waren und die ich lieber mit meiner Freundin Flora besprach.

Vater saß mit mir beim Abendessen.

„Also, der Theobald hat sich gut in die Firma eingegliedert. Ich glaube, da hab ich einen guten Griff getan.“

Eigentlich wollte ich darüber gar nichts wissen, aber da ich nun einmal BWL studierte, musste ich mich wohl für Entwicklungen in der Firma interessieren.

Vater fuhr fort:

„Ich glaube, die Idee, eine Werkzeugmaschinenproduktion aufzubauen, ist eine sehr gute. Allerdings wird diese Unternehmung eine erhebliche Investition bedeuten. Trotzdem ich kapitalmäßig gut ausgestattet bin, werde ich noch eine Menge Fremdmittel benötigen.

Der Steuerberater drängt schon lange darauf, eine Kapitalgesellschaft zu gründen. Jetzt, da auch Elvira bereit ist, Geld bei mir anzulegen, scheint die Angelegenheit wegen anderer, sich vielleicht neu eröffnender Aspekte akut zu werden.“ Er legte seine Stirn in Falten.„Ich weiß nur nicht, welche Gesellschaftsform die passendste wäre.“

„Vielleicht kann ich dir behilflich sein“, warf ich ein.„Ich werde mit Doktor Marterbauer von meiner Uni sprechen. Er referiert unter anderem über Steuerrecht und ich kenn ihn ganz gut.“

„Da würdest du mir sehr helfen. Manchmal vergesse ich, dass du ja einschlägig studierst. Ab jetzt werde ich deine Hilfe stärker in Anspruch nehmen, auch im Hinblick auf meine Zukunftspläne.“

Fragend blickte ich ihn an, aber er lächelte nur und blieb mir eine Antwort schuldig.

Zunächst wusste ich nicht, was mich an unserem Gespräch irritierte.

Schlagartig wurde es mir dann klar. Elvira und ihr Sohn. Der Vater wollte sie wohl nicht nur in die Familie integrieren, es schwebte ihm scheinbar mehr vor, wie seine Andeutung auf Geldeinlage durch Elvira schließen ließ.

Das gefiel mir gar nicht. Ich würde aufpassen müssen.

Beim nächsten Abendessen ergab sich die Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch.

„Ich habe mit Doktor Marterbauer diskutiert.“

Interessiert schaute mich Vater an. „Und?“

„Grundsätzlich hängt die Betriebsform vom Volumen ab. Je größer dieses ist, umso ungünstiger wird die Form der Einzelfirma und auch der Personengesellschaft, sowohl haftungsmäßig als letztlich auch steuerlich, obwohl man im Steuerrecht versucht, gleichmäßig zu belasten. Die Unterschiede liegen trotzdem in der Lastenverteilung und dem unterschiedlichen bürokratischen Aufwand. Was die Haftung betrifft, ist die Auswirkung auf den einzelnen Kapitalgeber gravierend. Das Risiko, mit welchem in einem Betrieb gerechnet werden muss, ist sehr spartenabhängig, In einem reinen Handelsgeschäft wird ein weit geringeres Risiko auftreten, als zum Beispiel in einem Erzeugungsbetrieb, oder gar einem Bauunternehmen.

Bei sehr großem Kapitalbedarf ist die Aktiengesellschaft als Körperschaft von Vorteil, weil die Finanzierung über Aktien erfolgt. Eine GmbH ist wegen der Überschaubarkeit der Kapitalgeber flexibler, die AG ist aber finanziell breiter aufgestellt.“

Mein Vater ließ meinen Vortrag auf sich einwirken. Dann meinte er: „Wegen des künftigen Kapitalbedarfs müssten wir eigentlich eine AG gründen, andererseits stört mich aber, dass die Freiheit der Entscheidung erschwert wird. Ich möchte Herr in meinem Haus bleiben.“

Dann kommt nur eine GmbH in Frage“, warf ich ein.

„Zunächst ja, solange die Kapitalisierung sichergestellt ist.“

„Und, ist sie das?“

„Im Moment völlig ausreichend, aber für meine Zukunftsvisionen brauchen wir sicher viel mehr Finanzmittel, und das bereitzustellen könnte über die Banken schwierig werden, wenn das Privatvermögen herausgehalten werden soll.“

„Reden wir Klartext.“ Ich schaute ihn eindringlich an. „Informiere mich über deine Pläne und Visionen, dann kann ich auch dazu Stellung beziehen. Bisher hat sich alles nur in deinem Kopf abgespielt und ich habe überhaupt keine Vorstellung vom Status der Firma. Wenn du meine Meinung hören willst, musst du mir reinen Wein einschenken.“

Er lächelte.

„Das Küken wird erwachsen. Gut, du sollst meine Pläne erfahren. Ich möchte die Firma für internationale Geschäfte fitt machen. Da ich nicht mehr der Jüngste bin und in meiner Tochter die Zukunft sehe, solltest du nach deinem Studium die kaufmännische Geschäftsführung übernehmen. Im technischen Bereich baue ich mit Theobald einen geeigneten Mann auf. Über seine Qualifikation brauchen wir nicht zu diskutieren. Sein persönliches Engagement wird groß sein, da er bald zur Familie gehören und vielleicht, wie ich hoffe, noch enger an sie gebunden werden könnte.“

„Wie meinst du das?“

„Theobald wäre kein schlechter Partner für dich.“

„Schlag dir das aus dem Kopf. Diese Chancen stehen sehr schlecht, denn ich habe mich verliebt.“

Missbilligend, wie mir schien, blickte er mich an. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

„Ernsthaft?“, fragte er.

„Mehr als das. Er ist meine große Liebe.“

„Und wer ist der Glückliche?“

„Du kennst ihn. Hermann ist der Servicetechniker der Firma Ortner.“

Er brauchte einige Zeit, bis er meine Worte verdaut hatte.

Dann sagte er nachdenklich: „Ein tüchtiger Bursche, wie er bewiesen hat, aber …ich muss das erst überdenken.“

Meinem fragenden Blick wich er aus, dennoch hörte ich ihn murmeln: „Lieber wäre mir die GmbH, aber unter diesen Umständen wird es wohl eine AG sein müssen.“

Laut sagte er: „Ich will deinen Hermann kennen lernen. Ich lade euch am Samstag in den Felsenkeller ein.“

Ich sprang auf, fiel ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss.

Mein Glückszustand war so groß, dass mir ein Ereignis nicht so wichtig erschien, weil es meiner Meinung nach mehr Papa betraf. Das hätte es aber tun sollen, denn die Auswirkung, dass Elvira bei uns einzog, war erheblich.

Doch ich war glücklich, warum sollte es Papa nicht auch sein?

Trotzdem blieb im Unterbewusstsein, noch undefinierbar, ein Rest von Unbehagen.

„Willst du Elvira heiraten?“, fragte ich ihn nach ihrem Einzug direkt.

„Diese Absicht besteht nicht.“

Das beruhigte mich. Ich nahm Elvira als Hausgenossin zur Kenntnis.

Wilfried lag mit Elvira im Bett.

„Theobald macht das in der Firma gut“, sagte er.

Elvira nickte erfreut.

„Er fühlt sich wirklich wohl“, bestätigte sie. „Wie schön wäre doch auch, wenn sich zwischen ihm und Erika etwas anbahnen würde.“ Elvira legte ihre Hand auf seine Brust.

„Daraus wird wohl leider nichts werden. Erika hat mir gestanden, dass sie sich in einen jungen Mann verliebt hat. Sie hat ihn bei uns im Betrieb kennen gelernt. Er ist Servicetechniker bei Ortner. Er scheint ganz tüchtig zu sein. Ich will ihn kennen lernen.“

„Kannst du ihr das nicht ausreden? Junge Mädchen verrennen sich leicht.“

„Wenn sie ihn wirklich liebt, wird das nicht gehen. Deshalb will ich ihn genauer unter die Lupe nehmen.“

Hermann

Den ganzen Tag trug ich mich mit dem Gedanken, Erika anzurufen.

Es war höchste Zeit, uns wiederzusehen. Außerdem, wollte ich endlich mein Gewissen erleichtern. Sie musste über mich Bescheid wissen.

Da tönte mein Handy.

„Hermann, wir müssen uns unbedingt treffen.“

„Ich wollte dich auch gerade anrufen.“

„Heute Abend“, sie klang atemlos.

„Es tut mir leid, aber ich arbeite auswärts und weiß nicht, wann ich zurück sein kann.“

„Dann morgen Abend.“

„Das geht.“

„Um neunzehn Uhr beim Rathaus?“

„Ich kann es kaum erwarten.“

Völlig übermüdet kam ich nach Hause und freute mich auf mein Bett. Aber ich konnte einfach nicht einschlafen

Ich saß im Vorraum zu Schorschis Büro alleine am Tisch, als der sich zu mir setzte. „Max hat mir berichtet, dass du dich gut machst. Du bist ein beachtenswerter Kämpfer.“

„Ich glaube, ich boxe schon ganz passabel, jedenfalls habe ich alle Kämpfe gewonnen, nur einmal gab es ein Unentschieden.“

„Aber nie ein KO. Warum? Hast du keinen Punch?“

„Ich glaube schon. Max hat mir gesagt: Du hast einen gefährlichen Schlag, aber benütze ihn selten. Es genügt überlegen zu sein. Kämpfe mit feiner Klinge, sportlich fair. Was gibt dir das, wenn dein Gegner am Boden liegt und womöglich zum Krüppel wird? Den hast du dir dann zum Feind gemacht. Wenn er aber deine kämpferische Überlegenheit anerkennen muss und sieht, dass du ihn stehen lässt, wird er zum Sportkameraden, vielleicht sogar zum Freund, und Freunde sind wertvoll.“

„Ja, das ist typisch Max. So ist er halt. Mich interessiert weniger, ob du ein guter Boxer bist. Das setze ich voraus. Aber du hast ein Kämpferherz und traust dich was. Ich glaub, bald muss ich dir größere Aufgaben geben.“

Wäre ich, jener Junge, der fasziniert an den Worten des großen Anführers hing, einigermaßen bei Verstand gewesen, hätte dieser Kindskopf jetzt gehen müssen, weil er ahnen musste, was die höheren Aufgaben wohl zu bedeuten hatten.

Ich war in einem zerrissenen Zustand. Ich freute mich auf die täglichen Boxstunden, aber ebenso freute ich mich auf die Gespräche mit Herrn Bobisch.

Die Schere konnte nicht weiter auseinanderklaffen. Deshalb schottete ich mich ab.

Ging ich zum Boxen, war ich Kämpfer, ging ich in die Buchhandlung, war ich ein interessierter Junge.

Jetzt bei Schorschi hörte ich zu, denn der wurde sehr gesprächig.

„Wenn du glaubst, wir wären nur auf den Besitz anderer aus, irrst du dich. Wir führen nur einen Kampf gegen die Gestopften. Für unsere Leute, die Ausgebeuteten, auf deren Rücken der Kapitalismus wächst, mache ich das, auch wenn wir deshalb von der Gesellschaft als Kriminelle bezeichnet werden. Die Philosophen würden sagen, ich wäre ein Fundamentalist. Mag sein. Es kommt auf den Blickwinkel an.

Wir Unterdrückten sind die Mehrheit der Gesellschaft, und es kann doch nicht sein, dass eine Minderheit die Mehrheit terrorisiert und den von der Masse erarbeiteten Wohlstand einfach für sich absaugt.

Ich bin ein wichtiger Teil dieser Masse, der Wichtigste, weil ich mich aktiv zur Wehr setze. Ich nehme mir das Recht zur Umverteilung, denn ich bin im Besitz der Wahrheit, und deshalb im klassischen Sinn struktureller Fundamentalist.“

Vor meinen Augen erwuchs das Bild eines Propheten und ich nahm mir vor, dies mit Herrn Bobisch zu diskutieren.

Aus seiner Perspektive war also Schorschi zum Heiligen der Mittellosen mutiert, und es machte stolz, zum Kreis eines Heiligen zu gehören.

„Was ist ein Fundamentalist?“

Herr Bobisch strich über seinen Bart.

„Im Grunde gibt es kaum einen Unterschied zwischen religiösen und politischen Fundamentalisten. Und doch. Die religiösen Fundamentalisten sind, nach ihrer Meinung, im Besitz der reinen Wahrheit, politische Fundamentalisten glauben die Wahrheit zu kennen und praktisch umsetzen zu müssen.

Beide finde ich gesellschaftsfeindlich, weil ihrer Berufung nach elitär, und damit einseitig, völlig konträr zu einem einigermaßen demokratischen Prinzip.“

„Das verstehe ich nicht“, protestierte ich. „Wenn jemand überzeugt ist und alles in Kauf nimmt, verkrustete Strukturen aufzubrechen, ist er doch im Sinne der Gesellschaft ein Held“, warf ich ein.

„Das kann schon sein. Es hängt immer davon ab, wie seine Position in diese eingebunden ist. Idealistische Einstellung kann sich, wenn sie fundamental wird, gesellschaftsfeindlich auswirken, und zwar dann, wenn sie sich vom Bedürfnis der Menschen, für die eingetreten werden soll, abhebt. Machterhaltung wird zum Selbstzweck. Sie schottet sich ab und entwickelt sich schließlich zu einer Philosophie der Auserwählten.“

„Und bei den Religionen ist es auch so?“, fragte ich.

Er nickte.

„Gott wurde von Menschen instrumentalisiert, um über andere Macht zu gewinnen.

Herr Bobisch suchte in einem Regal und gab mir ein Buch. „Lies das, wenn dich dieses Thema interessiert.“

Er sah mein Zögern und meinte beruhigend: „Nein, du musst es nicht kaufen. Lies es, frag mich, und bring es dann wieder.“

Endlich versank ich im Schlaf, und als ich aufwachte, stand mein Entschluss fest.

Ich würde Erika alles über mich offenlegen.

Erika

Ich flog Hermann in die Arme, als ich ihn kommen sah. Wir gingen, fast wie schon gewohnt, über den Heiligengeistplatz, den Schillerpark, in Richtung Kreuzbergl.

Ich war aufgeregt und konnte es fast nicht mehr aushalten, meine Neuigkeit loszuwerden.

Am Schillerpark stand etwas abseits eine Parkbank. Ich zog Hermann dorthin.

„Mein Vater will dich kennen lernen.“

Hermann schaute mich ängstlich an.

„Ich muss dir etwas sagen, es fällt mir sehr schwer“

„Zuerst ich“, unterbrach ich ihn und gab ihm einen Kuss. „Sei mir nicht böse, dass ich dir nicht von Anfang an gesagt habe, wer ich bin.“

Verständnislosigkeit begegnete mir in seinem Blick.

„Mein Vater ist der Inhaber der Firma Kerbler.“ Nun war es heraus, und ich beobachtete mit Herzklopfen seine Reaktion.

Zunächst war er sprachlos.

Dann brach es aus ihm heraus.

„Ach, deshalb haben wir uns dort getroffen, und keiner hat mir etwas gesagt. Die Frau Pontasch wollte sich wohl über mich lustig machen, oder war ich für sie nicht standesgemäß?“

„Das hat sie sicher nicht gedacht, aber wahrscheinlich wollte sie mir nicht vorgreifen.“ Ich versuchte ihn schelmisch anzulächeln. „Immerhin hat sie dir meine Handynummer gegeben.“

Hermann schien sich zu beruhigen und meine Küsse taten ein Übriges.

Hermann

Ich hätte nie gedacht, dass mir jemals eine Frau solche Probleme bereiten würde, schon gar nicht meine geliebte Erika.

Jetzt aber war sie für mich zum ernsten Problem geworden. Sie war aus reicher Familie, ihr Vater würde mich absolut nicht akzeptieren, wenn er über mich Bescheid wüsste.

Ich war ratlos und zutiefst unglücklich.

Würde ich mich offenbaren, war ich mir sicher, Erika zu verlieren.

Dieser Gedanke war unerträglich. Ich war doch kein Selbstmörder, denn mich von ihr trennen zu müssen, schien mir gleichbedeutend damit, gewaltsam aus dem Leben zu scheiden.

Stillschweigen wäre ein Vabanquespiel, denn wenn es dann doch herauskäme, wären die Folgen nicht absehbar.

Aber müssten sie unbedingt zur Trennung führen? Vor allem dann, wenn wir Kinder hätten? Das würde wohl alles aufwiegen.

Dieser Gedanke gefiel mir immer besser.

Am Ende war ich überzeugt, dass Stillschweigen die einzige Lösung war, denn selbst wenn ich nur sie, Erika, einweihte, war es sehr wahrscheinlich, dass sie sich von mir abwenden würde.

Nun fühlte ich mich erleichtert, und in gleicher Weise, wie ich die Tatsachen meines Vorlebens verdrängt hatte, um in ein neues Leben schlüpfen zu können, so verdrängte ich nun die Bedrohung, dass alles ans Licht kommen würde.

So oder so. Wenn es denn so kommen sollte, müsste ich mich, dann eben zu diesem Zeitpunkt und gewiss unter geänderten Bedingungen, dem Makel stellen. Momentan wäre es wohl ein nicht wieder gutzumachender Fehler.

Nicht nur der Morgen, auch meine Stimmung begann sich rosa zu färben.

Erika

Nun kam der große Moment für mich, an dem Vater meinen geliebten Hermann würde kennen lernen. Im Stillen hoffte ich, dass er dies ebenso vorbehaltlos tun würde, wie ich es tat, aber nach außen war ich ganz schön nervös und fand mich schon weit vor der vereinbarten Zeit im Felsenkeller ein, auch um einen passenden Tisch in Beschlag zu nehmen.

Hermann kam ebenfalls etwas früher, so dass wir noch Zeit hatten, miteinander zu reden.

Vater war wie gewohnt pünktlich. Er versuchte sich leger zu geben, wir aber sahen nur seine Autorität, denn auch Hermann hatte vor ihm, wie er mir zuvor gestanden hatte, gehörigen Respekt.

Da der Kellner uns mit Speisekarte und Getränkewünschen sofort beschäftigte, legte sich die Spannung etwas.

„Wie ich weiß, ist das T-Bone-Steak eine Spezialität des Hauses“, sagte er zu Hermann „Wenn Sie Steak mögen, sollten Sie das versuchen.“

Die Herren entschieden sich dafür, ich nahm ein Schweinsmedaillon.

„Zum Trinken?“, fragte der Ober.

Vater blickte zu Hermann. „Sie trinken doch Bier?“

Er nickte. „Gern.“

„Dann zwei große Hausbiere  und du?“

„Ich auch“, sagte ich.

Vater sah Hermann an.

„Sie sind Techniker bei Ortner, wie ich weiß.“

„Ja, Ich habe in Wien die HTL, mit Schwerpunkt Elektronik, gemacht und konnte bei Ortner eine interessante Stelle finden.“

„Sie sind ausgebildeter Elektroniker? Den brauche ich auch in meinem Betrieb. Da werde ich Sie wohl abwerben müssen, denn ich habe von Ihren beruflichen Qualitäten schon gehört.“

„Sie meinen den Serviceeinsatz bei Ihnen. Ach, das war ja nur eine Kleinigkeit.“

„Aber eine, die uns sehr geholfen hat.“

Ich atmete auf. Vater war ja sehr kommunikativ. Meine Befürchtung, er werde Hermann wegen Theobald unfreundlich behandeln, schien nicht zuzutreffen.

„Als reines Produktionsunternehmen benötigen Sie doch einen Elektroniker höchstens für den Service? Dafür dürfte sich der Aufwand nicht lohnen.“

„Sie haben recht, aber ich habe entscheidende Umstrukturierungen vor. Unter anderem erweitere ich auf Bau von Werkzeugmaschinen und da, denke ich, wäre die Position eines Leiters für die Steuerungstechnik doch interessant. Wir könnten diese Teile dann selbst entwickeln und produzieren. Damit hätten wir alles im eigenen Haus.“

„Ja, das klingt sehr logisch.“

Vater hatte sich in Begeisterung geredet und Hermann war ganz Ohr. Mich hatten sie vergessen, aber nun kam ich doch vor.

„Wie ich schon sagte, habe ich eine große Umstrukturierung des Unternehmens vor. Vielleicht gehen wir sogar an die Börse.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte er sich von der GmbH geistig schon verabschiedet?

„Wenn Erika mit dem Studium fertig ist, wird sie eine leitende Position übernehmen. Das passt doch alles sehr gut zusammen“, freute er sich.

Durch das Auftragen der Speisen wurde das Gespräch unterbrochen. Nach dem Essen bestellte Vater noch eine Flasche Wein.

„Zur Feier des Tages, und ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.“

Ich schaute zu Hermann. Es war ihm scheinbar sehr unwohl, denn er wollte einbremsen, aber Vater hob beschwichtigend die Hand.

„Natürlich werden wir uns noch ausführlich unterhalten, aber ich bin ganz sicher, wir kommen zusammen, warum sollten wir dann nicht darauf anstoßen?“

Später fiel mir auf, dass über Privates praktisch nicht gesprochen worden war. Sollte das nicht im Vordergrund stehen? Aber ich kannte Papa, wenn er einmal von der Firma anfing, versank alles andere.

Trotzdem hatte mich der Abend sehr erleichtert und ich war glücklich, denn Theobald war kein Thema mehr, nicht einmal bei uns zu Hause, und das, obwohl Elvira bei uns eingezogen war.

Ich hoffte, sie sei nur auf Besuch da.

An den Grenzen der Wirklichkeit

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