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Erstes Hauptstück : Der Buchhalter Selbstmord

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Die Revolution in der DDR war unblutig verlaufen. Ein Wunder! Niemand innerhalb der Staatsführung, der Parteiführung und des Staatssicherheits-dienstes hatte es gewagt, den Schießbefehl zu geben. Natürlich hatte man sich mit den Genossen in der Sowjetunion abgestimmt. Dort herrschten Glasnost und Perestroika, man wusste dort, dass der Sozialismus gescheitert war. Gorbatschow hatte bei seinem letzten Besuch in Berlin gesagt: " Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

Wenn die Revolution auch ohne Gewalt und öffentliches Blutvergießen abgelaufen war, so spielten sich doch im persönlichen und privaten Bereich viele Dramen ab. Viele Funktionäre des Regimes sahen für sich keine Zukunft mehr oder hatten Angst vor Rache oder waren einfach verzweifelt wegen des Zusammenbruchs ihres Lebensgebäudes und brachten sich um. Aber auch einfache Menschen, die keinerlei Schuld auf sich geladen hatten, verzweifelten und machten ihrem Leben ein Ende.

Bruno Handtke stand in seinem Keller auf dem Werkstattisch. Er hatte eine Schlinge um den Hals. Es war eine Ziehschlinge und das andere Ende des starken Seils war mit doppeltem Knoten über ihm an dem Eisenträger, der unterhalb der Kellerdecke verlief, festgebunden. Er hatte sich so weit an den Tischrand gestellt, dass er den Tisch mit einem Stoß seiner Füße umwerfen konnte. Sein Entschluss stand fest. Gestern war er entlassen worden. Die Schraubenfabrik hatte keine Arbeit mehr für ihn. Insgesamt waren seit der Wende mehr als 4000 Kollegen und Kolleginnen " freigesetzt" worden. Für ihn war die Schraubenfabrik das ganze Leben. Mit 15 hatte er vor 40 Jahren als Lehrling in der Schlosserei angefangen und hatte dann viele Jahre an einer Drehbank gearbeitet. Bis zum Vorarbeiter hatte er es gebracht. Seine Gruppe hatte immer das von der Partei vorgegebene Soll übererfüllt. Als einer der"Schraubenfabriker" war er in der ganzen Stadt anerkannt und geachtet. Jetzt war das Alles zu Ende. Aber der Verlust seines Arbeitsplatzes war eigentlich nur der ausschlaggebende Schlusspunkt nach vielen Verlusten und Enttäuschungen.

Viel schlimmer war der Zusammenbruch des Sozialismus, seiner Weltanschauung. Er hatte keine andere Weltanschauung, keine Religion oder Philosophie. Jeder Mensch braucht Etwas, woran er sich klammern kann in dem Auf und Ab seiner Lebensgeschichte. Die Religion, nach deren Glaubenssätzen sich die Mehrheit der Menschen in der Welt ausrichtet, hatte man ihm genommen. Die DDR-Führung wollte, ebenso wie alle anderen sozialistischen Gesellschafts-ordnungen, keine Religion, die war ihnen lästig oder sogar gefährlich. Die Leute sollten an den Sozialismus glauben, das genügte. Man berief sich auf Hegel und Marx und machte die Religion lächerlich.

Aber da war noch was Anderes. Sein Intimleben stimmte nicht mehr. Er war immer ein glücklicher und treuer Ehemann gewesen. Seine Herta gab ihm Alles, was er auf diesem Sektor brauchte. Das hatte sich seit einiger Zeit geändert. Seine Frau übte keine Anziehung mehr auf ihn aus, er hatte keine Lust mehr nach ihr. Manchmal versuchte er noch, das alte Feuer in sich zu entfachen, aber er merkte, dass auch seine Frau nicht mehr bei der Sache war. Also ließ er es ganz und lebte über lange Strecken wie ein Mönch. Damit war ein wichtiger Teil seiner Lebensfreude, vielleicht sogar der Wichtigste, weg-gefallen. Also, wofür lebte er noch? Seine drei Kinder waren schon seit Langem aus dem Haus und gingen ihre eigenen Wege, ab und zu ließen sie sich anstandshalber bei ihren Eltern blicken, aber mehr war auch nicht.

Nun kam seit etwa einem Jahr noch Etwas dazu, womit er überhaupt nicht fertig wurde: Er konnte nicht mehr richtig Wasser lassen, seine Prostata hatte sich vergrößert. Wohl oder übel hatte er sich der Vorsorgeuntersuchung unterzogen. Der Urologe hatte auf „hinterlistige“ Weise seine Prostata abge-tastet und ihm eröffnet, dass sie so groß sei wie ein Apfel. Eigentlich sollte sie nur Walnussgröße haben. Der große Apfel drückte seine Harnröhre zusammen, so dass der Urin nicht mehr richtig aus der Blase abfließen konnte. Seine Blase wurde niemals richtig leer. Daraus folgte dann das häufige nächtliche Aufstehen, um wenigstens den Überdruck loszuwerden. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass er das nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe, weil sich möglicherweise der Urin bis hinauf in die Nieren stauen könnte und dann käme es zu einer gefährlichen Nierenentzündung. Also musste er sich operieren lassen. Der Arzt meinte zwar, dass eine solche Operation nichts Besonderes sei und erklärte ihm, wie der Urologe den größten Teil der Prostata durch die Harnröhre entfernen würde. Vorher würde ein Katheder in die Harnröhre gelegt, damit der Urin abfließen könnte. Er habe schließlich keinen Prostatakrebs und die kleine Operation würde ihn anschließend in keiner Weise beeinträchtigen. Die sexuellen Funktionen blieben erhalten und auch der Schließmuskel würde nicht verletzt. Natürlich wären auch schon Komplikationen aufgetreten, das könne man bei einer Operation ja nie ausschließen. Deshalb müsste er vor der Operation eine Erklärung unterschreiben, dass man ihn über etwaige Risiken aufgeklärt habe.

Das Alles würde er nicht mitmachen. Die Vorstellung allein ließ ihn fast verrückt werden. Da wollte er sich lieber umbringen. Was war denn auch so schlimm daran, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Sterben musste man sowieso, irgendwann musste man das über sich ergehen lassen, und das Sterben konnte ganz schön schlimm sein. Mit einer doppelseitigen Lungenentzündung etwa, tagelang unter stärksten Schmerzen nach dem bisschen Luft ringen oder vielleicht jahrelang nach einem Schlaganfall total von anderen Menschen abhängig zu sein. Was war denn so schlimm an der kurzen Spanne, die ihn vom Tod trennte. Er hatte sich für den Strick entschieden. Das würde nicht viel länger als eine Minute dauern, dann wäre es vorbei. Natürlich wäre der Moment des Absprungs und das Bewusstsein, dass dieser Entschluss nicht mehr rückgängig zu machen sei, entsetzlich. Auch der Kampf des Körpers gegen den totalen Luftmangel würde schlimm sein. Aber er war davon überzeugt, dass das Ganze nur eine Minute dauern würde.

Er dachte noch einmal an seine Frau und seine Kinder, dann stieß er mit seinen Füßen den Tisch um. Er zappelte tatsächlich nur etwa eine Minute.

Damit hatte die „Privatisierung“ der Schraubenfabrik Gera, ehemals volkseigener Betrieb „ Clara Zetkin“ ihr erstes Opfer.

Seit der große und für die Versorgung des Ostblocks mit Schrauben und Fittings so wichtige Betrieb durch die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten praktisch überflüssig geworden war, hatte man die Produktion um 90% heruntergefahren, jeden Tag wurden Entlassungen vorge-nommen. Seitdem hing der Betrieb am Tropf der Berliner Treuhandanstalt, die sich die „Privatisierung“ der sanierungs-würdigen Betriebe der ehemaligen DDR zum Ziel gesetzt hatte. Ein notdürftiger Erhalt des Unternehmens war nur möglich durch die laufende Zuführung von Betriebsmitteln durch diese Treuhandanstalt, die durch das Bundesfinanzministerium finanziert wurde. Man war darauf eingestellt, die einzelnen Betriebe am Leben zu erhalten, so lange, bis man Jemanden gefunden hätte, der bereit war, das Unternehmen auf privater Basis zu übernehmen und wettbewerbsfähig zu machen.

Hans Egger war nach einigen fehlgeschlagenen Privatisierungsversuchen als der große Retter aufgetaucht und hatte das Unternehmen übernommen. Seine ersten Schritte waren weitere Entlassungen.

Ralf Baumann, der ehemalige stellvertretende Hauptbuchhalter, war nicht entlassen worden, weil er noch gebraucht wurde.

Der Buchhalter

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