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Ralf Baumann

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Ralf Baumann war ein unauffälliger Mann. Er lebte seit seiner Geburt in Gera, dieser schönen Stadt in Thüringen. Im vorigen Jahr hatte er seinen 50. Geburtstag gefeiert. Er war immer noch ziemlich glücklich verheiratet. Seine beiden Töchter, Karin und Kerstin, 18 und 19 Jahre alt, studierten an der Uni Leipzig. Karin studierte Jura, Kerstin Biologie. Sie wohnten in den Semesterferien noch zuhause, obwohl beide einen festen Freund hatten. Ralf Baumann war 1,72 m groß, nicht sehr kräftig, aber in guter körperlicher Verfassung. Seit einigen Jahren kämpft er mit einem Bauchansatz, die Haare waren ihm zum großen Teil schon zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr ausgegangen. Sein Gesicht war geprägt von einem Leben, in dem Fleiß, Ausdauer, Beherrschung und Zurückhaltung die Hauptrolle gespielt hatten. Der energische Mund mit den sinnlichen Lippen sprach von Ehrgeiz, aber auch von Genussfähigkeit. Seine braunen Augen strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Er hätte gerne ein markanteres, männlicheres Gesicht gehabt, ein Gesicht, das die Frauen fasziniert. Auch wäre er gern größer und stattlicher gewesen. Das war ihm leider nicht gegeben. So musste er sich damit abfinden, dass ihm die Mädchen nicht nachliefen, konnte aber doch feststellen, dass Intelligenz und beruflicher Erfolg, die ihm sehr bald Macht und Einfluss über andere Menschen gaben, ebenfalls von Frauen geschätzt wurden. Seine Hauptcharaktereigenschaften waren Gründlichkeit und Ausdauer. Im Übrigen legte er Wert darauf, unauffällig zu sein, alle Angeberei war ihm verhasst.

Nachdem er Schule und FDJ hinter sich gebracht hatte, ohne weder im positiven noch im negativen Sinne besonders aufgefallen zu sein, entschied er sich für das Studium der Betriebswirtschaft, das in der DDR „Rechnungsführung und Statistik" hieß. Gelehrt wurden hauptsächlich Buchführung, Bilanzierung, Kosten-und Planungsrechnung. Daneben waren natürlich Marxismus-Leninismus und andere ideologische Fächer obligatorisch. Da die DDR-Wirtschaft eine zentral geleitete Staats-und Verwaltungswirtschaft war, brauchte man gutausgebildete Fachleute auf dem Gebiet des Planungs-und Rechnungswesens. Die staatlich gelenkte Wirtschaft versorgte die eigene Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen, daneben fand mit den anderen sozialistischen Staaten ein lebhafter Austausch statt. Gleichzeitig musste der Staatshaushalt durch direkte Abschöpfung aus den volkseigenen Betrieben finanziert werden.

All das erforderte ein straff organisiertes und funktionierendes Planungs-Abrechnungs-und Kontrollwesen. Die Planung lief in den Ministerien für die einzelnen Branchen und Industriezweige zusammen. Die staatlichen Wirtschaftspläne mussten in den einzelnen Betrieben durchgeführt werden. Entscheidungen wurden im Zentralkomitee der SED getroffen und über die Parteiorgane an die Bezirks-und Kreisebenen und von dort aus in die Betriebe weitergeleitet. Dort lag die Verantwortung bei dem Betriebsdirektor und dem Hauptbuchhalter. Beide waren immer in erster Linie Parteikader. Bei ihnen lag ein wesentlicher Teil der Macht im Betrieb. Der Hauptbuchhalter war verantwortlich für die Soll-Erfüllung. Er musste täglich überwachen, ob die Produktion die Planungsvorgaben seitens des Ministeriums erfüllte. Deshalb wurde er durch die übergeordneten Parteiorgane nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt der Fachkenntnis, als unter dem der absoluten Linientreue ausgewählt.

Eigentlicher Fachmann für das betriebliche Planungs-und Rechnungswesen war deshalb der stellvertretende Hauptbuchhalter. Er lieferte dem Hauptbuchhalter die Daten, die sich aus dem betrieblichen Rechnungswesen ergaben. Er war der Fachmann für die Ermittlung der betrieblichen Ist-Zahlen, wie sie durch die Buchhaltung und die Kostenrechnung laufend erfasst wurden. Das Unternehmen war mit Robotron-Hardware und-Software ausgestattet. Robotron war der Elektronikkonzern der DDR. Er hinkte zwar immer hinter den technischen Entwicklungen der westlichen und fernöstlichen Computerindustrie her, aber seine Computer und seine Software reichten aus für die Bedürfnisse der DDR-Wirtschaft. Robotron lieferte gewissermaßen Elektronische Daten-verarbeitung für den Hausgebrauch. Der stellvertretende Hauptbuchhalter musste sich in der Robotron-Elektronik auskennen.

Die Buchhaltung erfasst, vereinfacht gesagt, alle Einnahmen und Ausgaben, die im Laufe einer Abrechnungsperiode, etwa einem Jahr, anfallen. Sie ordnet die Zahlen der Einnahmenseite und der Ausgabenseite nach sinnvollen Kriterien, sie kann so zum Beispiel das Anlagevermögen, also Gebäude, Maschinen etc.erfassen und verwalten, ebenso den Eingang, Abgang und Bestand von Materialien, die für den Produktionsprozess benötigt werden, sowie die Forderungen, die sich gegenüber Kunden ergeben und die Verbindlichkeiten, die gegenüber Lieferanten bestehen.

Die Kostenrechnung erfasst und verwaltet alle Kosten, die für den Produktionsprozess anfallen und ermittelt die Kosten pro Kostenstelle, etwa der einzelnen Maschinen, die bei der Fertigung zum Einsatz kommen oder die Materialkosten, die in den einzelnen Fertigungsstufen anfallen. Die Kostenrechnung erfasst aber auch die Kosten je Kostenträger, d.h. für die einzelnen Produkte, die halbfertig in der Produktion lagern oder die fertig im Verkaufslager liegen oder die bereits verkauft sind.

Mit Hilfe der Buchhaltung und der Kostenrechnung kann also die Unternehmensleitung laufend den gesamten Produktions-prozess kontrollieren und so jederzeit lenkend in alle Prozesse eingreifen. Die Buchhaltung liefert der Unternehmensleitung, der Geschäftsführung, alle Daten, die für das Management notwendig sind. Am Jahresende ergibt sich aus der Buchhaltung durch Vergleich des Vermögens am Anfang und am Ende des Geschäftsjahres der Jahresgewinn oder -verlust. Eine gutorganisierte Buchhaltung liefert in Verbindung mit der Kostenrechnung auch die kurzfristigen Ergebnisse des Produktionsprozesses, etwa monatlich oder vierteljährlich.

Für all das ist der Hauptbuchhalter verantwortlich. Da er aber in der sozialistischen Planwirtschaft und in einer Ein-Parteien- Diktatur den Kopf voll hat mit den Problemen der Planerfüllung und der Rechtfertigung gegenüber den Ministerien und der Partei, ist er in hohem Maße von seinem stellvertretenden Hauptbuchhalter abhängig, der sich im betrieblichen Rechnungswesen besser auskennt als er.

In einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsordnung kommen die Zahlen, die von Buchhaltung und Kostenrechnung verarbeitet und auswertet werden, vom Markt. Das Unter-nehmen muss am freien Markt einkaufen und am freien Markt verkaufen. Der Jahresgewinn oder -verlust zeigt, wie erfolgreich das Management am Markt operiert hat. Ganz anders ist das in einer staatlich gelenkten, zentralen Planwirtschaft. Hier gibt es keinen Markt, der der Buchhaltung und der Kostenrechnung die Zahlen liefert. Die Zahlen, die im betrieblichen Rechnungswesen erfasst und verarbeitet werden, stammen aus den Plänen der Ministerien, es sind Planzahlen und Verrechnungspreise. Die betrieblichen Buchhaltungen und Kostenrechnungen arbeiten ausschließlich mit diesen Planzahlen und können das Unternehmensergebnis am Jahresende nur als Differenz zwischen Soll-und Ist-Größen ermitteln.

Die Fachleute für das betriebliche Rechnungswesen, die an den Universitäten der DDR ausgebildet wurden, lernten in dem Fachbereich "Rechnungsführung und Statistik" zunächst einmal, warum der Sozialismus die bessere Gesellschaftsordnung ist, dann erfuhren sie, warum die zentrale Planwirtschaft der freien Marktwirtschaft überlegen ist und dass die Planwirtschaft der Bevölkerung ein besseres Leben geben kann, schließlich lernten sie auch noch, wie man mit den Instrumenten des Rechnungswesens und der Statistik dafür sorgen kann, dass die staatlichen Wirtschaftspläne erfüllt oder möglichst übererfüllt würden.

Aus dieser Schule kam Ralf Baumann, der stellvertretende Hauptbuchhalter.

Ralf Baumann hatte nach seinem Studium in verschiedenen Betrieben im Bereich des Rechnungswesens gearbeitet und es schließlich im VEB Schraubenfabrik Clara Zetkin, der wiederum zum Kombinat „Schrauben und Fittings“ gehörte, zum stellvertretenden Hauptbuchhalter gebracht.

In dem VEB fühlte er sich wohl. Er hatte nette Kollegen und unproblematische Mitarbeiter. Zwar war ihm, als kritischem Geist, klar, dass ein VEB, also ein „Volkseigener Betrieb“ keineswegs dem Volk gehörte. Ausschließlich die SED, die Staatspartei, bestimmte über Wohl und Wehe aller Betriebe in der DDR.

Ihm war schon lange aufgefallen, dass die Namen umso mehr von schönen Adjektiven verbrämt waren, je weniger sie von diesen Eigenschaften wirklich erfüllt waren. Das fing schon mit der Deutschen Demokratischen Republik an. Demokratisch war sein Land bestimmt nicht. Auch die Jugendorganisation hieß ja FDJ, Freie Deutsche Jugend, aber die Mitgliedschaft war keinesfalls freiwillig, sie war für jeden jungen Menschen praktisch Pflicht, wenn er nicht von Allem ausgeschlossen sein wollte und auf seine weiteren Ausbildungschancen wie z.B. Universitätszugang verzichten wollte.

So verbrachte Ralf Baumann seine Zeit in der FDJ, hielt seinen Mund und machte mit. Natürlich machte es auch Spaß mit dazuzugehören, kein Außenseiter zu sein. Alle seine Schul-freunde waren natürlich auch in der FDJ. Am Vormittag war man in der Schule zusammen, an Nachmittagen trat man häufig gemeinsam zum Dienst bei der FDJ an. Die verschiedenen Gruppen hatten einen strammen "Gruppenleiter", der die Autorität der SED hinter sich hatte. Aber die Heimabende mit Singen und Spielen, die Freizeitaktivitäten, die Geländespiele, waren doch sehr schön.

Am 9.November 1989 war dann die Mauer gefallen und am 3.Oktober 1990 war die DDR der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Alle Menschen der ehemaligen DDR verloren zunächst den Boden unter den Füßen. Vor allem wurde die berufliche Existenz für fast Jeden in Frage gestellt. Der größte Teil der Menschen war in einem volkseigenen Betrieb beschäftigt gewesen. Was würde nun aus diesen, meist in der Substanz veralteten und ausschließlich für das sozialistische Lager produzierenden Betrieben, werden?

Ralf Baumann blieb nach der sogenannten Wende zunächst auf seinem Posten, da seine Kenntnis aller betrieblichen Bereiche bei der Aufstellung der D-Mark-Eröffnungsbilanz dringend benötigt wurde, zumal der Hauptbuchhalter, als Parteimensch, auf Veranlassung der Treuhandanstalt sofort entlassen worden war.

Die DM-Eröffnungsbilanz wurde durch ein spezielles Gesetz eingeführt. Die letzte Bilanz der volkseigenen Betriebe war natürlich nach den Gesetzen der DDR aufgestellt worden. Die Bewertung der Vermögensgegenstände und Schulden der Betriebe waren in den Bilanzen in Mark der DDR aufgeführt und ergaben sich aus der 40-jährigen Bewertungspraxis der sozialistischen Planwirtschaft. Wollte man wissen, inwieweit diese Bewertungen den Bilanzgesetzen der Bundesrepublik Deutschland, der die DDR ja beigetreten war, entsprachen, so musste man jeden einzelnen Bilanzposten auf der Aktivseite und der Passivseite der Bilanz neu bewerten und zwar nach den Regeln des westdeutschen Handelsgesetzbuches. Aufgrund dieser Neubewertung ergab sich die DM-Eröffnungsbilanz zum 1.7.1990. Auf dieser Bilanz aufbauend, sollten dann die jeweiligen Jahresbilanzen fortgeführt werden.

Zunächst aber ergab sich für die meisten ehemaligen volkseigenen Betriebe ein Schock: viele Betriebe waren aufgrund der neuen realistischen Bewertung total überschuldet. So war es auch bei den Schraubenwerken, bei denen Ralf Baumann als stellvertretender Hauptbuchhalter beschäftigt war. Er hatte den westdeutschen Wirtschafts-prüfern, die mit der Erstellung und Testierung der DM-Eröffnungsbilanzen beauftragt waren, durch seine Kenntnis der DDR-Bilanzen wertvolle Dienste geleistet.

Auf der Basis der DM-Eröffnungsbilanz konnte die Treuhandanstalt nun über das weitere Schicksal der Unternehmen entscheiden. Viele Betriebe wurden liquidiert, weil nach den vorliegenden Zahlen und den Berechnungen der Treuhandanstalt keine Aussicht für das Unternehmen bestand, in absehbarer Zeit wettbewerbsfähig zu werden. Andere Unternehmen wurden als "privatisierungsfähig" eingestuft und damit in die Gruppe von Unternehmen eingereiht, für die der deutsche Staat alle erdenklichen Mittel bereitgestellt hatte, um das Unternehmen und damit die Arbeitsplätze wettbewerbsfähig zu machen und damit zu erhalten. Die Treuhandanstalt wandelte die meisten dieser Unternehmen in eine GmbH um und begann damit, den sogenannten "Privatisierer" zu suchen.

Im Laufe der Bemühungen zur Privatisierung der Schraubenfabrik, die inzwischen auch in eine GmbH umgewandelt worden war, wurden auch die verschiedenen Bereiche des Rechnungswesens neu besetzt .Die Wahl für den Posten des Hauptbuchhalters fiel nicht auf Ralf Baumann. So kam es, dass er schließlich in der Kontokorrentbuchhaltung für die Führung der Lieferantenkonten verantwortlich war. Für ihn als bilanzsicherer Buchhalter und Fachmann für die Kostenrechnung war diese einfache Tätigkeit eigentlich eine Beleidigung, andererseits musste er froh sein, dass er nicht zu den vielen Entlassenen gehörte.

Über seinen Tisch liefen alle eingehenden Rechnungen über gelieferte Roh-Hilfs-und Betriebsstoffe, die für die Produktion eingekauft werden mussten. Aber auch die Rechnungen über die Lieferung oder den Bau von Anlagegegenständen, also die Rechnungen von Baufirmen über den Bau von Betriebsgebäuden, die Rechnungen über die Lieferung von Maschinen und maschinellen Anlagen sowie von Dienstleistungen, wie zum Beispiel Beratungen und Gutachten.

Die eingehende Post wurde in der Poststelle geöffnet und mit dem Eingangsstempel versehen. Er versah alle Rechnungen zuerst mit dem Stempel „sachlich und rechnerisch richtig“, dann brachte er den Kontierungsstempel an und trug die Kontierung ein, das heißt er legte fest, auf welche Konten und Kostenstellen die Rechnung zu buchen war. Bevor er die Rechnung über seinen PC in das System der Finanzbuchhaltung eingeben konnte, prüfte er alle Angaben, die in der Rechnung enthalten waren, auf ihre formelle und rechnerische Richtigkeit.

Dann schickte er, nachdem er eine Kopie in einem Ordner „unterwegs befindliche Rechnungen" abgelegt hatte, die Originalrechnung an die Abteilung, die den Eingang „sachlich richtig" zu bestätigen hatte, also an das Baubüro, die Warenannahme oder den technischen Betriebsleiter. Wenn die Rechnungen, mit den Kontroll-und Richtigkeitsvermerken und Handzeichen versehen, nach einigen Tagen wieder zurückkamen, konnte er sie verbuchen, das heißt den Rechnungsbetrag dem Lieferanten auf dessen Kontokorrentkonto gutschreiben und gleichzeitig das Sachkonto für den Waren-oder Leistungseingang belasten. Aktivierungsfähige Anschaffungen im Anlagenbereich wurden dem entsprechenden Gebäude-, Maschinen-oder sonstigen Anlagenkonto belastet. Danach wurde die Originalrechnung mit dem Prüfungsvermerk und seinem Handzeichen versehen unter laufender Nummer im Ordner "Eingangsrechnungen" abgelegt.

Als nächstes musste sich Ralf Baumann darum kümmern, dass die Rechnung bezahlt würde. Er überwachte die Fälligkeiten unter etwaiger Ausnutzung der Skontofrist, schrieb die Banküberweisung aus und legte diese der Geschäftsleitung zur Unterschrift vor. Unterschrieben wurde der Überweisungsträger vom Leiter des Rechnungswesens, einem Prokuristen und dem Geschäftsführer. In der Unterschriftsmappe musste zu den Überweisungsträgern die jeweilige Originalrechnung beigelegt werden, so dass die Zeichnungsberechtigten nochmals die sachliche Richtigkeit prüfen konnten. Der Prokurist unterschrieb als Erster rechts und legte damit fest, welche Rechnungen im Rahmen der jeweils vorhandenen Liquidität bezahlt werden konnten. Er hatte den Überblick über sämtliche Bankkonten, die zu erwartenden Geldeingänge und fälligen Verpflichtungen. Ein Mitarbeiter aus der Finanzbuchhaltung legte ihm täglich einen Liquiditätsstatus vor, der mit dem monatlichen Cashflow-Budget laufend abgestimmt wurde.

Ralf Baumann hatte zwar keinen sehr verantwortungsvollen Posten, aber doch in seinem Bereich einen vollständigen Überblick über den Geldabfluss aus dem Unternehmen an Dritte. Es wird sich zeigen, was er daraus machte.

Er verfolgte die Entwicklung sehr aufmerksam. Da er einen guten Draht zum kommissarischen Geschäftsführer hatte, war er über die Ertragslage, das heißt die laufenden hohen Verluste, informiert. Er wusste, so konnte das nicht weitergehen. Wahrscheinlich würden sie alle entlassen werden und die Treuhandanstalt würde den Betrieb liquidieren.

Als vor sechs Monaten der erste Privatisierungsinteressent von der Treuhandanstalt geschickt wurde, war ihm ziemlich schnell klar, dass dieser Herr ein Hochstapler war. Er führte große Reden, hatte von Bilanzen keine Ahnung und seine Ideen, was die Absatzmärkte betraf, hatten weder Hand noch Fuß. Auch der zweite so genannte Privatisierer wurde von der Treuhandanstalt schnell wieder weggeschickt.

Nun war also Herr Egger gekommen und hatte seit Wochen den Betrieb in allen Ecken durchleuchtet. Wenn er auch als Berater auftrat, so wurde es Ralf Baumann schnell klar, dass dieser Mann die Übernahme des Betriebs im Auge hatte. Und er konnte es Herrn Egger nicht verdenken, dass ihn die Chance, ein Großunternehmen in seinen Besitz zu bringen und über immense Fördermittel zu verfügen, außerordentlich reizte. Jeder denkende Mensch musste schnell erkennen, dass sich hier eine Lebenschance auftat, eine Chance, viel Geld in die Hand zu bekommen.

Die Treuhandanstalt hatte die Schraubenwerke Gera also in eine GmbH umgewandelt, deren alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin sie war. Sie wollte das Unternehmen natürlich nicht auf die Dauer selbst führen. Das konnte sie auch gar nicht, dazu fehlte ihr das Personal mit den nötigen unternehmerischen Qualifikationen. Sie war gewissermaßen eine Holding mit tausenden von Tochtergesellschaften. Alle diese Gesellschaften waren ohne aktives Geschäft. Alle mussten saniert werden. Und es war für die Treuhandanstalt sehr schwierig, „auf die Schnelle“ einen geeigneten Bewerber für die Übernahme zu finden. Ralf Baumann war neugierig, wie es jetzt weitergehen würde.

Der Buchhalter

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