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Freundeskreis

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Sie trafen sich jede Woche, samstags um 19 Uhr, im Lokal des Fußball-Clubs. Zu DDR -Zeiten hieß der Club „BSG Turbine Gera" und gehörte der DDR -Liga an. Nach der Wende änderte sich der Name mehrmals und gehörte schließlich ab 1990 der Landesliga Thüringen als BSG Gera an.

Ralf Baumann hatte in seinen jungen Jahren begeistert und mit Erfolg in der Juniorenmannschaft gespielt. Auch in der Studienzeit an der Uni Leipzig hatte er in der Universitätsmannschaft mitgespielt. Als jedoch die Examenszeit heranrückte, hörte er mit dem aktiven Sport auf, da er sich nicht verzetteln wollte. Sein Studienfach "Rechnungsführung und Statistik" beanspruchte seine ganze Kraft. Er war kein Überflieger, sondern musste mit Fleiß und Ausdauer hart arbeiten um die jeweiligen Semesterabschlüsse und Tests zu schaffen. Jetzt war er nur noch passives, aber treues und begeistertes Mitglied seines Sportvereins. Seine Passivität ging allerdings nicht so weit, dass er überhaupt keinen Sport mehr trieb. Vielmehr traf er sich mit seinen Freunden regelmäßig zum Jogging und Volleyball und hatte erst vor kurzem, als er 50 geworden war, das Deutsche Sportabzeichen erworben.

An dem runden Tisch saßen die acht Freunde und tranken Bier. Vorher hatten sie eine Kleinigkeit zu Abend gegessen, Ralf Baumann hatte sich eine Thüringer Rostbratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpüree genehmigt. Das war ein deftiger Genuss. Die „Thüringer Röster“ unterschieden sich von allen anderen Bratwürsten im Heiligen Römischen Reich durch ihren ganz speziellen Geschmack, der hauptsächlich von den Gewürzen Majoran und Kümmel bestimmt war. Bei jedem Stück, das er sich in den Mund schob bedauerte er die übrige Welt, die nichts von diesem herrlichen Geschmack wusste. Jetzt unterhielten Sie sich über das nächste Spiel am kommenden Sonntag und über die Chancen, die die erste Mannschaft beim Spiel gegen Hildburghausen hatte.

Neben ihm saß sein bester Freund Gerd. Dessen Frau, Gisela, war seit langer Zeit eine Busenfreundin seiner Frau Erika. Die beiden hingen als Mädchen ständig zusammen. Sie hatten sich in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) kennengelernt und waren längere Zeit in derselben Jugendbrigade. Später waren sie dann gemeinsam in die „Gesellschaft für Sport und Technik“ eingetreten, weil sie sich beide für Bogenschießen interessierten. Dort hatten sie ihre späteren Männer kennengelernt.

Sein Freund Gerd, der wie immer das große Wort führte, war wieder mal in Rage geraten. „Was meint ihr denn, warum die Fußballvereine im Westen besser sind als unsere Vereine im Osten? Wenn wir mal ein Freundschaftsspiel gegen einen Verein aus Westdeutschland machen, verlieren wir doch immer haushoch. Und so geht es allen ostdeutschen Vereinen. Das liegt doch nur da dran, dass die Westdeutschen sich die besten Spieler aus aller Welt zusammenkaufen. Das ist doch kein Sport mehr. Nur das Geld regiert den Fußball. Ob Du in die Bundesliga oder irgendeine andere Liga schaust, Du findest in den Vereinen nur noch Ausländer: Italiener, Spanier, Jugoslawen, Schwarzafrikaner und so weiter. Die werden für viel Geld eingekauft und bekommen phantastische Gehälter. Ich finde, das ist eine Schweinerei und hat mit Sport, so wie wir ihn kennen, nichts mehr zu tun. Da kommen die reichen Kapitalisten, geben dem Verein für den Spielereinkauf Millionen und lassen sich zum Präsidenten wählen. Das ist im Westen beim Sport wie in der Politik. Nur das Geld zählt. Wer die meiste Kohle hat, gewinnt. Mir gefällt das nicht."

„Ja, Gerd“, rief Klaus von der anderen Seite des Tisches, „mir gefällt das auch nicht. Aber wir wollten ja den Kapitalismus, weil wir alle vom Sozialismus die Nase gestrichen voll hatten. Wir haben A gesagt, jetzt müssen wir auch B sagen. Was meinst Du, was aus unseren Vereinen wird, wenn wir uns nicht anpassen und bei dem Rennen mitmachen. Du siehst, unsere Spitzensportler haben zum großen Teil schon rüber gemacht. Sie verdienen in Westdeutschland, Italien oder England schon enormes Geld. Wir verlieren alle guten Leute und werden in der Bedeutungslosigkeit versinken. Ich kann es den Spitzenleuten nicht einmal übelnehmen, dass sie sich an den Meistbietenden verkaufen."

„Das System funktioniert nun mal über das Geld“, meinte Helmut, der inzwischen ein gut verdienender Versicherungsagent geworden war. „Ihr müsst doch zugeben, dass es Spaß macht, ein Bundesligaspiel oder ein Länderspiel mit lauter Spitzenspielern im Fernsehen anzuschauen. Je mehr Spitzenspieler ein Verein einkaufen kann, umso mehr kann er in der Tabelle nach vorn kommen, umso mehr Zuschauer wird er auf der Tribüne haben und umso mehr Geld bekommt er von den Fernsehanstalten für die Übertragungsrechte. Der Verein verdient, das Fernsehen verdient. Viele Zeitungen werden nur wegen ihres Sportteils gekauft. Früher durften wir Westfernsehen nicht gucken, wir wurden bestraft, wenn wir erwischt wurden. Heute können wir weltweit alles sehen und ihr müsst zugeben, dass es schöner ist, Arsenal London gegen Real Madrid spielen zu sehen, als früher zwei Mannschaften aus der DDR-Liga. Mir ist es ganz egal, wie viel ein Transfer gekostet hat und wie viel ein Mittelstürmer verdient. Ich will erstklassigen Fußball sehen.

„Du hast gut reden", warf ein anderer Sportkamerad gutmütig ein. „Du verkaufst den Leuten Versicherungen, die sie nicht brauchen und lebst ganz gut dabei. Früher brauchten wir keine Versicherungen von großen Konzernen zu kaufen. Wir alle waren bestens abgesichert durch den sozialistischen Staat und die Volksgemeinschaft. Ein Arztbesuch kostete kaum etwas, der Krankenhausaufenthalt war kostenlos und für unser Alter war auch gesorgt. Lebensmittel, Kleidung, Strom und Heizung kosteten fast nichts und wir hatten von Allem reichlich."

„Ja, aber wie wurde man von den Ärzten behandelt" erscholl ein Zwischenruf, „dass man nicht stramm stehen musste, war alles."

Ein Anderer rief, „aber die Ärzte verdienten kaum mehr als ein Hilfsarbeiter in der Fabrik oder ein Bauer in der LPG. Das war doch gerecht."

Ralf Baumann sagte, „Leute, Ihr habt ja alle Recht. Die Sache ist kompliziert, und wir werden noch oft darüber nachdenken und diskutieren müssen. Aber Eines wissen wir doch alle: der Sozialismus funktionierte nur mit Zwang und Kontrolle. Und das auch nur eine Weile. Deshalb wollten wir ja alle raus aus dem System. Und jetzt müssen wir damit fertig werden."

Sie saßen noch eine Stunde zusammen bei Small Talk und Witze erzählen. Ralf Baumann unterhielt sich, angeregt durch die vorhergehende Diskussion, mit seinem Freund Gerd über die „alten Zeiten" in der Gesellschaft für Sport und Technik. Sie waren sich darüber einig, dass diese Organisation eine vormilitärische Einrichtung war, mit ihren Einrichtungen für Fliegen, Seefahrt, Motorfahrzeuge, Funkmeldewesen etc., ebenso wie die Hitlerjugend im Dritten Reich mit ihrer Flieger-HJ, Marine-HJ, Reiter- und Motorrad-HJ. Die DDR-Führung hatte nun mal die fixe Idee, dass die Bundesrepublik Deutschland, der Klassenfeind, nur darauf wartete, wann der richtige Moment für einen militärischen Überfall auf die friedliebende DDR gekommen war. Im Einklang mit „den Freunden", der Sowjetunion, musste man ständig aufrüsten und die Bevölkerung auf den entscheidenden Kampf vorbereiten. Schließlich meinte Gerd versöhnlich, „immerhin haben wir dort unsere Frauen kennengelernt."

Als das letzte Bierglas geleert war, klopfte Ralf Baumann mit den Knöcheln auf den Tisch und verabschiedete sich von der Runde. Sein Freund, Gerd, ging mit ihm.

Der war früher bei der Volkspolizei gewesen Nach der Wende wurden Kommissionen gebildet, die die einzelnen Beamten der „Vopo“ hinsichtlich ihrer DDR-Vergangenheit überprüften. Wenn sich keine negativen Erkenntnisse ergaben, wurde man in die Städtische-, Landes- oder Bundespolizei übernommen. Sein Freund war jetzt bei der städtischen Verkehrspolizei. Er hatte Glück gehabt, weil er als Volkspolizist nur eine untergeordnete Position hatte und niemals gezwungen war, an Maßnahmen gegen „Volksfeinde", Republikflüchtlinge oder Ähnlichem teilzunehmen. Wenn seine Einheit in der Nähe der „Mauer"oder der DDR - Grenze stationiert gewesen wäre, hätte er womöglich auf flüchtende Menschen schießen müssen. Was hätte er machen können, es gab schließlich den Schießbefehl. Die DDR war nach den Jahren ständig zunehmender "Republikflucht" mit Hilfe der Grenzbefestigungen, durch Stacheldraht und elektrische Zäune hermetisch abgeschlossen worden. Niemand sollte die DDR, das Arbeiter-und Bauernparadies, verlassen. Wenn man die Grenze gewaltsam überqueren wollte, konnte man bei dem Versuch erschossen werden. Bei erfolgreicher Republikflucht wurden die zurück-gebliebenen Angehörigen durch die Stasi schikaniert und nach dem Muster der Sippenhaft bestraft.

Nach der Wende musste der Staat, wohl oder übel alle Menschen in der ehemaligen DDR daraufhin überprüfen, ob sie das damalige Regime aktiv unterstützt und dabei anderen Menschen geschadet hatten. Die Problematik bestand darin, dass sich die meisten Verdächtigen auf die Gesetze der DDR berufen konnten oder auf einen Befehlsnotstand. Welche Maßstäbe sollte man anlegen?

Zunächst wurden einmal alle mutmaßlichen Nutznießer in Regierungsämtern, bei der Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee, an den Hochschulen und öffentlichen Verwal-tungen suspendiert. Sie befanden sich dann in der sogenannten "Warteschleife" und mussten solange ohne Beschäftigung warten, bis sie überprüft worden waren. Hohe Funktionäre oder Stasileute hatten natürlich keine Chance auf Wiederbeschäftigung, sie warteten auf ihren Prozess. Die "kleinen Leute" wurden relativ schnell wieder eingestellt, da man sie zum Wiederaufbau einer funktionierenden Verwaltung einfach brauchte. Wie sollte dieses neue Staatsgebiet mit 17 Millionen Menschen funktionieren, wenn man die tüchtigen Leute alle ausschloss?

So blieb Ralf Baumann in seinem Betrieb, wenn auch nicht mehr als stellvertretender Hauptbuchhalter und sein Freund Gerd blieb bei der Polizei.

Da die Nacht zwar frisch, aber nicht kalt war, ließen sie sich Zeit mit dem Nachhause gehen und sprachen noch über Dies und Das. Gerd meinte, dass ihr Freund Martin das einzig Richtige gemacht habe. Er war als gelernter Bäckermeister in einer Großbäckerei tätig gewesen. Jetzt hatte er sich selbständig gemacht. Der Geschäftsführer der Großbäckerei, die in eine GmbH umgewandelt worden war, hatte ihm einen Laden in einem großen Wohngebiet vermietet, er hatte einen Gesellen, einen ehemaligen Arbeitskollegen, der entlassen worden war, sowie eine Verkäuferin, eine Freundin seiner Frau, eingestellt und der Laden lief gut.

Aber da war auch noch Dieter, der Rechnungsführer und Kassierer des Sportvereins. Jeder wusste, dass Dieter ein „IM“, ein informeller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, der Stasi, gewesen war. Sein Sohn war noch vor dem Mauerbau 1961 aus der DDR ausgereist und hatte sich in Frankfurt (Main) niedergelassen. Er war ein guter Facharbeiter und arbeitete als Dreher in der Schraubenfabrik. Sein Sohn war also "rüber gemacht", wie es im Volksmund hieß. Deshalb wurde Dieter beschuldigt, "Westkontakte" zu haben, etwas sehr Schlimmes in den Augen der Stasi. Sein Sohn hielt sich beim Klassenfeind auf, in der revanchistischen BRD. Eines Abends wurde er in seiner Stammkneipe von einem Herrn im Ledermantel angesprochen. Der sagte ihm, man wisse an oberster Stelle, dass er Kontakte zum Westen habe. Es könne nicht geduldet werden, dass Leute wie er an leitender Stelle in einem Sportverein tätig seien und auch die Tätigkeit seiner Frau beim Ordnungsamt der Stadt sei unhaltbar. Ob seine Tochter wohl auch demnächst in den Westen abhauen würde? Sie habe ja schließlich durch ihr Studium dem Arbeiter-und Bauernstaat lange genug auf der Tasche gelegen. Der Herr mit den korrekten Manieren hatte sich dann verabschiedet, ihn aber für den nächsten Morgen in die Stasihauptstelle vorgeladen. Dort hatte man ihm nahegelegt, sich durch seine Unterschrift als IM zu verpflichten und regelmäßig Berichte über seine Vereinskollegen an die Stasi zu übermitteln. Jeder im Verein wusste, wie gesagt, von Dieters Verbindungen zur Stasi und nahm sich entsprechend in Acht. Wenn Dieter aufkreuzte, verstummten die Gespräche oder das Thema wurde gewechselt. Allerdings war es selten genug, dass man über einen Stasispitzel Bescheid wusste. Die Methoden dieser "Horch und Guck"-Behörde waren im Allgemeinen sehr subtil und man wusste nicht, wer im Bekanntenkreis vielleicht ein Spitzel war, der es an die Stasi meldete, wenn man etwa abfällig von der Partei oder der Staatsführung sprach oder wenn jemand Westkontakte hatte. Selbst in den Familien gab es Spitzel und auch Kinder wurden in der FDJ dazu angehalten, innerhalb ihrer Familien wachsam zu sein und auf Staatsfeinde aufzupassen.

Jetzt war das ganze System der DDR zusammengebrochen. Der "Klassenfeind" hatte die Regierung übernommen, überall waren jetzt "Demokratie" und "Freiheit" ausgebrochen. Sie lebten jetzt in einem Rechtsstaat. Was sollte aus einem Mann wie Dieter werden? War er denn wirklich schuldig? Er war doch erpresst worden und hatte sich nur für seine Familie anwerben lassen. Man sprach jetzt schon von einer neuen großen Behörde, die alle beschlagnahmten Stasiunterlagen auswerten sollte. In den Tagen der Wende hatten ja die Menschen an vielen Orten die Stasizentralen gestürmt und große Mengen an Akten und Unterlagen sichergestellt. Alles konnten die Stasimitarbeiter nicht mehr schreddern und selbst zerschnippelte Akten konnten wieder zusammengesetzt werden. Die neue wiedervereinigte Bundesrepublik war überwiegend der Meinung, dass die Stasivergangenheit aufgearbeitet werden müsste. Einige Stimmen meinten, dass man die schlimme Vergangenheit zu Gunsten eines Neuanfangs vergessen sollte. Aber diese Meinung konnte sich nicht durchsetzen. Zu schlimm waren die Wunden, die der Unrechtsstaat DDR vielen Mitbürgern zugefügt hatte und dieser Staat hatte zu viele willige Helfer, deren Schuld offengelegt werden musste.

Ralf meinte: „ich möchte wissen, ob einer meiner Freunde oder Arbeitskollegen mich an die Stasi verraten hat. Ich möchte auch den Umfang dieser Spitzelei kennen lernen und ob unser Staat wirklich, wie es heute in den Medien heißt, durch und durch ein Spitzelstaat war. Ich möchte auch wissen, ob die Leute an der Staatsspitze und an der Parteispitze die Idee des Sozialismus wirklich nur benutzt haben, um uns dumm zu halten und ob sie in Wirklichkeit nur der bolschewistischen Idee der Weltrevolution, also dem Weltmachtstreben Russlands gedient haben. Ich möchte auch wissen, ob sie selbst in Saus und Braus in diesem abgeschirmten Dorf mit Namen Wandlitz mit westlichem Luxus, den sie sich mit Devisen beschafft haben, ein Luxusleben geführt haben, während sie uns den genügsamen Sozialismus gepredigt haben ,uns erzählt haben, dass wir für eine bessere Welt auf vieles verzichten müssten."

„Ja, ich möchte das alles auch wissen", sagte Gerd, „ich möchte es wissen, obwohl damit für mich eine Welt zusammenbricht. Alles zusammenbricht, wofür wir seit unserer Kindheit gelebt haben, woran wir geglaubt haben. Was waren das doch für schöne Zeiten, als wir an eine bessere Welt geglaubt hatten, die durch den Sozialismus, durch unsere Anstrengungen entstehen würde. Was war das für ein schönes Gefühl, in dem Bewusstsein zu leben, dass wir auf der richtigen Seite stünden. Wir verzichteten gerne auf die sogenannten westlichen Freiheiten und den Überfluss. Wir wussten ja, dass das Alles mit dem Blut der unterdrückten Massen erkauft war, dass im Kapitalismus nur die reichen Ausbeuter gut lebten, während die Arbeiter-und Bauernklasse ein miserables Leben führen musste. Wir aber würden ihnen durch unseren Kampf die Freiheit vom Joch des Kapitalismus bringen.

Heute wird uns gesagt, dass der Sozialismus in Wahrheit ein Staatskapitalismus ist. Die Parteifunktionäre sind die Kapitalisten dieses Systems und ihre Hauptsorge ist es, das Volk immer dumm zu halten, dass es den Betrug an seinem Idealismus nicht merkt.

Und jetzt ist das ganze sozialistische System in sich zusammengebrochen, einfach deshalb, weil die sozialistischen Staaten pleite sind. Es ließ sich nicht mehr länger verheimlichen, dass die von den kapitalistischen Vorgängern in der Revolution übernommenen Produktionsmittel aufgebraucht sind. Der bescheidene Wohlstand in den sozialistischen Staaten war zum größten Teil nur geborgt. Die eigene Leistung war nicht ausreichend, den Verbrauch an Produktionsmitteln zu ersetzen und die übernommenen Fabriken und Maschinen zu erneuern. Die Produktivität im Sozialismus ist zu gering, weil der kapitalistische Anreiz für jeden Einzelnen fehlt, durch seine Leistung für sich etwas zu schaffen, für sich, nicht für die Gemeinschaft .Der Mensch ist so gebaut, da helfen die schönsten Parolen vom "Helden der Arbeit" und von der Planübererfüllung nichts. In der kapitalistischen Wirtschaft arbeitet jeder für sich selbst, trägt aber dadurch automatisch dazu bei, dass das „Bruttosozialprodukt" ein Maximum erreicht. Du siehst es ja an Amerika. Die USA sind die reichste Nation der Welt und durch ihren Reichtum allen sozialistischen Staaten auch militärisch überlegen. Gleichzeitig sind sie die kapitalistischste Gesellschaft. Ich weiß, diese Gesellschaft ist eine Ellenbogengesellschaft, aber ich bin mir sicher, dass der Durchschnittsamerikaner wesentlich glücklicher durchs Leben geht, als die Genossen im Sozialismus."

„ Mein lieber Mann“, meinte Ralf Baumann, „Du bist ja der reinste Philosoph. Du weißt, wie es in der Welt zugeht und machst Dir keine Illusionen. Kannst Du mir auch sagen, was das Alles für uns bedeutet? Was bedeutet das für mich? Du hast Glück, Du bist bei der Polizei gut aufgehoben und brauchst wahrscheinlich keine Angst zu haben, dass Du demnächst arbeitslos wirst. Bei mir ist das anders. Mein Betrieb wird demnächst privatisiert. Ein reicher Schweizer wird sich das ganze Unternehmen unter den Nagel reißen und ich bin sicher, dass eine ganze Menge Kollegen und Kolleginnen auf die Straße fliegen, "freisetzen" nennt man das heute."

„Nach meiner Philosophie, wie Du das nennst, musst Du versuchen, Dich in dem Unternehmen unentbehrlich zu machen und gute Kontakte zu dem neuen Boss anknüpfen. Ich weiß, dass Du ein Fachmann auf dem Gebiet der Buchhaltung bist. Solche Leute wie Dich wird auch der neue Eigentümer brauchen. Halte Augen und Ohren offen!"

Das hatte Ralf Baumann ohnehin vor. Er wusste, dass er sich im kapitalistischen Haifischbecken behaupten musste. Sie waren inzwischen vor dem Plattenbau angekommen, in dem er wohnte, sein Freund wohnte ganz in der Nähe. Sie wünschten sich „Gute Nacht" und schüttelten sich die Hand.

Der Buchhalter

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