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Erste Kontakte mit Wessis
ОглавлениеRalf Baumann erinnerte sich noch deutlich an seine ersten Kontakte mit den bis dahin unbekannten Wessis. Am 9.11.1989 war die Mauer gefallen. Auch er hatte das Wunder miterlebt. Man konnte die Staatsgrenze der DDR Richtung Westen passieren, ohne erschossen zu werden.
Die Volkspolizisten an der Grenze wusste nicht so recht, wie sie sich benehmen sollten, verlegen standen sie in kleinen Gruppen zusammen und sahen zu, wie die Bevölkerung des Arbeiter-und Bauernstaates im Trabi oder Wartburg winkend an ihnen vorbeifuhr und nach einigen Metern auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von dem Klassenfeind jubelnd begrüßt wurde.
An einem der nächsten Tage war er mit seiner Frau und den Kindern nach Coburg gefahren und hatte dort sein Begrüssungsgeld, harte D-Mark, in Empfang genommen. Die Kinder bekamen ein Eis, die Frau ein Päckchen Kaffee und er kaufte sich ein paar westdeutsche Zeitschriften. Drei Kilo Bananen wurden mit nach Gera genommen.
In den nächsten Wochen kamen dann die Westdeutschen in ihren schicken Wagen, aßen in den Restaurants zu Mittag, tranken viel Bier und kauften kiloweise Zervelatwurst, die sie mitnahmen. Sie bezahlten mit Mark der DDR, die sie 20 zu eins gegen ihre DM getauscht hatten. Man konnte es ihnen nicht übel nehmen, dass sie die Situation ausnutzten. Andererseits war es für die Ossis, die Menschen aus der DDR, schon ein komisches Gefühl, all die wohlhabenden und gutgekleideten Leute um sich zu sehen, wenn man selbst aus dem armen Teil Deutschlands stammte. Sie waren offensichtlich die armen Verwandten. Ja, sie waren durch den Sozialismus betrogen worden. Was hätte er aus seinem Leben machen können, wenn er im Westen gelebt hätte. Er hatte ja die DDR in ihrer 40-jährigen Laufzeit miterlebt. Am Ende des 2. Weltkrieges war er 5 Jahre alt gewesen und er kannte nichts Anderes als die sozialistische Gesellschaft. Schon als Kind wurde ihm in der Schule und in der FDJ eingeredet, dass der Westen dekadent ist, dass die armen Menschen dort ausgebeutet würden und dass der scheinbare Wohlstand des Westens auf Sand gebaut sei. Der Sozialismus würde bald die vom Kapitalismus geknechteten Völker befreien. Mit diesem Bewusstsein hatte er die 40 Jahre in der DDR mit ihrer Mangelwirtschaft ertragen.
Jetzt konnten sie die „unterdrückten“ Menschen mit eigenen Augen sehen. Die Wiedervereinigung hatte ihnen die Augen geöffnet und jetzt mussten sie zusehen, wie sie mit der neuen Situation fertig würden. Jeder für sich.
Die Schraubenfabrik hatte produziert und andere DDR-Betriebe sowie Betriebe in den anderen sozialistischen Bruderländern beliefert, die ihrerseits produzierten und ihre Produkte mit den Schrauben der Schraubenfabrik Gera zusammen schraubten.
Als dann am 1.7.1990 die DM kam, wurde sehr bald offenbar, dass die Schraubenfabrik Gera auf ihren Schrauben sitzen bleiben würde, ebenso wie die sozialistischen Freunde auf ihren zusammengeschraubten Produkten. Kein Mensch im Westen wollte ihre Produkte für gute DM kaufen und die Absatzmärkte im Ostblock waren ebenfalls zusammen-gebrochen. Die volkseigenen Betriebe blieben also auf ihren Produkten sitzen. Die im Umtausch 2: 1 erworbenen DM-Guthaben allerdings fanden reißenden Absatz. Lieferanten aus dem Westen gaben sich die Türklinke in die Hand. Die ehemaligen volkseigenen Betriebe hatten Geld, das begriffen die Wessis sehr schnell, und das Geld saß locker. Durch die günstige Umtauschrate, die von der Bundesregierung in der ersten Begeisterung festgesetzt worden war, schwammen die Betriebe gewissermaßen in DM. Sie konnten es kaum glauben, was ihnen plötzlich alles angeboten wurde. Die kommissarischen Geschäftsführer kauften für den Betrieb freudig erregt viele Dinge, die sie bisher nicht kaufen konnten. Auch Berater kamen aus dem Westen und erzählten ihnen vom „Break-even-point“, von Marktforschung und Marktanalyse, von “learning by doing“, vom Niederstwertprinzip und von den Geheimnissen der Rückstellungsbildung. Begeistert erteilten die Geschäftsführer Aufträge an Unternehmensberater und Wirtschaftsprüfer, damit ihr Betrieb möglichst bald in der westlichen Welt konkurrenzfähig würde. Die Unternehmensberater erstellten Unternehmenskonzepte und fertigten Gutachten, die Wirtschaftsprüfer halfen bei der Erstellung der DM- Eröffnungsbilanz und erteilten dann ihren Bestätigungsvermerk. Ralf Baumann interessierte sich für alles, was mit der Marktwirtschaft zusammenhing. Er saugte das neue Wissen begierig auf. Die Wirtschaft und der Staat der DDR hatten Schiffbruch erlitten, ebenso wie die Systeme der anderen sozialistischen Staaten. Die Wirtschaft der westlichen Welt, insbesondere die der Bundesrepublik, strotzte vor Gesundheit. Also musste alles was er bisher gelernt hatte, falsch und alles was die westlichen Berater an Know-how mitbrachten, richtig sein. Es gab fast täglich Schulungen im Betrieb mit einem „Besserwessi" auf dem Podium und eifrig zuhörenden und mitschreibenden „Ossis“ als Kursteilnehmer.
Ralf Baumann ließ sich von einem der Kursleiter, einem Wirtschaftsprüfer aus Frankfurt am Main, Fachbücher über Bilanzierung und Kostenrechnung mitbringen, die er in jeder freien Stunde studierte.
In den ersten Monaten nach Einführung der D-Mark wurde der Betrieb praktisch durch die Treuhandanstalt geleitet. Das zuständige Direktorat in Berlin hatte den bisherigen Betriebsdirektor zum kommissarischen Geschäftsführer und den bisherigen kaufmännischen Leiter zum Hauptbuchhalter ernannt. Dann kamen die Experten der Treuhandanstalt und prüften, ob der Betrieb sanierungsfähig sei. Die klugen jungen Leute kamen aus den Bereichen Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfung, sie verwendeten Formblätter für Planungsrechnungen und betriebswirtschaftliche Kennziffern.
Der Geschäftsführer beauftragte Ralf Baumann, den Prüfern für Rückfragen zur Verfügung zu stehen. Nachdem sie ihre Arbeiten vor Ort beendet hatten und wieder nach Berlin zurückgekehrt waren, musste Ralf Baumann mehrfach nach Berlin fahren, um ihnen vor der endgültigen Berichtsabfassung noch zu weiteren Fragen Auskünfte zu erteilen.
Es war eine aufregende Zeit. Die Tätigkeit der Berliner Prüfer hatte sich im Betrieb herumgesprochen und alle warteten auf das Urteil. Sollte der Betrieb als nicht sanierungsfähig eingestuft werden, so folgte unmittelbar die Liquidation. Das ging formlos, da das Unternehmen keine Rechtsform nach deutschem Handelsrecht hatte. Der Betrieb wurde einfach still gelegt, alle Beschäftigten wurden entlassen.
Sollte der Betrieb nach Meinung der Treuhandanstalt sanierungsfähig sein, dann wurde der Betrieb in eine GmbH umgewandelt und es begann die Suche nach einem „Privatisierer“. Das waren Westdeutsche oder Ausländer, die sich bei der Treuhandanstalt als Interessenten gemeldet hatten. Sie bekamen ein fünfbändiges Kompendium mit der Kurzbeschreibung und verschiedenen Fotos aller zur Privatisierung anstehenden Betriebe ausgehändigt und konnten sich einen bestimmten Betrieb aussuchen, den sie gerne übernehmen wollten. Anschließend mussten sie ein Unternehmenskonzept für die nächsten 5 Jahre vorlegen. Dieses Konzept wurde durch die Treuhandanstalt auf Plausibilität geprüft. Dann begannen die Verhandlungen mit dem Privatisierer über die notwendigen Fördermittel.
Ralf Baumann beobachtete alle Vorgänge im Zusammenhang mit der Privatisierungsvorbereitung sehr sorgfältig und wunderte sich, mit welcher Eile die schwerwiegendsten Entscheidungen für die einzelnen Unternehmen getroffen wurden. Für die Unternehmen und ihre Beschäftigten ging es ums Überleben. Die Treuhand stand unter enormem Zeitdruck. Sie musste die Entscheidung, ob ein Unternehmen sanierungsfähig ist oder nicht, für 12.000 Betriebe innerhalb von einem bis zwei Jahren treffen. Ihm wurde klar, dass die Entscheidungen über die Sanierungsfähigkeit, die Auswahl des Privatisierers und die Genehmigung der Fördermittel nicht mit der notwendigen Sorgfalt getroffen werden könnten. Dann dachte er weiter. Wie sollte es unter diesen Bedingungen gelingen, zu kontrollieren, wie die gewährten Fördermittel verwendet würden? Zu dieser Frage sollte er bald Anschauungsunterricht erhalten.
Die Leute von der Treuhandanstalt kamen häufig. Sie sprachen mit dem kommissarischen Geschäftsführer und jedes Mal, wenn sie wieder gingen, waren neue Entlassungen beschlossen worden. Ralf Baumann wurde fast immer zu den Beratungen hinzugezogen. Er kümmerte sich um die Liquidität des Betriebes und verhandelte mit den Abgesandten der Treuhand über die laufenden Zuschüsse, die nötig waren, um das Unternehmen am Leben zu erhalten. Inzwischen war die Belegschaft auf 800 Kollegen und Kolleginnen geschrumpft. Die Produktion war ganz zum Erliegen gekommen und die verbliebene Belegschaft wurde mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Die Treuhand zahlte zwar die laufenden Kosten, aber die Stimmung unter den Leuten wurde von Tag zu Tag schlechter.
Da tauchte eines Tages eine Delegation von Westdeutschen auf, begleitet von einem Abteilungsleiter der Treuhand, die eine Betriebsbesichtigung vornahmen. Der Geschäftsführer und der technische Betriebsleiter führten sie zwei Stunden durch alle Bereiche des Unternehmens.
Anschließend setzte man sich im großen Besprechungsraum zusammen. Auch Ralf Baumann und der Hauptbuchhalter wurden dazu gerufen. Es stellte sich heraus, dass die Leute von einem großen westdeutschen Automobilzulieferer kamen. Das Team bestand aus einem Ingenieur, einem Architekten und einem Unternehmensberater sowie drei Assistenten. Der Herr von der Treuhand erläuterte zunächst den Zweck des Besuches. Die Konzernleitung des westdeutschen Unternehmens wolle sich ein Bild von dem Zustand der Schraubenfabrik machen und dann entscheiden, ob sie in Verhandlungen mit der Treuhandanstalt treten sollte wegen einer etwaigen Übernahme des Betriebes. Der Konzern würde einen großen Teil der Automobilindustrie in der Welt mit Teilen beliefern und überlege, ob es sinnvoll sei, die Lieferpalette um Schrauben und anderes Befestigungsmaterial zu ergänzen. Dann übergab er dem Ingenieur das Wort.
„Ja, meine Damen und Herren, ich will es frei heraus sagen, die Führung durch den Betrieb hat bei mir einen Schock hinterlassen und ich kann hier auch für meinen Kollegen sprechen, der sich den Zustand der Baulichkeiten angesehen hat. Natürlich handelt es sich um einen allerersten, oberflächlichen Eindruck. Sollte sich die Konzernleitung zu einer Aufnahme von konkreten Verhandlungen entschließen, müssten weitere gründliche Untersuchungen vorgenommen werden. Aber der erste Eindruck ist, wie gesagt, schlicht katastrophal. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Betrieb derartig herunter kommen könnte. Die Gebäude müssten fast alle generalüberholt, wenn nicht abgerissen werden. Der Maschinenpark ist total veraltet und außerdem sehr schlecht gewartet. Die logistische Anordnung der Gebäude und Maschinen entspricht nicht im Entferntesten dem heutigen Stand der Technik. Wir werden uns überlegen, falls die Konzernleitung tatsächlich eine Schraubenfabrik haben will, ob wir nicht den Neubau einer Fabrik auf der grünen Wiese empfehlen sollen.“
Dann ergriff der Architekt das Wort. „ Ich habe mich unterwegs während der Führung mit meinem Kollegen abgestimmt und wir sind nach einer vorläufigen überschläglichen Schätzung übereingekommen, dass der Investitionsbedarf für diesen Betrieb zwischen 100 und 200 Millionen DM liegt. Wir können uns nicht vorstellen, dass die Treuhandanstalt, sprich, die Bundesrepublik Deutschland, bereit ist, eine solche Summe in einen maroden Betrieb zu stecken. Ich muss es wirklich sagen, es ist ein Jammer, dass Ihre Regierung einen Betrieb derart herunterkommen lassen konnte. Wir haben uns das niemals vorstellen können, dass so etwas möglich ist. Ich kenne außer diesem Betrieb keine weiteren Betriebe in der ehemaligen DDR, aber wenn dieser Betrieb typisch ist für den Zustand aller DDR - Betriebe, dann hat die Bundesrepublik wirklich ein Problem.“
Der Abgesandte der Treuhandanstalt fühlte sich jetzt angesprochen und sagte: „Meine Herren, Sie haben mit Allem, was Sie gesagt haben, recht und ich will nichts beschönigen. Wir sind sehr daran interessiert, dass die westdeutsche Industrie sich im Osten engagiert und wir haben durch Beschlüsse der Bundesregierung sehr viel finanziellen Spielraum, ein solches Engagement zu unterstützen. Die von Ihnen genannte Größenordnung schreckt uns nicht. Wir können durchaus einen Betrag von 100 bis 200 Million zum Erhalt von Arbeitsplätzen und zur Schaffung einer neuen industriellen Infrastruktur einsetzen. Sie sollten Ihrer Unternehmensleitung signalisieren, dass sie bei einem Engagement im Osten mit jeglicher Unterstützung rechnen kann.“
Der Unternehmensberater bat den Hauptbuchhalter um Überlassung eines Exemplars der DM-Eröffnungsbilanz und falls vorhanden um eine detaillierte Liste des gesamten Anlagevermögens. Ralf Baumann wies darauf hin, dass sie sich im Unternehmen natürlich auch Gedanken um die notwendigen Investitionen gemacht hätten und dass er den Herren eine Kopie der internen Planungsunterlagen überlassen könne. Dieses Angebot wurde dankend angenommen. Nach einem gemeinsamen Mittagessen in der Werkskantine verließ die Abordnung am Nachmittag das Werk. Der Geschäftsführer meinte, „das war‘s ja wohl.“
Nach einer Woche teilte ihnen die Treuhandanstalt mit, dass die Konzernleitung an einer Übernahme nicht interessiert sei. Die westdeutsche Großindustrie hatte durchweg kein Interesse daran, bei der Privatisierung der ostdeutschen Industrie mitzuwirken. Zu groß waren die Schwierigkeiten. Da half auch nicht der Wink mit den vielen Millionen, die die Treuhandanstalt zur Verfügung stellen wollte. Warum sollten sie sich diese Probleme aufladen? Es waren kühle Rechner, die Leute in den Konzernzentralen, die genau wussten, dass es viele Jahre dauern würde, bis ein solches heruntergekommenes Unternehmen rentabel arbeiten würde. Diese Betriebe hatten ja keinen Absatzmarkt mehr und keiner wusste, wie sich die Arbeitnehmer in den Neuen Bundesländern verhalten würden. Diese waren alle frustriert durch den Zusammenbruch ihrer gewohnten Gesellschaftsordnung und es war anzunehmen, dass sie es nicht gewohnt waren, in den Leistungskategorien eines am Gewinn orientierten Unternehmens zu denken und zu handeln. Mit anderen Worten: ihre Produktivität wäre höchstwahrscheinlich ungenügend.
Im Laufe der nächsten Wochen kamen noch andere Interessenten. Sie schnüffelten überall herum und beschäftigten die Kollegen in den technischen Abteilungen und im kaufmännischen Bereich mit ihren Fragen und Berechnungen tagelang. Aber es kam nichts dabei heraus. Auch die Treuhandanstalt war inzwischen ziemlich frustriert, da sich herausstellte, dass ein Teil der Interessenten nicht ernst zu nehmen war. Es handelte sich um Glücksritter und Geschäftemacher, die allzu offensichtlich nur an den Fördermitteln interessiert waren.