Читать книгу Das Dorf - Gerhard Henkel - Страница 28

Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten

Оглавление

Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft

Neben der Ernährungssicherung nimmt die Landwirtschaft heute zusätzlich eine Reihe ökonomischer und gesellschaftlicher Aufgaben wahr. Landwirte treten immer häufiger als Energieproduzenten auf oder bauen Industriepflanzen an. Oder sie gewinnen mit dem Tourismus oder der Hof-Direkt-Vermarktung ein zweites wirtschaftliches Standbein. Andere setzen auf den ökologischen Landbau oder eine »artgerechte« Tierhaltung. Nicht zuletzt betreibt die Landwirtschaft – auch unterstützt durch staatliche Förderungen – zunehmend Kulturlandschaftspflege und Naturschutz.

Der modernen Landwirtschaft wachsen aus unterschiedlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Gründen neue Aufgaben zu. Auch hat die durch den technischen Fortschritt ausgelöste Überschussproduktion in fast allen Sparten den Druck auf die Landwirtschaft erhöht, alternative Erwerbsmöglichkeiten zu finden. Die zunehmende Verknappung von fossilen Rohstoffen hat dazu beigetragen, dass viele Landwirte heute bereits mit großem Erfolg Energie produzieren und Industriepflanzen anbauen. Durch Nachfrage der Verbraucher, wachsendes Umweltbewusstsein und Impulse der Agrarpolitik wachsen die Anteile der ökologischen bzw. umweltfreundlichen Landwirtschaft – sowohl im Pflanzenbau als auch in der Tierhaltung. Zahlreiche Bauern haben sich im Neben- oder Zuerwerb den Bereichen Freizeit und Tourismus oder der Direktvermarktung ihrer Produkte geöffnet. Durch neue Umwelt- und Kulturziele der Gesellschaft hat die Landwirtschaft zunehmend auch Aufgaben zu erfüllen, die nicht am Markt durch den Verkauf von Produkten honoriert werden. Sie erhält und pflegt beispielsweise verschiedenartige Kulturund Naturlandschaften. Die Landwirtschaft (wie auch die Forstwirtschaft) erbringt damit öffentliche Güter und »Gemeinwohlleistungen«, die nicht nur der Vitalität des ländlichen Raumes, sondern der gesamten Gesellschaft dienen.

Seit dem Aufkommen von »Umwelt«-Themen in den frühen 1970er Jahren begannen auch verstärkte Bemühungen um eine ökologische bzw. alternative Landwirtschaft. Nun wurden die »Grenzen des Wachstums« und die Tücken des Fortschritts diskutiert, die nicht nur Vorteile für Landwirte und Verbraucher, sondern auch eine Reihe von Gefahren und Nachteilen mit sich bringen, die heute zunehmend beachtet werden. Die übermäßige Verwendung von chemischen Pflanzenschutzmitteln hatte vielerorts zu einer Verarmung der Pflanzen- und Tierwelt und zu einer Belastung des Grund- und Oberflächenwassers geführt. Durch staatliche Maßnahmen der Flurneuordnung war die früher meist kleinparzellierte Agrarlandschaft in vielfacher Hinsicht »bereinigt« worden: Topographische Unebenheiten, Feldgehölze, natürliche Bachläufe und Sümpfe waren beseitigt und manche Biotope zerstört worden. Es wurde deutlich, dass großflächige Monokulturen den Bodenhaushalt belasten und die Bodenerosion begünstigen können. Da chemische Eingriffe auch in der (Massen-)Tierhaltung einen breiten Raum einnahmen, gelangten Chemikalien in die Futter- und Nahrungsmittel: Es konnte zu gesundheitlichen Gefährdungen und Belastungen für Tiere und Menschen kommen. Als ein zusätzliches Problem wurde der hohe Energieverbrauch in der modernen Landwirtschaft erkannt.

Zu den Grundsätzen des ökologischen Landbaus gehören die naturnahe Bodenbewirtschaftung, die artgerechte Tierhaltung, der weitgehende Verzicht auf Industriedünger und chemische Pflanzenschutzmittel und die Nutzung des innerbetrieblichen Stoffkreislaufs. Auch die Einsparung von Energie sowie die Nutzung und Erschließung betriebseigener und lokaler Energieressourcen gehören dazu. Der Agrarbetrieb wird als ökologisch-ökonomische Einheit gesehen, er verzichtet auf betriebsfremde Mittel (z.B. Futtermittel oder Dünger) und Höchsterträge und strebt eine gesunde Nahrungskette Boden – Pflanze – Tier – Mensch an. Zum Konzept einer ganzheitlichen alternativen Landwirtschaft gehören auch die dörfliche bzw. dezentrale Weiterverarbeitung und Vermarktung der landwirtschaftlichen Produkte, z.B. durch Biomärkte sowie regionale Zuckerfabriken, Schlachthöfe, Molkereien und Käsereien. Damit wird eine Lösung von den Zwängen und Mechanismen der Nahrungsmittel- und Vermarktungsindustrie angestrebt.


Immer mehr Landwirte vermarkten ihre Produkte selbst in eigenen Hofläden oder auf Märkten in der Stadt. Zusätzlich gibt es auch Bringdienste mit Obst- und Gemüsekisten.

Ausgehend von diesen Grundsätzen stellte Dirk Althaus 1984 das Konzept einer ganzheitlichen »Dorfökologie« für den Natur-, Wirtschafts- und Lebensraum Dorf und seine Gemarkung vor: Durch die intensive Nutzung all seiner lokalen Potenziale (z.B. für die Nahrungsmittel- und Energieproduktion und deren Vermarktung, vorhandene Rohstoffe und wertvolle Kulturlandschaft) würde das Dorf weitgehend ökonomisch selbstständig und unabhängig von Fremdmitteln und externen Kosten sein. Die Idee hat sicherlich für viele Anregungen gesorgt. Hier stellt sich allerdings die generelle Frage, ob das Dorf eher durch eine Beschränkung auf seine Gemarkung oder durch die Nutzung globaler Netzwerke profitieren kann.

Als Nachteile des ökologischen Landbaus werden in der Regel genannt: steigender Arbeitsaufwand, sinkende Erträge (also geringere Arbeitsproduktivität) und damit notwendig höhere Erzeuger- und Marktpreise. Es wird argumentiert, dass die konventionelle Landwirtschaft der alternativen in ökonomischer Hinsicht noch überlegen sei. Allerdings gibt es eine zunehmende Anzahl von Betrieben, die sich mit ihren ökologisch erzeugten Produkten erfolgreich am Markt behaupten, weil auch die Nachfrage nach Bioprodukten steigt. Biobauern produzieren heute in allen Sparten der Landwirtschaft: im Ackerbau und in der Viehhaltung, im Wein-, Obst- und Gemüseanbau. Und es gibt immer neue Angebotsnischen: »Schon 20 Landwirte bauen Bio-Holunder in der Rhön an«, titelte kürzlich die Fuldaer Zeitung.57 Die Holunderbauern bewirtschaften damit bereits eine Fläche von 90 ha und beliefern vor allem den Limohersteller Bionade.

Zahlenmäßig spielt der ökologische Landbau in Deutschland wie auch in anderen Industrieländern erst eine relativ geringe, wenngleich wachsende Rolle. In Deutschland gibt es heute (2017) 29 395 ökologisch bewirtschaftete Betriebe. Das sind gut 11 % aller Betriebe, die rund 8,2 % der landwirtschaftlichen Fläche bewirtschaften. Es gibt jedoch große regionale Unterschiede: Rund 67 % der ökologisch bewirtschafteten Fläche konzentrieren sich auf die Bundesländer Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg.57a Der durchschnittliche Betriebsgewinn der Biobauern kann inzwischen mit den vergleichbaren, konventionell bewirtschafteten Höfen mithalten. Wichtiger als die zahlenmäßige und ökonomische Bedeutung sind gegenwärtig die Denkanstöße, die von der ökologischen Landwirtschaft ausgehen.


Noch vor 100 Jahren nutzten alle Dörfer ihre lokalen Energien. Das Bioenergiedorf Jühnde gehört zu den Pionieren, wieder auf die eigenen Ressourcen zu setzen: Mit Biogas- und Solaranlagen versorgt das Dorf sich selbst mit Wärme und Strom.

Längst unterstützt auch die Agrarpolitik die Ziele einer umweltschonenden, tiergerechten und nachhaltigen Landwirtschaft. Wobei sie es bewusst vermeidet, die konventionelle und die ökologische Landwirtschaft gegeneinander auszuspielen. Inzwischen sind sowohl im Pflanzenbau als auch in der Tierhaltung generell die Auflagen und Kontrollen für eine umwelt- und klimafreundliche Landwirtschaft verschärft worden. Zusätzlich werden in Deutschland besonders umweltfreundliche und nachhaltige Produktionsverfahren durch zahlreiche Umweltprogramme des Bundes und der Länder gefördert: beispielsweise extensive Produktionsweisen im Landbau, wobei weitgehend auf chemischen Pflanzenschutz und Mineraldünger verzichtet wird. Oder auch die Umwandlung von Ackerflächen in extensiv zu nutzendes Grünland. Außerdem werden Maßnahmen des Biotop- und Naturschutzes gefördert, z.B. für Feucht- und Trockenbiotope, oder Maßnahmen zum Erhalt bedrohter Nutztierrassen. Die Ziele und Maß nahmen einer nachhaltigen Landwirtschaft werden heute auch in den einschlägigen Agrarfakultäten der Universitäten behandelt: Die neu gegründete Hochschule Rhein-Waal im niederrheinischen Kleve startete zum Wintersemester 2010/2011 mit einem Bachelorstudiengang »Sustainable Agriculture«, der somit die »nachhaltige Landwirtschaft« zu seinem Kernthemamacht. Einen fakultäts- und länderübergreifenden Masterstudiengang »Sustainable Internatio nal Agriculture« bieten die Universitäten Göttingen und Kassel an.


Das Land bietet auch Raum, alternative Lebensformen zu erproben. Das Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt bemüht sich um einen nachhaltigen Lebensstil.

Ein wichtiges wirtschaftliches Standbein besteht für die moderne Landwirtschaft im Anbau von nach wachsenden Rohstoffen. Dieser erstreckt sich heute bereits auf knapp 2,35 Mio. ha, das sind 20 % der deutschen Ackerfläche.58 Der größte Anteil entfällt hierbei auf Energiepflanzen (wie Holz als Festbrennstoff oder Pflanzen für Biogas) mit ca. 1,7 Mio. ha. Auf etwa 0,3 Mio. ha werden Industriepflanzen angebaut. Dazu gehören z.B. Ölpflanzen wie Raps zur Schmierstoffproduktion oder Faserpflanzen wie Flachs für die Herstellung von Dämmstoffen. Die Energiepflanzen leisten gegenwärtig mit knapp zwei Dritteln den größten Beitrag zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Energien in Deutschland, gefolgt von der Windkraft und der Was serkraft.58a

Die Biomasseenergie wird heute bereits von zahlreichen Dörfern in Deutschland, Österreich oder Dänemark für eine autarke Strom- und Wärmeversorgung genutzt. Zu den Pionieren in Deutschland gehört das niedersächsische Dorf Jühnde bei Göttingen: Jühnde zählt etwa 780 Einwohner und war deutschlandweit das erste Dorf, das seinen Strom- und Wärmebedarf komplett durch nachwachsende Rohstoffe abgedeckt hat. Die erforderliche Biomasse stammt von den lokalen Äckern (vor allem Mais und Triticale, eine Kreuzung aus Roggen und Weizen) und Stallungen (vor allem Gülle), im Mittelpunkt steht eine Biogasanlage mit Blockheizkraftwerk. Der erzeugte Strom wird in das öffentliche Stromnetz eingespeist, während die bei der Verbrennung des Gases entstehende Abwärme mithilfe einer 4 km langen Leitung für die Wärme- und Warmwasserversorgung von bisher 142 Haushalten genutzt wird – das sind 75 % aller Haushalte des Ortes. Die Wärmeversorgung in den Wintermonaten wird zusätzlich durch ein Holzhackschnitzelheizwerk unterstützt. Träger der Bioenergieanlage in Jühnde ist eine 2004 gegründete dörfliche Genossenschaft, in der nicht nur alle Landwirte und Wärmekunden Mitglieder sind, sondern auch die Gemeinde und die Kirche.

Die Pflanzenenergie gibt dem ländlichen Raum möglicherweise wieder eine größere »geopolitische Bedeutung«. Hiervon ist jedenfalls Christian Schwägerl überzeugt: »Mit dem Ruf nach Bioenergie wird es möglich, dem Land seine Bedeutung zurückzugeben und seine Bewohner davon zu befreien, auf subventionierte Einkommen angewiesen zu sein. Wenn die zu Energiewirten verwandelten Bauern für Mobilität, Heizwärme und Chemiegrundstoffe der Gesellschaft mitverantwortlich sind, wird nicht mehr nur von den städtischen Wissenschaftszentren, sondern auch von Bauernhöfen, Kleinkraftwerken und Bioraffinerien auf dem Lande eine Nachfrage nach Arbeitern und qualifizierten Fachkräften wie Bioingenieuren, Betriebswirten und Anlagentechnikern ausgehen. Es besteht die Aussicht auf eine wirtschaftliche Wiederbelebung des Landes.«59 Aus dem Betrieb von Erneuerbare-Energien-Anlagen wurden 2017 insgesamt 16,2 Mrd. Euro an Umsätzen erzielt.59a Die Erlöse und wirtschaftlichen Impulse kamen überwiegend dem Land zugute.


Schüler aus der vierten Klasse aus Lehnin im Kreis Potsdam-Mittelmark lernen einen Bauernhof kennen.

Neben der Produktion von Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen erfüllt die Landwirtschaft eine Reihe von sehr unterschiedlichen, marktorientierten wie ge sellschaftlich gewünschten Dienstleistungen. Eine zusätzliche Einnahmequelle bietet sich für viele landwirtschaftliche Betriebe in den Bereichen Freizeit und Tourismus. Schon seit Jahrzehnten erfolgreich ist die Urlaubsform »Ferien auf dem Bauernhof«, die in Deutschland von rund 10.000 landwirtschaftlichen Betrieben angeboten wird. Etwa 4,5 Millionen Menschen machen jedes Jahr in Deutschland Urlaub auf dem Bauernhof und geben dafür knapp 900 Millionen Euro aus.60 Sie wird vor allem von Familien mit Kindern gern genutzt, weil hier unmittelbare Kontakte zu den Bauernfamilien, den Tieren und den anfallenden Hof- und Feldarbeiten möglich sind. Viele Bauernhöfe, vor allem im stadtnahen Bereich, haben sich dem Reitsport geöffnet und damit ein zweites Standbein aufgebaut. Andere haben Bauernhauscafés in ihren Hofgebäuden eingerichtet, die mit dem Charme alter Bauernhäuser und -gärten und Angeboten wie selbstgebackenen Torten punkten und nicht selten zu regionalen Attraktivitäten geworden sind. Immer häufiger anzutreffen, aber in Deutschland im Vergleich etwa zu Österreich durchaus noch ausbaufähig, sind Hofläden. Hier werden hofeigene Produkte wie Wurstwaren, Obst, Gemüse, Honig oder Eingemachtes vom Erzeuger direkt an den Markt gebracht. Der Verbraucher hat eine ideale Möglichkeit, mit dem Erzeuger unmittelbar in Kontakt zu treten und Näheres über die Entstehung der Lebensmittel zu erfahren. Manchmal werden von diesen Hofläden aus auch regionale Märkte beschickt oder private Verbraucher durch Bringdienste regelmäßig versorgt.

Etwa 40, meist »kleinere« Dörfer in Deutschland bezeichnen sich heute bereits als Ökodörfer – hierzu gibt es allerdings keine allgemein verbindliche Definition. Beispiele sind Brodowin in Brandenburg und Sieben Linden in Sachsen-Anhalt. Das noch im Aufbau befindliche Ökodorf Sieben Linden hat derzeit 150 Einwohner und will in den nächsten Jahren auf 300 Einwohner wachsen. Die als Genossenschaft organisierte Dorfgemeinschaft möchte vor Ort die hohen Ziele einer ökologischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit verwirklichen. Das Ökodorf Sieben Linden ist seit 2006 offiziell anerkanntes Projekt der UN-Dekade »Bildung für Nachhaltige Entwicklung«.


Die Landwirtschaft pflegt auch Kulturlandschaften durch Schafhaltung, hier die Lüneburger Heide.

Neben den vom Markt bezahlten Produkten und Dienstleistungen erbringt die Landwirtschaft vermehrt auch von der Gesellschaft gewünschte Leistungen, die der Verbraucher nicht unmittelbar honoriert. Meist geht es um traditionelle und wertvolle Kulturlandschaften oder naturnahe Landschaften wie z.B. die Lüneburger Heide, die als Weidegrünland genutzten Täler oder Hochplateaus der Mittelund Hochgebirge sowie des Alpenvorlandes. Diese Gebiete sind oft besonders feucht oder trocken und haben nicht selten schwierige Hanglagen. Aus ökonomischen Gründen würde sich die Landwirtschaft heute aus diesen Flächen zurückziehen und diese der Verbuschung und Verwaldung überlassen, was zu einer »Verdunkelung« bisher offener Landschaften führen würde. Damit würden nicht nur alte und »schöne« Kulturlandschaften verschwinden, auch der Tourismus würde seine »wertvollste Ware« und Basis verlieren. Der Staat hat nun aus Gründen des Denkmal- und Naturschutzes sowie des Freizeit- und Erholungswertes ein großes Interesse daran, die überlieferten Kulturlandschaften zu erhalten und zu pflegen. Also unterstützt er die traditionelle Landbewirtschaftung in diesen gefährdeten Regionen durch öffentliche Fördermittel. Die im Jahr 2006 von der Bundesregierung herausgegebenen neuen »Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland« erklären die Erhaltung und Gestaltung der Ressource »Kulturlandschaft« zu einem der Hauptziele der Raumordnungspolitik für den ländlichen Raum.

Das Dorf

Подняться наверх