Читать книгу Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher - Страница 10

MARIA UND LENA

Оглавление

»Schau lieber nicht hin«, sagt Maria und nimmt mir die Sicht auf dem Käfig, indem sie ihre Hüfte an die von Mutter drängt.

Wenn ich mich auf die Zehen stelle und den Hals recke, kann ich durch den ovalen Spalt zwischen ihnen trotzdem sehen, was passiert ist. Ein kleines Häufchen gelber Federn mit steif hochgezogenen Füßchen liegt mitten im Futter auf der Bodenplatte hinter den gelben Kupferstäben des Vogelbauers.

Ich bringe kein Wort heraus, Tränen kitzeln auf meinen Wangen, als gehörten sie nicht mir.

Dann öffnet sich der Schirm ihrer Körper und ich sehe, daß die Porzellanschälchen mit Wasser und Vogelfutter, die ich täglich füllen und saubermachen darf, unberührt sind. Was Kranksein bedeutet, weiß ich sehr gut, aber daß der Tod nie mehr geheilt werden kann, erklärt mir jetzt Maria mit feuchten Augen. Mutter streichelt meine Haare. Ihre Augen und Nase sind rot und ihre Trostworte klingen stark erkältet.

Maria wischt meine Trauer fort mit dem Versprechen, Hänsel an einem schönen Ort unter einem Lindenbaum zu beerdigen, wie es sich gehört. In der Nähstube sucht sie nach schwarzen Samtresten und Wolle, Mutter findet eine schöne große Zigarrenkiste, die noch nach Holz und Tabak riecht, und ich zeichne den schönsten Vogel auf meinen Malblock, um ihn Hänsel als Gefährten mitzugeben. Sein Samtbett steht auf dem weißmarmornen Küchentisch und behutsam bettet Maria das gelbe Körperchen, zusammen mit meiner Zeichnung, hinein.

Senta, meine schwarze Schäferhündin, darf heute nicht mit und begreift auch warum, als ich es ihr vor ihrem Korb im Gang hockend erkläre.

Maria hat für den ernsten Gang einen dünnen dunklen Mantel über ihr Dirndlkleid angezogen; der große Hut mit den roten Kirschen sieht vornehm aus über den weichen braunen Haaren, die ich manchmal flechten darf. Ihre rechte Hand halte ich ganz fest, in der linken trägt sie das Kistchen vor sich her.

Wir gehen am schäumenden, wilden Wasser der Murg entlang zum Kurhauspark, meiden aber die großen Wandmalereien der Trinkhalle, die wir beide scheußlich und gruselig finden.

Alte Leute mit Stöcken, die den Michaelsberg, den Hügel hinter dem Gebäude mit dem heißen Quellwasser, Schritt für Schritt hinaufsteigen, gehen an uns vorbei.

Zweimal werden wir neugierig angesprochen von Damen mit runzligen Gesichtern und schwarzen Bändchen mit goldenen Anhängern um den Hals. Maria erklärt ihnen, was wir tun, und ernst nickend lassen sie uns weitergehen.

Außer Atem schauen wir uns oben auf dem Hügel um. Maria zeigt auf unser Haus, weit unten im Tal, und meint, daß Mutter jetzt sicher Ausschau hält. Mit ihrem Taschentuch, das nach Kölnisch Wasser riecht, wischt sie mir die Stirn ab.

Auf der Kuppe des Michaelsberges, unter den alten Linden suchen wir unauffällig nach einem schönen Platz. Mit meiner Sandschippe, die Maria aus der Manteltasche zieht, graben wir abwechselnd ein Loch unter einem Strauch an einem Platz, den niemand kennt.

Hänsels Sarg paßt genau hinein, und als das Holz unter der Erde verschwindet, wird mir bewußt, daß ich meinen Vogel nie wiedersehen werde. Tränen füllen mir die Augen und durch die Tränen hindurch sehe ich, daß auch Marias Augen naß sind.

Sie legt zwei Holzstöckchen als Kreuz auf das Erdhäufchen, nimmt dann meinen Kopf in die Hände, an denen noch Erde klebt, drückt mir einen Kuß auf die Stirn und sagt leise: »Gott beschütze dich, Gerdl.«

Ihre Worte machen mich unsäglich traurig, ohne daß ich genau weiß, warum. Schweres Schluchzen drückt mir auf die Brust und sitzt in meiner Kehle, und als zu Hause meine Stimme heiser klingt, fragt Mutter, ob ich mich dort oben auf dem Hügel erkältet hätte.

Die Tage, die nun folgen, sind graue Regenwolken, aus denen halbverstandene Sätze tröpfeln. Maria muß zur »Gestapo«, bei ihren Eltern haben die Braunen vor der Tür gestanden. Bei Tisch erzählt sie von bösen Männern, die sie verspottet und ihr gedroht haben. Mit einem Kloß im Hals liest sie uns den Brief ihres Vaters vor, in dem er sie bittet, nach Hause zu kommen. Maria möchte lieber dableiben. Mutter zerknüllt ein naßgeweintes Taschentuch in der Hand. Vater ahnt Gefahr und stottert hin und wieder. Marias Angst zittert in mir nach. Ich schlage die Arme um ihren Hals, um sie festzuhalten.

Ganz, ganz oft wird sie an mich denken, an meine Eltern und an Senta. Sie wird mir viele Briefe schicken, verspricht sie flüsternd, bald wird der böse Spuk vorbei sein.

Zwei große rostbraune Mädlerkoffer mit hölzernen Beschlägen und Kupferschlössern stehen am nächsten Morgen im Gang, als ich unbemerkt mein Bett verlasse. Barfüßig und noch im Nachthemd betaste ich die Unheilsdinger und fühle, wie schwer sie sind. Wider besseres Wissen hoffe ich, daß die Koffer nicht ins Auto passen oder daß Maria es sich überlegt und lachend sagt: »Ich bleibe hier.« Durch meinen Kopf summt es: »O bleib bei mir und geh nicht fort!«

Die Sommersonne scheint, als Maria neben Vater im Auto sitzt. Die Koffer auf dem Rücksitz. Obendrauf ihr dünner dunkler Mantel und der Kirschenhut. Unter Tränen lächelt sie mir zu, und ich winke und winke und winke, bis sie in meinem Meer von Traurigkeit ertrinkt.

Ohne Maria ist unser Haus leer und unfreundlich. Die großen dunklen Möbel schauen streng, der Flügel glänzt schwarz und abweisend.

Der schwere grüne Staubsaugertopf, den ich hinter Mutter hertrage, brummt und jault. Das rote Tuch um ihren Kopf kann nicht verhindern, daß ihr immer wieder eine Locke ins erhitzte Gesicht fällt, die sie mit dem Handrücken wegzuwischen versucht. Sie sagt nicht viel beim Reinemachen und das bleibt auch später in der Küche so. Sentas Schwanz hängt traurig herab, sogar wenn sie zum Einkaufen mitkommen darf. Meine kleine graue Großmutter mit dem wackelnden Kneifer, dem langen schwarzen Kleid und dem gehäkelten Umschlagtuch sitzt täglich viele Stunden an der neuen Tretnähmaschine und flickt oder ändert die Kleidung, die ich anprobieren muß, obwohl die Stecknadeln darin mich pieksen. Seit Marias Abreise wohnt sie ständig bei uns, sie hat ihr Zimmer in Dunkelgrün und Braun tapezieren lassen. Die Ecke, in der ihr großes Bett aus Mahagoniholz steht, gleicht einer Erdhöhle. Der frische Geruch von Kölnisch Wasser und Feldblumen ist verflogen und hat dem von Baldriantropfen und Kampferspiritus Platz gemacht.

Morgens und am späten Nachmittag sehe ich zuweilen, wie Oma Gebete aus einem Buch aufsagt. Dabei steht sie vor der blinden Ostwand, nickt mit den Kopf, schaukelt den Oberkörper hin und her und antwortet nicht, wenn ich etwas frage oder sage.

Wenn es regnet und ich mich zu Hause langweile, lasse ich meine aufziehbare Eisenbahn durch ihr Zimmer tuckern oder baue eine Hütte aus zwei Stühlen und ihrer braunen Kamelhaardecke. Dann erzählt sie von ihrer Jugend im Elsaß, ihrer Lehrzeit als Modistin in Straßburg, von Onkel Edward aus Metz mit dem feuchten grauen Schnurrbart und der Melone, der bei Verdun so tapfer gewesen ist, von ihren noch lebenden Brüdern und Schwestern im sicheren Frankreich und von ihrem Geburtsdorf bei Kehl, das ich von langweiligen Sonntagsbesuchen her kenne.

An Samstagen betet sie länger als gewöhnlich und trägt das vornehme schwarze Kleid mit weißem Spitzenkragen und Jabot. Zur Synagoge geht sie nicht mehr, denn auf die Straße, wo viele Nazis herumlaufen, wagt sie sich nicht mehr hinaus.

Seit ihrer Ankunft haben sich die Freitagabende verändert. Auf einem glänzenden, weißen Damasttischtuch stehen die silbernen Leuchter, die noch Mutters Vater gehört haben. Das Rosenthal-Service mit dem Goldrand, bislang im Büffet vergraben, glänzt wie neu unter der großen seidenen Hängelampe. Großmutter segnet die Kerzen, murmelt ein Gebet und hält die Hände vor die Flammen, als wolle sie sie wärmen. Auf Vaters Kopf der schwarze Bowler, auf meinem die Schirmmütze aus Wolle, mit der ich mich unbehaglich fühle. Wir alle sind festlich gekleidet. Vater singt, als wir vor unseren Tellern stehen, und zu dem Stückchen Mohnbrot mit Salz und einem Schluck Wein aus dem alten verbeulten Silberbecher muß ich unverständliche hebräische Wörter nachsprechen.

Nach der Hühnersuppe bringt Mutter eine Schüssel mit einem großen Karpfen in braunem, manchmal grünem Gelee aus der Küche. Ich mag das Gericht nicht, aber aus Höflichkeit gegenüber Großmutter, die stolz auf ihr Werk ist, muß ich davon kosten.

Onkel Jacob, Omas Lieblingsbruder, der Sabbatgast an unserem Tisch, ißt manchmal einen halben Fisch. Er ist arm und klagt ständig über Rheumatismus und zu wenig Geld. Manchmal spricht er das Dankgebet und zieht es solange hin, bis die Eltern und ich vor Langeweile gähnen.

Wenn er unruhig und gehetzt meinem Vater überläßt, den Tisch aufzuheben, und nervös den Deckel seiner dicken Taschenuhr auf- und zuklappt, weiß ich nur zu gut, was nach dem Essen kommt. Das Zauberwort Bayreuth erlegt allen Schweigen auf. Onkel Jacob und Vater schleppen schwere Sessel vor den Radioschrank, auf dem das neue Blaupunkt-Superhet-Gerät steht und alsbald dröhnen die Walküren, die Meistersinger oder Elsa von Brabant durchs Eßzimmer. Mit einer Hand hinter der Ohrmuschel, um keinen Ton zu versäumen, sitzt Onkel dicht vor dem Lautsprecher, und die Geräusche beim Abräumen des Tisches, beim Öffnen einer Tür oder ein geflüstertes Wort zischt er wütend nieder. Wagner, die Bronzeplakette auf dem Flügel, ist unser Hausgott.

Einige Tage, nachdem mein Vater eine Geschäftsreise angetreten hat, wird Großmutter bettlägerig.

Doktor Roos, der alte Hausarzt mit einem Kopf wie ein glänzendes Osterei, einer goldenen Brille auf der Nase und großen roten Händen, mit denen er mir einmal wehgetan hat, als er sie mir in seinem Sprechzimmer auf den Bauch drückte, bleibt sehr lang bei ihr. Als er fortgeht, kneift er mich fest in die Wange und sagt, daß ich Oma nicht stören darf.

Meine Hoffnung auf gemütliche Tage mit Mutter schwindet, als ich merke, daß Großmutter sie ständig benötigt. Bald möchte sie hoch aufgerichtet sitzen, bald flach liegen, oder sie will Wasser, Suppe oder Kaffee aus einer Schnabeltasse, und die klappernde weiße Bettschüssel muß dauernd gebracht oder hinausgetragen werden.

Ich helfe beim Abstauben, bekomme aber böse Worte gesagt, wenn ich etwas falsch mache. Mutter ist traurig und bekümmert, ich fühle mich hilflos und bin widerspenstig.

In ihrem rosa Bettjäckchen thront Großmutter in den dicken Daunenkissen, die vor dem geflammten, hölzernen Kopfteil ihres Bettes aufgeschichtet sind. Die Haare, die Mutter morgens kämmt und bürstet, hängen offen herab. Sie häkelt ein neues Bettjäckchen, als erwarte sie, noch viel Zeit im Bett verbringen zu müssen. Oft und viel höre ich sie klagen, obwohl es ihr sichtlich besser geht.

Selten verläßt sie das Bett und streitet mit dem Doktor, als er sie zum Aufstehen ermutigt. Ich spiele wieder auf dem Teppich in ihrem Zimmer mit der Eisenbahn, dem Märklin-Baukasten und einer neuen Mickymaus, die mit den Armen schlenkert und läuft, wenn ich sie mit einem Schlüssel im Rücken aufziehe. Hebt man sie hoch, dann trappeln die schwarzen Füßchen, sie schüttelt den Kopf und rattert schneller als die Nähmaschine. Nimmt man sie in die Hände, so ist es, als sei sie lebendig und wollte davonlaufen.

Oma schläft unter ihrem Federbett wie Rotkäppchens Großmutter.

Auf der Hügellandschaft ihrer Bettdecke lasse ich meine Mickymaus frei. Omas Augen öffnen sich rund vor Erstaunen, ihr gebißloser Babymund versucht etwas zu sagen, und plötzlich kräht sie wie ein heiserer Hahn, weicht zurück und schlägt wild nach meinem Spielzeugtier. Sie kreischt Mutters Namen, und in meiner Verwirrung, Angst und Bosheit packe ich das zappelnde Ding und setze es ihr auf den Kopf. Nach und nach verheddert es sich in den grauen Haarlocken, während ihr Geschrei unvermindert anhält.

Meine Welt stürzt zusammen als Mutter die zuckende Mickymaus mit einer Schere aus dem grauen Gewirr befreien muß. Atemlos zischt Großmutter, ich sei ein »Mamser«, ein Teufel, und schwört, ich werde meiner Strafe nicht entkommen. Mutter steht das Weinen näher als das Lachen. Sie versucht zu beschwichtigen, träufelt Baldrian in ein Glas Wasser und schickt mich aus dem Zimmer.

Verdrossen vor Kummer und Schmerz über die harte Strafe, die Vater mir verpaßt hat, hungrig und mit pochenden Schläfen liege ich abends in meinem Bett. Seine brüllende Stimme schallt aus dem Eßzimmer und Mutter weint und schreit, daß sie allein, ohne Maria, die Belastung nicht länger ertragen könne.

Ein paar Tage später eilen wir vom Einkaufen nach Hause. Lena, Mutters neue Hilfe, soll sich heute vorstellen. Ich brenne vor Ungeduld und Neugier, sie zu sehen. Die Haustür zum Treppenhaus steht einen Spalt offen. Schon von unten höre ich Senta aufgeregt bellen.

Über die glatten Steinstufen renne ich vor Mutter zu unserer Wohnung im ersten Stock, halte aber an, als ich durch die Lücken des Treppengeländers sehe, wie Lena mit großen schwarzen Schnürstiefeln auf den Boden stampft, um den Hund einzuschüchtern.

Sie bemerkt uns erst, als wir neben ihr stehen. Hinter der weißen Wohnungstür mit den kleinen Scheiben taucht jetzt leise winselnd die Hundeschnauze auf.

Noch bevor Lena uns begrüßt und sich vorstellt, zetert sie, daß wir den Hund festhalten müssen, wenn wir die Tür öffnen.

Nervös steckt Mutter den Schlüssel ins Schloß und schickt Senta mit strengen Worten zu ihrem Korb. Mißtrauisch und wachsam beobachtet sie von dort aus unsere neue Hilfskraft.

Als ich Lenas große lila Hand schütteln muß, fühle ich tiefe Verbundenheit mit meinem Hund. Die große, derbe Frau mit der spitzen Nase und den hellen Augen ist mir unheimlich. Das graubraune Haar ist mit Haarnadeln zu einem dicken Knoten im Nacken aufgesteckt, und ich kann die Augen von den Haaren auf ihrem Kinn kaum abwenden. Wie ich spüre, ist auch Mutter erschrocken und läßt zu, daß Lena sofort zu arbeiten beginnt. Sie holt eine große braune Schürze aus ihrem geflochtenen Koffer hervor und nach wenigen Worten wischt und bohnert sie, als sei es ihr Haus.

Mutter kocht, sie läßt sich nicht vom Herd verdrängen. Als wir um den Tisch sitzen, murmelt Vater leise, er sei froh, daß »das Mensch« lieber allein in der Küche ißt. Von nun an wird in unserem Haus viel geflüstert, denn Lena horcht an den Türen. Ich kann kaum glauben, daß Erwachsene so etwas tun, bis ich mit eigenen Augen sehe, wie sie im Flur davonrennt, als Vater mit einem Ruck die Tür öffnet.

In der Küche fallen harte Worte, das Geflüster hält an. Die Woche über verläßt Großmutter selten ihr Zimmer und drückt sich dann schweigend an Lena vorbei.

Allmählich wird Oma mir wieder gut. Auf den Stühlen an ihrem Bett oder neben der Nähmaschine, die sie zuweilen wieder schnurren läßt, schütten wir alle unser Herz bei ihr aus. Als spuke ein Drache im Haus, dem Vater als einziger Widerpart bieten kann.

Als auf dem Markt hinter der Stiftskirche dicke Bäuerinnen mit Körben voll länglicher, blauer Zwetschgen stehen, weiß ich, daß Mutter einen Kuchen backen wird. Auf rechteckigen Backblechen legt sie entsteinte und halbierte Zwetschgen wie Dachziegel in vielen Reihen nebeneinander auf den Teig, streut Zucker und Zimt darüber und gibt dünne Sahne dazu. Sie macht das geschickt und mit großem Vergnügen.

Der Kuchen ist noch warm und saftig, als wir die ersten Stücke kosten dürfen. Lena sieht beinahe freundlich aus, als sie sich eine doppelte Portion in den Mund stopft.

Mit Augen, die größer sind als der Magen, bitte ich um noch ein Stück und höre von Mutter, daß wir morgen, am Freitagabend, Gäste haben. Besonders schöne Stücke ohne Kruste legt sie auf eine große Platte und stellt sie in der Speisekammer neben der Küche sorgsam beiseite.

Schon im Gang verdüstert sich Onkel Jacobs Gesicht, als er hört, daß Mutters mollige Schwester und ihr Freund Harry, der Schauspieler mit dem Monokel, sowie Onkel Albert, ein entfernter Verwandter von Vater, heute abend zum Essen kommen. Er befürchtet und ich hoffe, daß Wagner diesmal nach dem Essen keine Chance hat.

Vater gibt sich andächtiger als sonst und singt die Gebete wie Arien. Still warte ich an dem festlich gedeckten Tisch auf den Zwetschgenkuchen. Den Karpfen im grünen Mantel rühre ich heute nicht an, denn auch Tante läßt ihr Stück stehen.

Mit überkippender Stimme ruft Mutter aus der Küche nach mir. Keiner Übeltat bewußt außer meinem Widerwillen gegen den Fisch, gehe ich zu ihr und sehe sie mit den Tränen kämpfend vor der Platte mit den Kuchenstücken stehen. Es ist kein Berg mehr, nur noch ein Hügel, und ich stehe da als Angeklagter. Erst nach einem heiligen Eid glaubt mir Mutter. Ihr Kreuzverhör erstreckt sich auch auf Vater. Er weiß von nichts und regt sich auf. Oma ist über jeden Verdacht erhaben. So bleibt nur Lena als Verdächtige übrig, aber sie kommt erst wieder am Montag morgen.

Aus der Waschküche im Keller dringt der Lärm eines schrillen, heftigen Streites durch das hallende Treppenhaus bis in unsere Wohnung, und ohne die Worte zu verstehen, weiß ich, worum es geht. Blaß und verstört, mit rotumrandeten Augen, stürzt Mutter ins Zimmer und stolpert atemlos über die eigenen Worte: Lena hat den Kuchen gestohlen, schlimmer: Lena stiehlt von Anfang an aus der Speisekammer. Aber das Schlimmste: Lena schimpft und höhnt, sie habe ein Recht darauf, sie werde ausgebeutet und bekomme viel zu wenig zu essen, die Juden würden die »Volksgemeinschaft« betrügen und sie werde uns die »Partei« auf den Hals hetzen, um uns ein für allemal Mores zu lehren.

Kuchen, Konserven, Wurst und Käse haben schlagartig ihre Bedeutung verloren. Der Ärger wird zur Angst, und in der Vorstellung sehe ich schon die Braunhemden mit Fackeln und Knüppeln vor der Tür stehen. Ratlos überlegen die Eltern miteinander, mit Freunden und Bekannten. Den ganzen Tag über rasselt die Wählscheibe des Telefons und atemlos spricht Mutter in den Hörer. Abends klingelt sie bei den Nachbarn an, oben, links und rechts.

Erschöpft und aufgeregt gibt sie mir einen Gutenachtkuß. Die Neugier schwelt in mir, als ich einschlafe, den tröstenden Kissenzipfel in den Armen.

Unwirsch und mit verkniffenem Mund tobt Lena morgens durch die Wohnung. Vor ihrer Wut klirrt das Geschirr in der Küche, wir sind für sie Luft. Sie tritt heftiger gegen Stuhl- und Tischbeine, als ich es im schlimmsten Jähzorn je gewagt habe, und als das dumpfe Knallen des Teppichklopfers vom Hof herauf tönt, tun mir die Teppiche leid.

Mutter kocht das Mittagessen. Ihre Wangen sind erhitzt, als wäre es glühend heiß in der Küche, und bei jedem Schlag und Knall im Haus oder von draußen zuckt sie zusammen.

Schweigend helfe ich ihr beim Tischdecken. Als die Suppe in der Terrine auf dem Tisch dampft, ruft sie Lena zum Essen.

Leise schließt Mutter die Küchentür und überläßt die Suppe schlürfende Lena, die weder auf noch um sich schaut, sich selbst. Wir essen wortlos unsere Suppe und ich verstehe nicht, was die erwartungsvolle Stille zu bedeuten hat.

Als die Türklingel läutet, springt Mutter auf, als hätte sie auf einer Feder gesessen, läuft zur Wohnungstür und kommt gleich darauf mit den Damen zurück, die geheimnisvoll leise gehen und flüstern, allen voran Frau Huber, unsere immer lachende, mollige Nachbarin von oben, im grünen Dirndlkleid, aus dem ihr üppiger Busen mit dem goldenen Kreuzchen darauf quillt.

Teils im Zimmer, teils im Gang warten alle auf den Augenblick, in dem Frau Huber die Küchentür aufreißt. Lena würdigt sie keines Blickes. Den linken Arm hat sie um den Teller gelegt, als müßte sie ihn gegen Diebe verteidigen. In ihrer rechten Hand die Gabel, mit der sie, ohne den Arm anzuheben, den Berg aus Sauerkraut, Kartoffeln und Fleisch mit großen Bissen in den Mund schaufelt.

Als die Nachbarin und die anderen Frauen in der Küche stehen, blickt Lena unwirsch vom Essen auf. Frau Hubers lachend gesprochene Worte: »Aber Lena, ich glaubte, man lasse dich hier verhungern« bringen die Gabel zum Stillstand. Eine Donnerwolke zieht über ihr Gesicht, der Mund ist ein verkniffener Spalt. Böse erhebt sie sich, umklammert die Gabel mit der Faust und sticht sie wie eine Heugabel mit Schwung ins Sauerkraut. Drohend schaut sie sich um, stößt Flüche aus, die ich noch nie gehört habe, reißt die braune Schürze vom Haken und ohne sie in den geflochtenen Koffer zu stecken, drängt sie uns in der Küchentür beiseite. Mit einem donnernden Schlag wirft sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloß. Im leeren Treppenhaus hallt ihr Fluch wider: »Juda verrecke!«

Bleich, mit Gesichtern, auf denen die Fröhlichkeit erloschen ist, gehen die Frauen hinaus. Mutters geflüsterte Worte des Dankes bleiben in der Luft hängen.

Tetralogie des Erinnerns

Подняться наверх