Читать книгу Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher - Страница 13
»WIR HABEN NICHTS GEWUSST«
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Offenburg, Appenweier, Achern; Namen auf Schildern an den Landstraßen, undeutliche Echos aus meiner Kindheit.
Aus den blaugrünen, dunstig verregneten Wäldern des Schwarzwaldes fahren wir in die Rheinebene. Wir kommen aus der Schweiz und nehmen auf dem Rückweg in die Niederlande die Route über mein Herkunftsland.
Beim Überschreiten der Grenze fühle ich die Reste fünfzig Jahre alter Angst, nicht durchgelassen zu werden, und dann den prickelnden Triumph beim Handzeichen des Beamten, der uns in sein Land fahren läßt, ohne auch nur den Paß zu kontrollieren.
Mein kleiner roter Citroen mit niederländischem Nummernschild, meine Frau neben mir und meine schlafende jüngste Tochter auf dem Rücksitz erwecken das Vertrauen der Grenzposten an allen Übergängen. Ich bin kein unerwünschter Flüchtling mehr, sondern ein Tourist, der seine Devisen ausgeben will.
Ein Punkt auf der Landkarte, fast unauffindbar, ist Freistett am Rhein in der seit Jahrhunderten umstrittenen Tiefebene, die trotzdem von allen Machthabern vergessen wurde.
Darf ich die Heimreise nach den sonnigen Ferien am Genfer See durch eine Fahrt stören, die fünfzig Jahre alte Gespenster wachruft? Der Ortsname Freistett zieht mich magisch an, zieht das Kind von damals an, das auf dem Rücksitz des blauen Adlers seine Verwandten in einem hochgewirbelten Staubschleier aus seinem Leben verschwinden sah.
Auf ruhigen geraden Straßen, durch kleine Dörfer lenke ich den Wagen in der beinahe holländischen Landschaft. Ich fahre wortlos wie damals mein Vater fuhr. Ich sehe, was er sah, was ich sah. Einen Augenblick lang bin ich er.
An der Kreuzung verfehle ich die Abzweigung. Will ich wirklich sehen und hören? Nach rechts: das retuschierte Foto meiner Erinnerung, zweihundert Meter vor uns. Sand und Staub sind jetzt Asphalt. Die Schmalspurbahn ist verschwunden. Gehsteige an beiden Seiten, neu und sauber. Häuserfassaden: rosa, grün und gelb; moderne Geschäftsfronten: ein vollkommenes Potemkinsches Dorf.
Und doch noch dasselbe: die Haustür links, die Stalltür rechts, die überhängenden Dachgesimse, die flachen roten oder schwarzen Ziegel.
Ich suche das Haus. Erkenne es und kenne es nicht wieder. Ein Laden für Papier, Zigarren, Zeitungen. Die städtisch aussehende Verkäuferin weiß von nichts. Wem das Haus gehört hat, wer darin gewohnt hat, damals und später? Der Chef, jünger als meine Erinnerung alt ist, verweist mich an eine ältere Nachbarin zur rechten. Hinter ihrem Getränkeladen eine hochbetagte Schwiegermutter mit straffem grauem Haarknoten, wie ihn die Frauen des Dorfes in meiner Kindheit trugen. Ihr angegrauter Sohn führt das Wort. Auf dem breiten Gesicht ein Grinsen, mißtrauisch, dann verlegen, er ist auf der Hut, wird dann offen und ernst.
Ob er meine Tante und meine Vettern gekannt hat?
Freunde sind sie gewesen, und gute Nachbarn!
Er führt uns auf den Hof hinter dem Haus. Der braunschwarze Schäferhund hinter Gittern fletscht die Zähne und springt wild gegen die Stäbe, als spürte er die Nervosität seines Herrn. Dieser ruft nach einer alten Nachbarin, die auf dem Hof meiner Tante Hermine, hinter dem Haus mit dem Papiergeschäft, ihre Wäsche aufhängt.
Nichts ist verändert, nichts umgebaut. Die Stalltür, der Heuboden, die Grube, über der der Abtritt hing ... lächelndes Erinnern, ja, vor zehn Jahren abgerissen.
Das Gespräch in schwerem Dialekt läuft sozusagen um uns herum, über uns aber ohne uns. »Weißt du noch, die Bertha von nebenan, und die Rosel, die ein bißchen einfaltig war?«
Die alten Frauen und der Sohn entwirren die Zweige meines Stammbaums, auch solche, die ich selbst nicht gekannt habe.
Betretene Stille, als ich ihre Frage beantworte, was aus uns geworden sei. Lagernamen fallen wie Steine in eine Schlucht. Befangen sieht der Nachbar mich mit unruhigen Augen an, seine Finger zupfen an einem Knopf: »Wir haben nichts gewußt, die haben uns den ganzen Krieg lang für dumm verkauft.«
Dann auf einmal vertraulich lächelnd, halb zu uns, halb zu den Frauen um uns herum gewandt, erzählt er von seiner Kindheit, als die Väter ihren Söhnen mit einer neuen Strafe drohten: dem KZ.
Das Lager bei Kuhberg war nicht weit, Gerüchte darüber sickerten ins alltägliche Leben durch, aber von der »Endlösung der Judenfrage« hat niemand im Dorf damals gewußt. Erst nach dem Krieg hätten sie davon gehört und nicht begreifen können, was »mit die Judde« geschehen war.
Selbstsicher setzt er das moralische Großreinemachen fort. Mit schrägem Blick sieht er mich an und schimpft auf die Alliierten, die Franzosen, die Holländer, die seiner Meinung nach alles gewußt und trotzdem den Judas gespielt haben. Unentwegt redet er weiter: Sein Vater trug die schwarze Uniform der SS und mußte in Dachau Dienst tun, aber sein Gewissen konnte die Last nicht ertragen. Noch vor Kriegsausbruch kam er ganz verstört nach Hause und weigerte sich, das befohlene Henkerswerk länger auszuüben.
Was soll ich, in meinen Zweifeln, in meiner Unsicherheit sagen? Was haben sie wirklich gewußt, was aus ihrem Bewußtsein verdrängt, um leben zu können?
Fort will ich, weg von dem Ort, wo meine gebrechliche Tante mit ihren achtzig Jahre alten Augen mitansehen mußte, wie in der Kristallnacht des November 1938 ihr armseliger kleiner Laden und ihre Wohnung zertrümmert wurden. Mein Kopf dröhnt vor Wut, als wir an dem tobende Schäferhund vorbei wieder die Straße erreichen.
Aber vor Wut auf wen?
Auf den alten Gustaf, der auf seinem Ostfront-Bein angehinkt kommt, um die Erinnerungen an meine umgekommenen Verwandten aufzufrischen? Auf Hilda, die Landarbeiterin, mit der Schaufel auf der Schulter und den großen Körben voll Gemüse am verrosteten Fahrradlenker, die mit kargen Worten erzählt, sie sei damals Dienstmädchen bei der Familie gewesen?
Vor Wut über das grauenhafte Schicksal, das die Juden Europas getroffen hat?
Meine Tochter auf dem Rücksitz des Autos hat ihren Walkman auf den Ohren. Wir fahren weiter. Die alten Leute winken. Wir winken zurück, Zweifel und Verwirrung im Herzen.
Nachts werden wir zu Hause sein, schneller als damals. Und frei.
Die Fahrt durch grünes Niemandsland, den Blick auf Unendlich gestellt, den Fuß fest auf dem Gaspedal: die deutsche Autobahn.
Gedanken an die Vergangenheit haben keine Chance. Hitlers Heeresstraßen sind vorzüglich geeignet, um schnell von Süden nach Norden zu gelangen, aber Grübeleien sind gefährlich.
Die Städte sind Namen auf blauen Schildern: Wörter aus dem Atlas. Bis plötzlich der Doppelname auftaucht, der zur Einkehr mahnt: Baden-Baden, Wiege und Kindheit.
Diesmal ist es Neugier, die mich in den Ort zieht. Schon vor Jahren habe ich dem Wunsch von Frau und Kindern nachgegeben und bin über die Abzweigung in meine Kindheit gefahren. Damals sah ich die Stadt wie ein Fremder und verschloß mich allem, was Schmerz bereiten konnte. Später, beschützt und sicher auf der Analyse-Couch, stiegen die Bilder herauf, die Tränen der Trauer und Wut, und ich bekannte mich zu den Jahren meiner Knabenzeit.
Ein paar Kilometer nur: Wir fahren an den alten gelben Wohnkasernen der Vorstadt vorbei. Ich erkenne nur wenig. Der Radius meiner Kindheit reichte nicht so weit. Wo die Stadt beginnt, ist plötzlich alles wieder da. Das Damals und Jetzt fallen beinahe zusammen. Die Rosensträucher, die Blumenbeete, die raunende Murg, klar wie ein Kristall, die luxuriösen Hotels, vor denen sich ein Mercedes fast bescheiden ausnimmt, die Trinkhalle mit den einst gruseligen, jetzt abstoßend häßlichen Wandmalereien von Rittern, Drachen und blassen Jungfrauen, die Konditoreien mit bunten Sonnenschirmen und weißlackierten Stühlen: Alles ist gleich und doch anders. Heute Mädchen in Shorts, Jungen in Jeans, damals Männer mit Panamahüten und Frauen in Seide.
Das Möbelgeschäft meiner Oma, unverändert, gehört noch immer dem Mann, dessen Name zu Hause mit Zorn ausgesprochen wird. Und Bismarck starrt immer noch unerbittlich in die Ferne.
Zu Fuß, bürgerliche Eintagstouristen, gehen wir weiter. Ich betrachte Fassaden, die keinen Touristen interessieren, ich weiß genau, wo ich bin. Vor meiner Schule bleibe ich stehen. Niemals bin ich fortgewesen, nichts hat sich verändert. Zusammen mit Harro fliehe ich über die Treppe zur Stephanienstraße. Jetzt läßt die Steigung mich meine Jahre spüren. Keuchend stehe ich an der Stelle, wo wir unsere Ranzen als Waffen gebraucht haben, und suche nach Zeichen an dem Ort, wo einst die Synagoge stand.
Frau und Tochter folgen mir wie Pflegerinnen, die hinter einem Schlafwandler herlaufen, besorgt um meine Sicherheit.
Die Synagoge aus weißem Stein mit ihren schlanken Säulen und bogenförmigen Fenstern, den vielfarbigen Rosetten und der breiten Treppe mit den hohen Stufen, die ich als Kind mit Mühe erklimmen konnte, steht nicht mehr. Eine ebenerdige Garage für Lastwagen hat ihren Platz eingenommen. Kein Zeichen der Erinnerung an den Ort, wo SS-Leute in schwarzen Uniformen am Abend des neunten November 1938 alte jüdische Männer ohne Kopfbedeckung dazu zwangen, Nazilieder zu singen, das Gesicht dem Schrein mit den heiligen Thorarollen zugewandt, die unter dem Hohngelächter der Männer des Totenkopfregiments angezündet wurden und wie der brennende Dornbusch loderten.
Die Photographien, die einer von ihnen als Andenken an das komische Ereignis gemacht hat, und die Jahrzehnte in Archivschränken verborgen lagen, sind unauslöschlich in mein Hirn geätzt.
Das brennende Gebetshaus, in Ruß und Rauch gehüllt, die in Marschreihen gezwungenen Greise ohne Hüte, mit blassen, nichts begreifenden Gesichtern über dunklen Wintermänteln, entkräftet von Rekrutenübungen und Todesangst: Kristallnacht.
»Wir haben nichts gewußt, fast nichts«, lautet stets die Antwort, die der Frage vorgreift und sie zum Schweigen verurteilt.
Hier, in der Biegung der Stephanienstraße, quält sie mich.
Dies ist kein Land von Blinden, Stummen, Tauben. Jeder, der hören wollte, konnte hören. Jeder, der sehen wollte, konnte sehen. Die Reden, in denen heisere Demagogen unseren Untergang verkündeten, tönten seit Januar 1933 aus allen Lautsprechern. Die Maßnahmen zu unserer Isolierung, mit denen sie Tag für Tag ein Stück von unserer Freiheit abschnitten, standen in fetten Lettern in allen Zeitungen.
Unzählige Deutsche ließen sich zur Barbarei verleiten.
Unzählige Deutsche, gleichgültig oder vor Angst gelähmt, sahen uns direkt vor ihren Augen ertrinken.
Nur einzelne Mutige, wie der Kellner Fritz in Riva am Gardasee, retteten einen Ertrinkenden aus den Fluten.