Читать книгу Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher - Страница 17

Prolog

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Aus der Erinnerung steigen unterbelichtete Bilder, abwechselnd mit grellen, überbelichteten Szenen, eingeätzt in meine Netzhaut. Manchmal, wenn auch lückenhaft, gelingt es, diese Filmblitze zu erkennen und zu ordnen. Die Gefühle von damals, Angst und Verzweiflung, Ohnmacht und Wut, Schmerz und Kummer liegen tief verborgen, Lava in einem scheinbar toten Vulkan.

Die Erzählungen einstiger Mithäftlinge, Bücher, ein Foto, eine Assoziation beschwören die Bilder herauf, von versengenden Emotionen begleitet.

Im Herbst 1981 erschienen zwei solcher Bücher: The Terrible Secret von Walter Laqueur und Auschwitz and the Allies von Martin Gilbert. Der jeweilige Untertitel schließt jedes Mißverständnis über den Inhalt aus: Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers ›Endlösung‹ und How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution. Zwei nüchterne und ernüchternde Bücher über den Mord, das Wissen über den Mord und die Reaktionen der Welt auf die Ermordung von sechs Millionen Juden zwischen 1939 und 1945.

Ich sah uns wieder, grau vor Erschöpfung, in Fünferreihen. Mit geschwollenen Knöcheln, schwindelndem Kopf, hohlem Magen. Zusammen mit den russischen Gefangenen standen wir dort auf dem Appellplatz. Die späte Nachmittagssonne der ersten Augusttage 1944 spiegelte sich auf geschorenen Schädeln. Wir zählen ab: einmal, zweimal, zehnmal. Wir werden gezählt. Emil, der polnische Blockälteste, stößt die Reihen zurecht, zählt mit, nervös, heiser. Der Blockführer zählt, schlägt mit dem Spazierstock* auf die Köpfe der ersten und letzten Reihe. Wir wagen nicht, den Platz zu tauschen. Der Durst übersteigt den Hunger. Die Suppe können wir vergessen. Irgendetwas ist passiert, denn die Sirenen haben geheult. Durch den stinkenden Rauchschleier des Krematoriums III sehen wir den blauen Himmel; wir taumeln, manche fallen in Ohnmacht. Die Kameraden zu stützen, raubt uns die letzten Kräfte. Emil dirigiert die Kranken in die hinterste Reihe und wird von einem SS-Mann angebrüllt. In der Ferne hören wir Donnergrollen wie von Gewitter. Unsere Blicke treffen sich: russische Artillerie in den Beskiden? Sie müssen in der Nähe sein; das Flugzeugkommando** hat doch erfreuliche Nachrichten gemeldet?

Das heisere Gebrüll der Kapos und SS-Leute wird von dem rhythmischen Summen in der Luft übertönt und plötzlich sehen wir alle die weißen Schafwollfaden, die von kaum erkennbaren Metallstückchen über das helle Blau des Himmels gezogen werden. Hunderte von Augenpaaren folgen den Fäden, bis die SS-Männer, mit quadratisch aufgerissenen Mäulern schreiend und Schläge austeilend, abermals abzählen lassen.

Dort oben tobt das Scheingewitter, das uns die Kraft schenkt, auf den Füßen zu bleiben, und das ein kaum merkbares Lächeln auf unsere Gesichter zeichnet. Der Appell endet in der Nacht, nachdem die Sirenen nochmals geheult haben. Von den fünf geflohenen Häftlingen sind drei lebend aufgegriffen worden: Piechowiak, Wagschal und Kenner. Blutverschmiert und geschunden werden sie zurückgebracht in unser Lager, das Männerlager Birkenau II D.

Als wir am Abend des 8. August in Fünferreihen, die Kranken stützend oder tragend, schmutzig und erschöpft durch das Tor der befreienden Arbeit getrieben werden, sehen wir zwei der Geflohenen hängen. Singend, den Tod im Herzen, von Orchestertönen begleitet, marschieren wir mit nach innen gekehrtem Blick an den beiden Galgen vorbei. Ein Tod, wahrscheinlich sanfter als der, der Piechowiak in der Strafkompanie erwartet.

Am selben Abend wieder die Wollfäden am Himmel. Hatte man uns vergessen dort draußen, dort droben? Waren die Ölraffinerien von Blechhammer und Trzebinia von größerer Bedeutung als wir und unsere Verbrennungsöfen? Im folgenden Monat brannten sie nicht mehr Tag und Nacht. Die Juden aus Ungarn hatten das Leiden auf Erden fast hinter sich. Aus Westerbork kam der letzte Transport: 1019 Menschen, von denen 470 nicht sofort den Flammen zum Opfer fielen. Unter ihnen Anne Frank, damals noch ein unbekanntes Mädchen im Ozean des Todes.

Zu der Zeit wußte ich kaum, was geschah. Ein Vorhang hatte sich vor mein Wahrnehmungsvermögen gesenkt. Ich registrierte das grauenhafte Geschehen, ohne es zu Kopf und Herz durchzulassen.

Jetzt, nach fast vierzig Jahren, fällt dann und wann ein Archivblatt aus dem Panzerschrank meines versunkenen Gedächtnisses.

Den Bombenangriff auf Monowitz, den Gilbert beschreibt, haben meine Kameraden vom Rollwagenkommando und ich laut und deutlich gehört. Am 13. September 1944 dachten wir einen Augenblick an Befreiung. Einen Augenblick lang wußten wir hinter unseren glasigen Hirnfassaden, daß es ein »Draußen« gibt und daß Auschwitz nicht auf einem anderen Planeten liegt.

Den ganzen Morgen lang hatten wir keuchend, von Flüchen und Schlägen gescheucht, Holz und Asphaltpappe ins Mexikolager transportiert. Wo wir es abgeladen haben, weiß ich nicht mehr, aber weit von der Rampe, dem Umsteigeplatz zur Ewigkeit, wird es nicht gewesen sein. Der SS-Mann verschwand, vermutlich in einem Schutzraum, und wir standen da, als warteten wir auf einen warmen Sommerregen.

Der Bombenangriff auf die I. G. Farben kann nicht lange gedauert haben. Um uns herum Sturm, Staub und Getöse. Keine Angst. So müssen Bauern fühlen, wenn auf ihr Flehen plötzlich Regen fällt. Die wenigen Bomben auf Birkenau gaukelten uns einen Moment lang vor, die Krematorien seien getroffen, aber das war blitzartig vorbei. Was von diesem Wunschtraum übrigblieb, war Enttäuschung, staubverklebte Augen und ein handgroßer Granaten- oder Bombensplitter, den Jiri D. aufgehoben hatte. ›Gejts mit Gott, abber gejt’s‹, schrie der Kapo und der überfrachtete Wagen, mit uns als Karrenhunden davor, setzte sich langsam in Bewegung.

Die Frage, ob man uns da draußen und da oben vergessen hatte, brannte vielen von uns lange auf der Zunge. Warum diese Frage erst seit wenigen Jahren wirklich ausgesprochen wird und auch heute noch nicht beantwortet ist, läßt sich nur vermuten.

Der plausibelste Grund ist sicher in den Archivgesetzen der betreffenden Länder zu suchen. Englische und amerikanische Archive geben erst seit kurzem Bruchstücke der jüngsten Geschichte preis. Die Historiker Laqueur und Gilbert haben aufgrund ihrer früheren und derzeitigen Arbeiten die besten Voraussetzungen für die Spurensuche. Laqueur als Direktor des ›Institute of Contemporary History‹, auch bekannt als ›Wiener Library‹ in London, jenes Institutes, das während des Zweiten Weltkriegs für die British Intelligence eine der wichtigsten Informationsquellen über Deutschland war, und Gilbert als offizieller Biograph von Winston Churchill, mit Zugang zu Geheimakten, von denen kein Laie zu träumen gewagt hatte, daß sie für die Nachwelt erhalten bleiben würden.

Ein anderer Grund für das lange Schweigen über die grauenhaften Ereignisse erinnert mich an die Sphinx und Ödipus: Die richtige Antwort auf das Rätsel stürzt sie von ihrem Sockel. Das Rätsel ist gelöst, aber der Preis ist bitter und das Ende ohne Illusionen.

Auch wir kennen jetzt die Antwort auf unsere Frage und auch für uns ist der Preis bitter. Die wenigen Illusionen, die wir bewahrt hatten, wurden zunichte gemacht.

Es sind dieselben Fragen, die Laqueur und Gilbert quälen, doch bereits aus dem Untertitel ihrer Bücher geht hervor, daß der jüngere, 1936 geborene Gilbert mehr ertragen kann (oder konnte) als der um fünfzehn Jahre ältere Laqueur. Der Untertitel von Laqueurs Buch: Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers Endlösung offenbart gewissermaßen auch die Verdrängungsarbeit des Autors. Seine Geschichte endet im Dezember 1942 und er begründet diesen Zeitpunkt mit dem Argument, daß »die Mehrheit der Juden in Osteuropa wie auch Millionen Deutsche und viele Einwohner in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten schon damals von der Massenvernichtung wußten«. Außerdem vermeidet er geflissentlich die Frage, was diese Menschen mit ihrem grauenhaften Wissen anfingen.

Ich kann mir nur zu gut vorstellen, daß ein Mann wie Laqueur, 1921 zur Zeit der Weimarer Republik geboren, dessen Jugend durch die Nationalsozialisten zerstört wurde und der ihnen nur knapp entkam, eine solche Rationalisierung und Verdrängung braucht. Dennoch kann man das Datum des Dezember 1942 nur schwer akzeptieren. Keiner meiner Mithäftlinge noch ich selbst wußten von dem Fegefeuer von Birkenau, bevor wir durch das Haupttor getreten waren. Erst nachdem Vrba und Wetzler im April und später Rosin und Mordowicz im Mai 1944 die Flucht lebend überstanden hatten und erst als ihre Berichte den Alliierten vorlagen, konnte niemand, weder aus den Kreisen der Regierung und des Militärs, noch irgendein lesender oder hörender Bürger mehr mit gutem Gewissen behaupten: »Wir haben nichts gewußt.«

Martin Gilbert hat seinem Buch den Untertitel gegeben: How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution, und eine jener »responses«, nämlich die des englischen Diplomaten A. R. Dew, der auf dem Weg zur Konferenz von Jalta verunglückte, lautete am 7. September 1944: »Meiner Meinung nach wird hier im Amt unverhältnismäßig viel Zeit für die Beschäftigung mit diesen jammernden Juden vergeudet.«

Die Arbeiten von Laqueur und Gilbert scheinen sich auf den ersten Blick in einigen Bereichen zu überschneiden, doch durch die Fragen, die sie stellen, ergänzen ihre Untersuchungen einander.

»Mit diesem Buch«, schreibt Laqueur, »versuche ich, eine Antwort auf die folgenden Fragen zu finden: – Wann erfuhren Juden und Nichtjuden zum erstenmal von der ›Endlösung‹?

– Über welche Kanäle wurden die Berichte verbreitet? – Wie war die Reaktion derer, die davon hörten?«

Er stellt sich dabei unter anderem die Aufgabe, nachzuweisen, daß ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland, der Geheimhaltung und den verstümmelten Informationen zum Trotz, durchaus wissen konnte und sogar tatsächlich wußte, daß Massaker bereits in den ersten Kriegsjahren stattfanden. Dabei drängt sich die Frage nach der Bedeutung von »Wissen« und »Glauben« auf, mit anderen Worten, inwieweit die grauenhaften Nachrichten in Deutschland selbst und in der übrigen Welt Glauben fanden.

Vor allem die übrige Welt sei in der Lage gewesen, so viel zu tun, und habe dennoch so viel unterlassen, das zum Überleben der europäischen Juden hätte beitragen können.

Bei der Lektüre von Laqueurs Buch überkam mich manchmal das Gefühl, sein eigenes Bedürfnis, den grauenhaftesten Teil des Geheimnisses, die Massenvernichtung, zu verdrängen, habe ihn zu einer milderen Analyse bewogen, als ich selbst und andere für gerechtfertigt halten.

Nach Angaben der SS waren vor Ende 1942 2 500 000 Juden deportiert und umgekommen. Die meisten Opfer waren aus Polen, Rußland und den baltischen Ländern verschleppt und von Einsatzgruppen ermordet worden.

In den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka rauchten die Verbrennungsöfen unaufhörlich. Über 200 000 Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten waren deportiert, und weit über 2 000 000 polnische und russische Juden waren umgebracht worden.

Trotz der Tarnsprache der Nationalsozialisten und trotz Zensur von Radio, Presse und Post, trotz abgefangener Kuriere und Telegramme wußten unzählige Menschen von den Greueltaten im Osten. Von Tausenden wurden über viele Kanäle die meist mündlichen Berichte weitergegeben. Familienmitglieder der Wehrmacht und der SS wußten aus Erzählungen und Briefen von Ehemann, Sohn und Bruder oft besser Bescheid, als sie nach dem Krieg jemals zuzugeben wagten.

Aber auch Geistliche, Widerstandskämpfer, Schmuggler und Bahnbeamte gaben Berichte aus erster oder zweiter Hand in den Westen weiter oder verbreiteten die Schreckensnachrichten in den damals noch vorhandenen Gettos in Polen. Mit Archivmaterial aus England, aus den Vereinigten Staaten, Deutschland und Israel, aber auch durch Gespräche mit zahllosen Überlebenden gelingt es Laqueur, das Netzwerk von Informationskanälen zu rekonstruieren und überzeugend darzulegen, daß der Prozeß der Endlösung schon Ende 1942 im wesentlichen hätte bekannt sein müssen.

Aber waren die Tatsachen auch wirklich bekannt, oder besser: Wurde den Tatsachen in den politischen Kreisen der Allierten auch Glauben geschenkt? Laqueur liefert den Beweis für die psychische Abwehrhaltung, die selbst Felix Frankfurter, ein prominenter amerikanischer Jurist und Richter am Obersten Gerichtshof, einnahm: Als Jan Karski, ein polnischer Offizier und Kurier von den Massenmorden in Europa berichtete, bekam er zu hören, Frankfurter sehe sich außerstande, das zu glauben.

Vor Ende 1942 war kaum jemand im Westen über den vollen Umfang der Tragödie unterrichtet. Unter den wenigen waren die geflohenen polnisch-jüdischen Parlamentarier Zygielbojm und Schwarzbart, die in London die begründete Befürchtung äußerten, die Massaker des Jahres 1942 seien erst der Anfang der Katastrophe. Sie mobilisierten die englische Presse und einen kleinen Teil der öffentlichen Meinung.

Von Verzweiflung übermannt, in dem Gefühl, die Welt lasse die Juden untergehen, ohne einen Finger zu rühren, nahm Zygielbojm sich im Mai 1943 das Leben, nachdem die SS den Aufstand im Warschauer Getto in Blut und Asche erstickt hatte. Sein bewegender Abschiedsbrief erschien in der Presse, löste aber nur zurückhaltende Reaktionen aus.

Die Katastrophenmeldungen aus dem Osten wurden überwiegend von Gerhard Riegner, einem jungen deutsch-jüdischen Juristen aus Berlin, und von seinem um dreißig Jahre älteren Kollegen Richard Lichtheim durchgegeben, beide Vertreter der Jewish Agency in Genf. Über Informanten, zu denen ebenso Industrielle und Journalisten wie Kuriere und Schmuggler zählten, liefen bei ihnen die Schreckensmeldungen ein, die sie weiterzuleiten suchten zu Staatsoberhäuptern und Ministern, oft mit Hilfe von Vermittlern wie dem Oberrabbiner Stephen Wise oder Richter Frankfurter. Ihre Aufgabe muß eine entsetzliche Last gewesen sein, denn in Whitehall und im Weißen Haus waren die Herzen und Ohren aus Granit.

Natürlich war die Botschaft unerträglich und deshalb unglaubwürdig; aber war das der einzige Grund für die Kleingläubigkeit, die Abwehr und den Skeptizismus von Roosevelt, Eden und ihren Beamten und Diplomaten?

Laqueur gibt sich in seiner Analyse milder und toleranter als Gilbert und Wasserstein, aber sein Langmut geht mir denn doch zu weit. Daß die Regierungskreise und die Medien in England und in den Vereinigten Staaten in den ersten Kriegsjahren auf die blutigen Nachrichten mit einer gewissen Zurückhaltung reagierten, ist nicht unverständlich. Das Argument von der schwierigen Verifizierbarkeit und den mangelhaft arbeitenden Nachrichtendiensten ist möglicherweise stichhaltig, obwohl abzuwarten ist, was aus den bislang verschlossenen Archiven der Alliierten zutage treten wird. Aber das damit verbundene Argument, die Alliierten hätten nicht in den Fehler der Greuelpropaganda verfallen wollen wie im Ersten Weltkrieg, als außer den Sensationsblättern auch Schriftsteller wie Arnold Toynbee und John Buchan über die Barbarei der Deutschen während des Einfalls in Belgien im August 1914 schrieben, scheint mir weit hergeholt. Wird die Naivität der Alliierten auf diese Weise nicht allzu leicht entschuldigt?

Ganz abgesehen von der Invasion im Jahre 1914 in Belgien, die vielleicht nicht ganz so barbarisch war wie die englische Sensationspresse damals behauptete, war die Periode, die Laqueur beschreibt, »quite a different cup of blood«.

In Whitehall und Washington kannte man ja die Pläne der Nationalsozialisten: Mein Kampf war seit fünfzehn Jahren auf dem Markt, die Gespräche mit Hitler seit zehn Jahren. Der Einfall in die Tschechoslowakei und Polen, die Kristallnacht und die Euthanasie-Aktion waren noch frisch in Erinnerung. Die Konzentrationslager im Reich waren bereits berüchtigt, die Totenkopfdivision von Eicke und die Einsatzgruppen hatten schon rund zwei Millionen Morde auf dem Gewissen.

Es hat wenig Sinn, diese Liste mit Dutzenden von Angaben zu verlängern. Einem sachlich denkenden, informierten Bürger hätte dies genügen müssen, um die Berichte über die Massenmorde in Polen glaubhaft erscheinen zu lassen, ohne den Nebengedanken an Greuelpropaganda. Und für Regierungen mit gutgeschulten Diplomaten und Geheimdiensten? War es Naivität oder vorgeschützte Angst, die Bürger könnten die Berichte mit Greuelpropaganda verwechseln? War es lediglich Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Millionen oder fällt die Erklärung weitaus zynischer – und realistischer – aus?

Laqueurs Analyse ist beängstigend genug, erweckt in mir aber den Verdacht er schrecke vor der letzten Konsequenz zurück. Er schreibt: »Auch als man in London und Washington eingesehen hatte, daß die Angaben über die Massenmorde stimmten, sorgten die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten dafür, daß ihnen nicht zu viel Publizität gegeben wurde.« Warum diese Besorgtheit über zu großes Aufsehen? Bei den Juden in diesen Ländern ist die Furcht, als Panikmacher angesehen zu werden, durchaus begreiflich. Doch bei den nichtjüdischen Alliierten? Es sind genau diese Fragen, die uns heute noch genauso heftig schmerzen wie damals.

Ich weiß nicht, ob Gilberts Buch bislang viele Leser gefunden hat. Für mich hat es viele quälende Fragen beantwortet. Die Sphinx ist gestürzt und alle Illusionen sind zerstört. Die Buchseiten stapelten sich wie Bleigewichte auf meinem Geist. Was muß Gilbert beim Schreiben dieser dreihundertfunfzig Seiten empfunden haben? Mit erschreckender Präzision zählt er in chronologischer Reihenfolge die Ereignisse, die Besprechungen, Aufzeichnungen und Memoranden der Allierten auf, die sich auf den Verlauf der Endlösung von Mai 1942 bis Mai 1945 beziehen.

Politischer Zynismus, Opportunismus, Trägheit, Gleichgültigkeit, Haß und Naivität stehen gegenüber der Verzweiflung und dem Untergang der Verfolgten und ihrer Verwandten, Gefährten und Freunde.

Die wenigen Gerechten in Amts- und Regierungsfunktionen wurden daran gehindert, mehr zu tun, als in strategischen und politischen Begriffen zu denken. Gilbert gibt nicht nur die katastrophalen Berichte wieder, sondern zeigt auch, wie Schritt für Schritt, mit jedem Bericht, die Namen der Vernichtungslager zum lähmenden Alptraum wurden.

Es dauerte bis 1942, bevor die Alliierten sich in mühsam errungener Übereinkunft zu einer Erklärung bereitfanden, in der sie Deutschland wegen seiner Ausrottungspolitik verurteilten und in der von Vergeltung und Strafe die Rede ist. Auschwitz wird in dieser Erklärung noch nicht genannt. Es ist bloß ein Name auf der Karte, wenn auch auf einer strategischen Karte.

Die Erklärung, mit großer Mühe zustandegekommen, hat keinen Einfluß auf die Vernichtungspolitik. Wie auch der Krieg verläuft, die endlos langen Viehwaggonzüge rollen unaufhaltsam weiter zu den Gaskammern in Polen.

In den Jahren 1942–1943 ist die Flucht aus Bulgarien und Rumänien offenbar noch möglich. Aber der Transit durch die Türkei und die Zulassung im damaligen Palästina sind Barrieren aus Granit. Kolonialminister Lord Moyne und Kriegsminister Oliver Stanley im britischen Kriegskabinett lassen nicht einmal die niedrigen Einwandererquoten zu, die im White Paper von 1939 für jedes Jahr festgelegt waren.

Trotz Fürsprache, politischem Druck, ja, sogar entgegen der flehentlichen Bitten von Chaim Weizman, Moshe Shertok und vielen anderen, blieben die lebensrettenden Tore geschlossen, außer für einige hundert Kinder, und auch das erst nach dem Eingreifen von Winston Churchill. Unterdessen waren die verrosteten Transportschiffe mit Hunderten von Flüchtlingen an Bord zurückgeschickt worden oder im Schwarzen Meer gesunken. Die Türkei und Großbritannien blieben unerbittlich. Die Politik im Mittleren Osten schien sichergestellt und Hadschi Amin el Husseini, Großmufti von Jerusalem, Freund und Vertrauter von Hitler, Himmler und Eichmann, war zufrieden.

Aber auch im Westen waren alle Tore zu. Amerika und England riegelten ihre Küsten nahezu hermetisch ab vor den jüdischen Flüchtlingen, die Schweiz nahm nur wenige Prominente und Kinder auf, zwischen 1933 und 1945 insgesamt fünftausend Seelen.

Vichy sah ebenfalls nicht nur zu, sondern trieb systematisch über Drancy die Juden in den Tod, zuerst die Emigranten, dann auch die Juden mit französischem Paß. Ein paar Tausend flohen über die Grenze in die von Italien besetzten Gebiete um Grenoble und Nizza. Und die Italiener sahen weg, halfen manchmal sogar tatkräftig. Die Absurdität der Geschichte!

1944 dringen nach und nach Gerüchte über das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs in die Öffentlichkeit. Trotz der zur Beruhigung der Angehörigen verschickten Postkarten aus Auschwitz mit Poststempeln von nicht existierenden waldreichen Erholungsgebieten und einem Datum, an dem wir, wie wir heute wissen, ablesen können, daß der Absender eine Woche zuvor ums Leben gekommen war, ist einigen Slowaken klargeworden, was Auschwitz-Birkenau bedeutet. Doch die Berichte aus der Slowakei und Ungarn werden im Westen immer noch als Horrorgeschichten abgetan.

Erst im April 1944, als Rudolf Vrba und drei Kameraden die Flucht gelungen war und aufgrund ihres mit großer Genauigkeit zusammengestellten Rapports über das fabriksmäßige Morden in Birkenau, geraten die Teilchen des Puzzles allmählich an ihren Platz. Überprüfungen und Nachprüfungen, Verhöre und Kreuzverhöre gehen der Verschickung des Rapports voraus. Die Bedenken der Partisanen und Juden, sie könnten in der Schweiz, in England und in den Vereinigten Staaten auf Ungläubigkeit stoßen, sind geradezu tragikomisch.

Es dauert noch über drei Monate, bis die Schreckensbotschaften in den Hauptstädten der Alliierten eintreffen, und unterdessen verschlingen die Krematorien und Verbrennungsgruben täglich zehn- bis zwanzigtausend Unschuldige. Höchste Eile ist geboten. Hunderttausende Juden in Ungarn könnten noch gerettet werden, Tausende aus den anderen deutschen Besatzungsgebieten. Shertok und Weizmann bitten den britischen Außenminister Eden im Namen der Jewish Agency, die Bahngeleise nach Auschwitz und die Krematorien und Gaskammern bombardieren zu lassen.

John Pehle, Direktor des War Refugee Board (Kriegsflüchtlingskomitees) in den Vereinigten Staaten geht als Vermittler zu John J. McCloy, dem stellvertretenden Kriegsminister, der nach 1945 als Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland Albert Speer und dessen Familie in Schutz nahm und zum Tode verurteilte Kriegsverbrecher wie die Einsatzgruppenkommandanten Jost und Blum begnadigte. Pehle fordert, amerikanische Bomber auf diese Ziele einzusetzen.

Ähnliche Bitten kommen aus der Schweiz, aus Polen, aus Ungarn.

McCloy in Washington und Lord Sinclair in London reagieren zögernd und ausweichend. Ihre Argumente lauteten:

– die Situation müsse untersucht werden;

– die Bombardierung von Eisenbahnknotenpunkten sei nicht zweckmäßig, da diese rasch ausgebessert werden könnten;

– die Flugstrecken seien zu lang, es könne nicht aufgetankt werden;

– die Flugstrecken seien zu lang, das Risiko sei zu groß. Bombenangriffe auf die Krematorien in Auschwitz seien nicht möglich:

– wegen der Flugabwehr müsse zu niedrig geflogen werden;

– es könnten dabei zu viele Häftlinge getötet werden;

– die Ziele seien wegen der Rauchwolken nicht deutlich erkennbar;

– vorherige Aufklärungsflüge seien nicht möglich;

– wegen der Kriegsführung im Westen stünden keine Flugzeuge zur Verfügung;

– es gäbe zu wenig Freiwillige für solche Einsätze; schließlich:

– gezielte Angriffe wie hier erforderlich lägen nicht im Rahmen der technischen Möglichkeiten.

Gilbert, aber auch Lichtenstein, Wyman und Offiziere der amerikanischen Luftstreitkräfte, die 1944 Auschwitz überflogen haben, entkräften diese Argumente der Reihe nach mit unwiderlegbaren Beweisen.

Hier ist nicht der Ort, im einzelnen darauf einzugehen. Nur die zwei eklatantesten will ich hervorheben für alle, die wie ich damals im August 1944 die weißen Streifen der Hoffnung sahen und den Donner der Freiheit in der Ferne hörten.

Gilbert entdeckte in den Archiven des Foreign Office und in den Luftwaffenarchiven der Vereinigten Staaten und Großbritanniens Luftaufnahmen, die vor und nach den Bombenangriffen auf die Ölraffinerien und Fabriken von Monowitz, Blechhammer und Trzebinia gemacht worden waren.

Präzise Fotos, datiert von Mai bis September 1944, von Auschwitz-Birkenau mit seinen rauchenden Krematorien und Menschenschlangen, die auf den Tod warteten. Für die damalige Zeit in hervorragender Qualität. Nur: niemand schenkte diesen Schlangen Aufmerksamkeit, niemand beachtete die Krematorien.

Wer flog die Bomber und woher kamen sie? Die Antwort ist zu einfach, denn sie straft die Argumente Lügen mit einer Leichtigkeit, daß sie sogar heute noch ein Schlag ins Gesicht ist. Um die deutsche Treibstoffversorgung zu unterbinden, hatten die Amerikaner bereits 1943 den Plan »Operation Pointblank« vorbereitet. Im April 1944 entstand über der Region von Auschwitz die erste Serie von Aufklärungsfotos, die außer den Industrieanlagen auch das Lager deutlich zeigten. Nach der Invasion in Italien verfügten die Alliierten über den Flugplatz in Foggia, von dem aus sie mühelos über Poltava – hinter den russischen Linien – die Produktionsanlagen bei Auschwitz anfliegen konnten, und von dem aus sie auch während der »Operation Frantic« Anfang August 1944 den Widerstandstruppen in Warschau Hilfe leisteten.

Die Verluste an Menschen und Material waren relativ gering. Die Bombenangriffe erfolgreich.

Die verirrten Bomben auf Birkenau waren nichts als ein technischer Schönheitsfehler gewesen. Beim Versuch, der deutschen Luftabwehr zu entkommen, hatte sich ein alliierter Pilot seiner Bombenlast entledigt.

* Die Kapos benutzten Spazierstöcke aus dem Besitz der Deportierten

** Flugzeugkommando: Russische Kriegsgefangene, die auf einer Außenstelle Apparate aus abgestürzten Flugzeugen ausbauten und einmal sogar die Bestandteile eines Radios ins Lager schmuggelten.

Tetralogie des Erinnerns

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