Читать книгу Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher - Страница 9

DER ERTRINKENDE

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Immer wenn mein bewegliches, rotbraunes Holzkämmerchen voller Spiegel ein Stockwerk passiert und an einer Gittertür vorbeigleitet, macht das Schmiedewerk des Fahrzeugs einen lauten Klick. Auf und ab fahre ich, vom Keller zum Dachboden, und zu meinem Glück fehlt nur noch die vielknöpfige rote Livree und die flache Mütze des echten Liftboys. Ich bediene die Knöpfe, wie ich es ihn in dem anderen Aufzug des Hotels habe tun sehen, und verschwunden ist die grimmige Langeweile, die mich am Tisch der Eltern und ihrer Bekannten geplagt hat. Niemand sprach dort mit mir und das, was ich aufschnappte, rief die vergessenen Ängste wieder wach, die mich vor einem Jahr überfallen hatten, als Männer in braunen Hemden und mit roten Hakenkreuzbinden die Schaufensterscheiben unseres Geschäftes beschmierten. Die geflüsterten Namen und Schimpfwörter kamen mir bekannt vor, aber der Sinn des Gesprächs blieb im Dunkeln; sogar meine Mutter nahm mit roten Wangen daran teil und vergaß, daß ich dabeisaß. Niemand hielt mich zurück, als ich den großen, hohen Saal verließ, wo aus den schwatzenden Mündern der vielen Erwachsenen die Rauchschwaden wie Schlechtwetterwolken zur Decke stiegen, und Oberkellner mit flatternden Frackschwänzen Tabletts voll Kaffeetassen und Gläser mit grünen, roten und gelben Getränken auf der Hand tanzen ließen, ohne etwas zu verschütten.

An der großen, glatten, glänzenden Theke, hinter der sich Hunderte von numerierten Fächern mit Briefen, Zeitungen und Schlüsseln befinden, komme ich nicht unbemerkt vorbei. Der kahle dicke Mann in moosgrüner Uniform, der mir gleich bei unserer Ankunft die Hand gab und nach meinem Namen fragte, sagt in seinem drolligen Deutsch, daß ich mich nicht verirren soll.

Langsam schlendere ich durch die langen Korridore und betrachte die Bilder mit Hirschen, Hunden und Vögeln an den Wänden. In einem langen, unbekannten Gang, dessen Läufer schon ein wenig verschlissen aussieht, entdecke ich einen Lift mit einem genauso verschnörkelten Gitterwerk wie in dem Gang, wo unser Zimmer liegt. Dort durfte ich weder die Knöpfe drücken noch die beiden Türen schließen. Mutter fürchtete, ich könnte mir die Finger einklemmen, obwohl ich zu Hause mit unserem Aufzug sehr gut umgehen kann.

Die rumpelnde Fahrt vom Keller zum Dachboden und vom Dachboden in den Keller fesselt meine Aufmerksamkeit nicht lange, und als ich auf einen Knopf drücke um anzuhalten, bleibt mein Käfig zwischen zwei Stockwerken hängen. Weder das Zerren an der Innentür noch die Fingerübungen auf den Knöpfen setzen das Fahrzeug wieder in Bewegung. Was zunächst so lustig aussah, ist jetzt bedrohlich geworden. Ich fühle mich wie ein Gefangener und aus den Spiegeln sieht mich ein ängstliches Gesicht mit großen Augen an.

Wie eine Schlange beschleicht mich die Furcht, hier jämmerlich und einsam sterben zu müssen, denn trotz der Hilferufe und gellenden Schreie kommt niemand, um mich zu erlösen.

Ich schrecke hoch, als der Käfig metallisch zu rasseln beginnt. Über mir sehe ich die Schuhe und Beine meiner Eltern und die grünen Hosenbeine des Oberportiers. Meine Hose ist kalt und naß. Die Scham ist größer als die Angst vor Strafe, als die Eltern mich an den neugierigen Erwachsenen vorbei auf unser Zimmer bringen.

Am späten Morgen des nächsten Tages, als sich der hellblaue Nebel über den Weingärten verzieht, erkunden wir das Schwimmbad von Meran mit den langen Reihen von rosafarbenen Kabinen, den bunten Liegestühlen, den kleinen und grossen, tiefen und flachen Becken und dem Kinderspielplatz, der mich wie ein Magnet anzieht.

Nirgends steht ein Schild wie zu Hause, das den Juden den Zutritt verbietet, trotzdem stammelt Mutter verlegen, als sie vor dem Mann an der Kasse steht.

Drinnen entdecken meine Eltern rasch Freunde aus dem hohen Hotelsaal, und die Gespräche werden fortgesetzt, als wären sie über Nacht nicht unterbrochen worden.

Der singende Ruf des Eisverkäufers: »Gelati, Gelati«, übertönt das aufgeregte Geplapper und weckt mich aus meinen Tagträumen auf dem Spielplatz.

Auf dem Rücksitz unseres dunkelblauen Adlers, Vaters makelloser Stolz, schaue ich schläfrig in die vorüberziehende gebirgige Landschaft hinaus. Auf langen geraden Wegstrecken, wenn das Auto ruhig brummt, schiebt er die weiße Reisemütze auf den Hinterkopf und singt aus voller Brust. Mutter fällt ein und die zweistimmigen Arien erklingen im Inneren des Autos freier und fröhlicher als daheim in unserem Musikzimmer.

Die Route entlang dem Gardasee vertreibt meinen Schlaf. In den gespenstischen, roh ausgehauenen Tunnels, in die wir immer wieder eintauchen, überläuft mich genüßliches Gruseln, und im grellweißen Sonnenlicht am Tunnelende kneife ich die Augen zu.

Wenn ich sie öffne, sieht die Landschaft immer wieder anders aus. Was bleibt, ist der tiefblaue See, die grau und rot geäderten Felsen und die weißen Dreiecke der kleinen Segelboote. Manchmal hält Vater bei einem Aussichtspunkt an, zeigt mir durchs Fernglas einen Marmorbruch, ein Dorf, einen Berg in der Ferne oder macht ein Foto.

Im Fernglas erkenne ich selten, was er mir zeigt, aber das sage ich ihm nicht, denn ich möchte nicht darauf verzichten, den schönen schwarzen Apparat in den Händen zu halten.

Riva ist unser Urlaubsziel. Nach dem Drehen am Rändelrad und ein wenig Hilfe beim Suchen des Bildes erkenne ich die meergrünen, blauen und rosa Häuser am Ufer, den Kai des kleinen Hafens, eine mit Flaggen geschmückte Fähre am Landungssteg, die Hotelterrassen mit den Markisen, die wie große Melonenschnitze über den Fenstern hängen, die Menschen an den weißen Tischen, die buntgestreiften Sonnenschirme und die an den Tauen dümpelnden Segelboote.

Kaum eine Stunde später gehören wir in Riva dazu und der Besitzer der Gelateria unserem Hotel gegenüber hat aus den tiefen Kühlzylindern mit den weißen spitzen Metalldeckeln drei bunte Eisbecher für uns gezaubert.

Die nächsten Wochen sind abwechselnd interessant und langweilig.

Auf den Spaziergängen nach Torbole entlang der Autostraße ist es drückend heiß. Voran Vater mit Spazierstock und weißer Mütze, in Knickerbockers und Polohemd. Mutter hinter mir, in leichten Schuhen, ruft ihm zu, seine Schritte ein wenig zu bremsen. Am Strand Badeanzüge mit breiten Streifen. Die Gummibademütze mit dem Band unter dem Kinn verwandelt Mutter in ein fremdartiges Wasserwesen.

Ich spiele mit Sand und Steinen. Manchmal werfen wir uns einen Gummiring zu, aber meistens muß ich mich selbst beschäftigen. Die anderen Kinder bleiben genauso wie ich bei den Eltern sitzen, und neidisch beobachte ich die Familien mit mehreren Kindern. Wie herrlich wäre ein Spielkamerad.

Vater geht spritzend und platschend ins Wasser und kommt als prustendes Seeungeheuer wieder heraus. Ein paar Meter weit wage ich mich mit ihm hinein, aber wenn das kalte Naß mir über die Taille steigt, kann auch seine ausgestreckte Hand mich nicht beruhigen.

Oft sitzen wir in der Sonne unter den Schirmen am Ufer und manchmal kommt ein Wind auf, der das dunkelbraune Haar meiner Mutter zerzaust. Sie steckt es mit Haarnadeln fest, die sie ständig verliert und die ich dann für sie suchen muß.

Am Kai ist viel los. Der Raddampfer, der mir von einem Ausflug auf dem See bekannt ist und dessen ächzendes Metallgestänge im offenen Kasten ich mehr genossen habe als die allerseits bewunderte Aussicht auf dem Deck, bringt bei jeder Ankunft Dutzende von Feriengästen, Dorfbewohnern und Soldaten mit. Die Touristen lassen sich schnatternd auf den Terrassen um uns herum nieder, die anderen verschwinden zwischen den Häusern.

Atemlos schaue ich zu, als einmal eine schier endlose Reihe von Jungen, manche kaum größer als ich, mit dunklen Hemden und Käppis und einem roten Tuch um den Hals, singend die Laufplanke herunterkommt. Am Ufer stellen sie sich in Reih und Glied auf und marschieren singend zum Kai. Dort singen sie weiter, schlagen Trommeln und blasen auf kleinen Flöten. Die Kellner, Gäste und Einwohner eilen zu ihnen hinunter. Wir und die neuen Bekannten meiner Eltern bleiben sitzen, obwohl ich schrecklich gern auch hingegangen wäre. »Das ist die Balilla«, flüstert Vater mir ins Ohr und ich ahne, was das bedeutet.

Der große Oberkellner, Herr Fritz, mit straff zur Seite gekämmtem blondem Haar und großen Ohren, der immer im Frack herumläuft, auch wenn die anderen Kellner nur eine Weste tragen, zeigt mir manchmal die schönen Schiffe auf dem See, erkundigt sich nach meinem Zuhause, nach meinem Hund Senta und was ich später werden will, und bringt mir mit dem Eis oft einen Farbstift, einen Luftballon oder ein Blatt Papier zum Zeichnen. Er redet nicht viel, aber ich weiß, daß er mein Freund ist.

Es sind nur noch wenige Tage bis zum Ende des Urlaubs. Nach einer langen, mühsamen Kletterpartie zum Marmorbruch kehren wir, klebrig von Schweiß und Staub, auf die Terrasse zu unserem vertrauten Tisch zurück. Auch hier ist es schwül und feucht. Über dem See ballen sich graurosa Wolken zusammen, auf dem Kai ist mehr Gedränge und Lärm als sonst. Aus den offenen Fenstern schallen Radiostimmen auf deutsch und italienisch.

Männer stehen in kleinen Gruppen beisammen, hören den Lautsprechern zu und reden laut miteinander.

Ein Raddampfer legt an. Der Himmel färbt sich lila, weiße Sommerhüte fliegen über die Kieselsteine.

Ein Ehepaar mit zwei Jungen, der kleinere etwa sechs Jahre alt wie ich, der größere vielleicht acht, kommen von der Laufplanke geradewegs auf uns zu und setzen sich an den Tisch vor dem unseren. Beide Jungen haben weiße Hemden an. Eifersüchtig schaue ich zu, wie sie die riesigen Eisbecher, die Herr Fritz ihnen bringt, auslöffeln, und verspüre kein Mitleid, als ihre Mutter böse schimpft, weil sie ihre guten Sachen bekleckern.

Ihre und meine Eltern geraten ins Gespräch, und plötzlich scheint es, als redeten alle Erwachsenen auf der Terrasse miteinander und durcheinander. Ich sitze verloren und gelangweilt zwischen den aufgeregten großen Leuten, höre um mich herum die plappernden Stimmen, die schmetternden Lautsprecher, das Donnergrollen in der Ferne und schaue sehnsüchtig dem Spiel der beiden Jungen zu, die am Ende des Landungssteges ein kleines Boot an einer Schnur durchs Wasser ziehen.

Verlegenheit und Furcht vor dem großen Wasser fesseln mich an meinen Stuhl.

Windstöße rütteln an den Markisen und Sonnenschirmen. Boote mit gerefften Segeln tanzen knarrend an der Mole und zerren wie Hunde an ihren Leinen.

Gebannt beobachte ich die Versuche der Jungen, das losgerissene Spielzeugboot einzufangen.

Der Kleine steht weinend an der Stegkante, den Mund weit aufgerissen, aber sein Schrei ist nicht zu hören. Jetzt sehe ich nur noch seinen Bruder, der sich auf dem Bauch liegend tief hinunterbeugt, dann ist auch er verschwunden.

Niemand scheint etwas zu merken. Würgende Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich rufe um Hilfe, doch niemand beachtet mich.

Die Erwachsenen lauschen gespannt der metallenen Stimme aus dem Lautsprecher, die der pfeifende Wind in Fetzen davonweht.

Verzweifelt zeige ich auf den leeren Steg, doch keiner kümmert sich darum. Ich schreie sogar, werde aber wie ein lästiges Kind beiseitegeschoben, als ich an ihren Ärmeln ziehe. Ich renne zum Steg hinunter und sehe, wie der eine Junge im Wasser zappelt. Gleich daneben zwei Hände, die gerade noch über die Wasserfläche hinausragen.

Herr Fritz steht mit dem Rücken zum See und hört ebenfalls zu. Ich ziehe an seinen Rockschößen wie an einem Glockenstrang und fuchtele, fuchtele mit den Händen, stimmlos in den Alptraum schreiend.

Er sieht, was ich sehe, wirft wortlos den Frack ab und springt in den schäumenden See.

Er kämpft mit dem Wasser, zieht den älteren Jungen ans Ufer und sucht an der Stelle, wo die Händen des jüngeren untergegangen sind.

Meine Eltern und die anderen Erwachsenen erwachen aus ihrer Trance, drängen sich an den Rand des Wassers und rufen ihm Anweisungen zu.

Als ich durch einen Wald von Beinen Herrn Fritz erblicke, der triefend, mit zerknautschter, schlaffer Hemdbrust hinter dem Kleinen kniet und seine Arme wie Flügel hochreißt und an den Körper drückt, um ihn wieder zum Leben zu erwecken, bricht der Damm meiner Tränen.

Allmählich verflüchtigt sich der böse Traum. Die Metallstimme aus dem Lautsprecher schweigt, das Pfeifen des Windes läßt nach, das Krakeelen der Erwachsenen verstummt.

Vor mich hinstarrend, hin und wieder aufschluchzend, sitze ich zwischen den Eltern. Lebt er oder ist das schon der Tod? Immer wieder sehe ich vor mir sein bläulich-weißes Gesicht und Herrn Fritz, der seine Arme wie Pumpenschwengel auf und ab bewegt.

Der Applaus meiner Eltern und der anderen Gäste schreckt mich hoch. Herr Fritz kommt auf uns zu, in tadellosem Anzug ohne Knitterfalten. Die Hemdbrust ist steif und sauber, das Haar wieder glattgekämmt mit scharf gezogenem Scheitel. Er bleibt vor mir stehen, beugt sich vor, streicht mir über den Kopf und sagt: »Der Junge lebt, er hat Glück gehabt«, und zu meinen Eltern: »Die Nazis haben Dollfuß erschossen.«

Tage eher als vorgesehen, am frühen Morgen, als Nebelschwaden über dem See treiben und der Sonnenschirm an unserem weißen Tischchen traurig tropft, treten wir die Heimreise an. Auf dem Rücksitz des Adlers betrachte ich fröstelnd die Nacken meiner Eltern. Sie kommen mir gebeugt vor. Aus ihrem Mund kommt kein Lied wie auf der Herfahrt. Nirgends ist es warm und sicher.

Tetralogie des Erinnerns

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