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PETERCHENS MONDFAHRT

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In der Ankleidekabine von Kindlers Strickwarengeschäft hängt der Gummigeruch von alten Armblättern und ein warmer vertrauter Mief wie in Großmutters Zimmer. Die Stecknadelköpfe auf dem Parkett pieksen in meine Ferse, als ich auf einem Bein hüpfend mit dem anderen in das Hosenbein des dunkelblauen Matrosenanzugs fahre.

Mit halb zugekniffenen, stechenden Augen und spöttischbös gespannten Lippen beobachtet der Besitzer mein Gehopse. Meine Mutter, die, wie ich finde, in ihrem hellbraunen Fohlenpelz sehr schön und vornehm aussieht, steht verlegen schweigend mit prüfendem Blick halb hinter ihm. Er ist ein Feind, verkauft aber an Juden, wie ich zu Hause gehört habe. Die Hosenbeine sind unangenehm lang und kratzen grob über den Knien, und plötzlich weiß ich, so müssen sich die Nesselhemden angefühlt haben, die Elisa im Märchen für die Schwanenprinzen webte.

Verdrossen schaut mein Spiegelbild mich an, denn die Matrosenmütze, die vieles wettgemacht hätte, bekomme ich nicht. Stattdessen eine Wollmütze mit Schild, die an Festtagen auch als vorgeschriebene Kopfbedeckung dienen kann. Tausendmal lieber hätte ich eine Tiroler Lederhose mit hübschen Hirschhornknöpfen bekommen, wie die Nachbarsbuben sie tragen, aber den Gedanken daran wage ich nicht laut auszusprechen.

Kummer und Zorn überkommt mich, als der Saum der neuen Hose sich an der Innenseite meiner eiskalten Schenkel reibt.

Die Aussicht, in ein paar Tagen im großen Schauspielhaus die Weihnachtsvorstellung von Peterchens Mondfahrt mit meinen Eltern zu besuchen, läßt mich das Ungemach vergessen.

In einem Nebel kleiner Schneeflocken, durch den die Strassenlaternen wie Vollmonde schimmern, gehen wir zu dritt an den Fenstern der Geschäfte und Wohnhäuser entlang. Hinter den halbgeöffneten Vorhängen sieht man leuchtende Weihnachtsbäume und Adventskränze, die es bei uns zu Hause nicht gibt. Mutter kann mir meine Sehnsucht nachfühlen, aber Vater schlägt den Wunsch nach dem winterlichen Grün barsch ab: Dafür haben wir Chanukka.

Er geht ein paar Schritte vor uns her. Ein Riese in dunklem, schwerem Mantel und einem steifen schwarzen Hut mit runder Krempe, einem Bowler. Sein Spazierstock, ein Wunderding mit verborgenem Regenschirm, ist größer als ich. Fast nie benutzt er ihn als Stütze beim Gehen; es ist ein langer Zeigefinger, mit dem er auf Menschen und Gegenstände zeigt und den er beim Grüßen emporschwenkt.

An der Ecke zum Leopoldsplatz gesellt sich Onkel Rudi, Vaters Schulfreund, lachend zu uns. Er lacht oft und bringt es manchmal fertig, daß sich die scharfen Falten um Vaters Mund glätten. Von hier aus kann ich das hell erleuchtete Schaufenster seines Geschäftes mit dem Spielzeug, dem Porzellangeschirr und den Küchengeräten sehen. Die Spielzeugpistole, die er mir kürzlich geschenkt hat, hüte ich wie einen Schatz, aber leider ist die Munition ausgegangen und darf nicht nachgekauft werden.

Wir schlagen die Richtung zum Kurhaus ein, das ich im nebligen Licht undeutlich wiedererkenne, von den Sonntagmorgenspaziergängen zur Trinkhalle, wo ältere Leute das übelriechende Wasser trinken und wo ich von den schaurigen Wandmalereien mit geharnischten Rittern, Drachen, schnaubenden Pferden und verängstigten Jungfrauen eine Gänsehaut bekomme.

Links vom Kurhaus schimmern die milchweißen Kugeltrauben der Theaterlaternen durch die kahlen Bäume der Lichtenthalerallee. Während der Sommer- und Herbstspaziergänge mit Mutter und Senta, meiner schwarzen Schäferhündin, hätte ich mir nie träumen lassen, daß abends das rosa Theatergebäude zu einem Märchenpalast wird.

Rudi beschleunigt plötzlich seine Schritte, rennt mit flatternden Hosenbeinen voran und deutet auf zwei überlebensgroße Schneefiguren, rosafarben im Widerschein der Theaterfassade. Ein schlanker Mann, eine dicke Frau und zwischen ihnen ein großer dünner Windhund mit Kohlen als Augen.

An dem Hund erkenne ich die Figuren: meine Tante und ihren Verlobten, den Schauspieler mit Monokel, Pelzkragen und spitzen Schuhen. Die Kutscher der Droschken, in denen die beiden Abend für Abend ins Theater fahren, haben die Schneestatuen gemeinsam gebaut, aus Sympathie, oder, wie mein Vater behauptet, wegen der hohen Trinkgelder.

Die weiß-rosa Vorderfront des Theaters, der Balkon mit den Lämpchen, die Steinfiguren am First, alles erscheint größer, schöner, eindrucksvoller als bei Tage. Aus den Scheiben der vielen Bogenfenster funkelt Licht. Die mittlere der drei Eingangstüren steht weit offen und der rote Läufer kommt uns bis zur steinernen Treppe entgegen.

Alles um mich herum ist wie ein Märchen. Das dunkle Rot der unübersehbaren Stuhlreihen, der sanft ansteigende Fußboden, die hellblaue Decke mit rosa Baby-Engeln, die großen und kleinen goldfarbenen Leuchter, die Masken und pausbäckigen Posaunenbläser, die riesigen, wie Baumpilze vorspringenden Balkons, der rotglänzende, wellige Vorhang, das alles gleicht einem Königspalast, in den ich, der kleine Muck, auf Zauberpantoffeln hineingeflogen bin.

Nicht sehr weit vom Vorhang schiebe ich mich zwischen den Eltern zur Mitte einer Sesselreihe und versinke in rotem Plüsch. Hinter mir kichern zwei Mädchen mit blonden Zöpfen und Haarschleifen. Umzusehen getraue ich mich nicht.

Als die Lichter langsam verlöschen, verstummen auch die Geräusche unter den »Psst«-Gezischel der Eltern. Ein Hauch von Stille und Erwartung liegt über dem Saal bis zu dem Augenblick, als rechts hinter dem Vorhang ein Schlitten mit künstlichen weißen Rehen und Glöckchen auf die Bühne gleitet. Ein kleiner, gebeugter Mann mit langem Bart, Pelzmütze und einer braunen Kutte steigt ab. Auf seinem Rücken ein voller Jutesack, den er brummend mitten auf der Bühne auf den Boden stellt. Eindringliches Geflüster entlang den Reihen: »Der Weihnachtsmann, schau, der Weihnachtsmann.« Statt des erwarteten Märchenspiels, von dem meine Eltern mir zu Hause erzählt haben und dessen Melodien mir als Schlaflieder vertraut sind, steht dort ein Weihnachtsmann und macht mir Angst mit seiner Rute und dem Sack, in den er die Kinder steckt und mitnimmt.

Von seinem hohen, beleuchteten Platz herab spricht er zu uns, aber was er sagt, dringt nicht zu mir durch. Dann nennt er einen Namen oder zeigt auf ein Kind, das zu ihm heraufkommen soll. Einige sind in Tränen aufgelöst, andere klettern ganz mutig auf die Bühne. Mit polternder Stimme fragt er, ob das Kind in diesem Jahr ungehorsam gewesen sei. Er läßt die Rute liegen und packt Honigkuchen und Marzipan aus dem Sack, wenn der Junge oder das Mädchen ein Lied für ihn singt oder ein Gedicht aufsagt.

Das Herz stockt mir schier vor Schrecken, als ich meinen Namen höre. Mit glühendem Gesicht und Tränen in den Augen versuche ich vergeblich, meine Freiheit zu verteidigen. Der verlockende Lebkuchen und die ermutigenden Worte meiner Mutter reichen nicht aus, das Gefühl der Beklemmung zu vertreiben. Dann vernehme ich ein kichernd geflüstertes »Hosenscheißer« hinter mir und zornig stoße ich die Knie beiseite, die mir den Weg zum Seitengang versperren.

Die Stufen zur Bühne sind höher als vermutet, und als ich in die Schlucht des Orchestergrabens hinunterblicke, vergesse ich die Angst vor dem Weihnachtsmann. Hier oben sieht er viel größer aus. Er winkt mir freundlich zu und zögernd gehe ich über den Bretterboden zu ihm hin. Ich wage nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Die Reisigrute und der Sack halten mich in ihrem Bann, und als er brummend fragt, ob ich artig oder ungezogen war, antworte ich mit heiserem Flüstern.

Ich kann ihm ja nicht gut von meiner Missetat im Café Schweinfurt berichten, wo ich aus Langeweile und Ärger über das endlose Geschwätz meiner Tanten mit der Inhaberin alle Schokoladenröllchen und Kirschen von einer großen weißen Schwarzwäldertorte geklaubt und mir in den Mund gesteckt habe.

Ob ich ihm ein Lied vorsingen wolle? Ein Gedicht aufsagen? Meine Kehle ist wie zugeschnürt, mein Kopf wie eine Windmühle. Er brummt: »Kommt ein Vogel geflogen ...« Ich versuche zu singen, aber kein Ton kommt aus meinem Mund. Im Saal werden Stimmen laut. Er beugt sich vor und hält mir sein Ohr hin, damit ich hineinflüstere.

Dieses Ohr kenne ich, auch das Haar drumherum, und als ich seine Augen aus der Nähe sehe, weiß ich, daß jetzt alles gut ist. Die Angst verfliegt, ich möchte ihn umarmen.

Meine Kehle wird frei und meine Stimme jubelt: »Du bist ja gar nicht der Weihnachtsmann, du bist der Onkel Herbert!«

Ich merke, daß er erschrickt und mit zusammengepreßten Lippen lächelt, als von unten Zischen und schallendes Gelächter ertönt. Warum der Nachbar, der über uns wohnt, der Schauspieler, der so oft zum Kaffee zu uns kommt, jetzt auf einmal den Weihnachtsmann spielt, verstehe ich nicht. Ich singe ihm das Liedchen, das er mir vorgebrummt hat, ins Ohr, bekomme ein großes Lebkuchenherz und steige im grellen Scheinwerferlicht glücklich und zufrieden die Treppe neben dem gruseligen Orchestergraben hinunter.

Auf dem Weg zu der Reihe, wo meine Eltern sitzen, schauen mich die Leute mit schmunzelnden oder bösen Gesichtern an.

An vielen Knien vorbei schiebe ich mich zu meinem Platz. Ich bin noch ganz benommen von meinem Abenteuer, so daß ich die Bemerkungen der Zuschauer gar nicht höre. Die blonden Mädchen in der Reihe hinter mir wenden den Blick ab, als sei ich Luft. Ihr Vater beugt den Kopf mit der kurzgeschnittenen Stoppelfrisur zu mir herüber und herrscht mich wütend an: »Frecher Judenbub, ich könnte dich ...«

Die folgenden Worte gehen in den ersten Takten der Ouverture unter und mit klopfendem Herzen warte ich, bis der Vorhang aufgeht.

Tetralogie des Erinnerns

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