Читать книгу Der Investigator - Gerhard Nattler - Страница 4
ОглавлениеKapitel 1.
Adebar, durch sein weißes, in der Sonne glänzendes Federkleid weithin sichtbar, beobachtete von seinem Thron aus sein Revier im Hervester Bruch und gab Acht auf seine Gattin Luise, die geduldig ihren Nachwuchs bewachte. Sein Kollege in einigen hundert Metern Entfernung, der in seinem Revier nach Fröschen suchte und dabei sehr erfolgreich war, ließ ihn gleichgültig. Er störte ihn nicht, denn es war für alle genug Nahrung vorhanden. Werner hatte alles unter Beobachtung: das Moor, den Wald, die feuchten Wiesen mit vielen bunten Blumen und den kleinen See. Die vielen Besucher, die ihre Fahrräder an den Zaun gelehnt hatten, und die anderen Leute, die sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatten, um ihn und seine Gattin zu bewundern, ließen ihn kalt. Auch der Hochsitz, der seit Jahren in einiger Entfernung einsam am Waldrand Wache hielt, passte in sein gewohntes Bild. Was er nicht sah, war der Mensch, der oben in einer Ecke des Ansitzes lag. Zusammengesackt, von Fliegen und Mücken umschwirrt, mit Maden übersät. Seit einigen Tagen lag er dort. Regungslos.
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Oberstudiendirektor Dr. Otto Brinkhoff, seines Zeichens promovierter Biologie- und Chemielehrer am Gymnasium Petrinum, befand sich seit einem Jahr im Ruhestand. So konnte er sich jetzt ganz seinem Hobby widmen, Flora und Fauna in unberührter Natur zu beobachten. Sein Taschenhandbuch zur Bestimmung der heimischen Pflanzen- und Tierwelt hatte er inzwischen durch eine App auf seinem Smartphone ersetzt nebst einem Notizbuch, in das er Beobachtungen von selten zu sehenden Pflanzen und Tieren samt Fotos säuberlich eintrug. Sogar Tonaufnahmen konnte er speichern. Er brauchte diese Hilfsmittel nur selten und nur in fremder Umgebung, wie bei einem Ausflug in die Eifel oder den Harz, und dann auch nur zu seiner Eigenkontrolle. Unsicherheit konnte er bei sich ebenso wenig leiden wie früher bei seinen Schülern die Fehler. Bisweilen veranstaltete er Seminare für Studenten. Er wanderte mit ihnen durch die verschiedenen Landschaften Deutschlands und erklärte den Studenten der Biologie und Pharmazie die Pflanzen mit volkstümlichen Namen und lateinischer Nomenklatur, Eigenschaften und bevorzugten Standorten. Gegebenenfalls wusste er auch die Bedeutung als Heilpflanze zu erläutern. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf Moose und Flechten, denen seiner Meinung nach nicht die Aufmerksamkeit zuteilwurde, die ihrer Bedeutung für die Natur entsprach. Das alles veranstaltete er kostenlos und mit großer Begeisterung, denn die Erhaltung der Natur lag ihm am Herzen. Auch freute es ihn, wenn er bei der Schar der Jugendlichen, die ihn auf den Exkursionen umringte, auf Interesse stieß. Als Otto der Große war er unter den Studenten eine Institution, bekannt von Münster bis Köln und darüber hinaus. Von Frühjahr bis zum Herbst war er stets einmal am Tag in der freien Natur unterwegs. Meistens morgens in aller Frühe, »wenn die Natur erwacht«, wie er mit Glanz in den Augen zu verkünden pflegte.
Auch heute war Otto der Große wieder unterwegs. Seinen Namen verdankte er ehemaligen Schülern – nicht nur wegen seiner Größe von zwei Metern, sondern auch wegen der Autorität, die er als Direktor der Schule sowohl bei den Schülern und Eltern als auch innerhalb des Kollegiums genossen hatte. Sein Auto hatte er im Hervester Bruch auf dem kleinen Wanderparkplatz abgestellt. Zunächst ging er der gerade aufgehenden Sonne entgegen und war begeistert über dieses wunderbare Schauspiel. Oben auf der kleinen Brücke hatte er weite Sicht. Er entschied, die Situation mit seinem neuen Filteraufsatz auf dem Objektiv einzufangen. Vier Versuche brauchte er für ein vollkommenes Foto. Kurz darauf bog er rechts ab in den Wald und nahm Kurs auf den Hochsitz. Er hatte vor, sich mit einem Freund zu treffen, der ihm einen Teilalbino unter seinen Rehen zeigen wollte. Mit Fotoapparat, Filmkamera und einem Mikrofon bepackt, wollte er Material sammeln für sein Vorhaben, ein »kleines Bilder- und Notizenbuch« über den Hervester Bruch zu schreiben. Das Bild, das er gerade geschossen hatte, hielt er nicht ungeeignet für ein Titelbild.
Die Luft war mit siebzehn Grad noch angenehm an diesem frühen Augustmorgen um halb acht, aber er ahnte schon, dass heute wieder ein sehr warmer Tag anbrechen wollte, vielleicht mit einem kräftigen Gewitter gegen Abend.