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Kapitel 5.
ОглавлениеAls Berendtsen sich am nächsten Morgen um acht Uhr bei Uschi anmeldete, lehnte Hallstein bereits mit einer Tasse Kaffee in der Hand rückwärts an der Fensterbank und wischte mit dem Daumen der linken Hand über die Bilder in seinem Smartphone. Uschi bestaunte die neuesten Fotos seiner Kinder. Berendtsen bekam ebenfalls eine Tasse in die Hand gedrückt und Hallstein ließ sein Handy in der Hosentasche verschwinden.
»Zwei Neuigkeiten: Frau Hillebrandt war in der Pathologie. Ich habe sie begleitet. Sie war tapfer. Die Kosmetikerin in der Pathologie hatte ihn den Umständen entsprechend ordentlich hergerichtet. Sie hat ihren Mann identifiziert. Danach fragte sie nach der Beerdigung. Da noch kein Abschlussbericht vorliegt, konnte ich darüber keine Auskunft geben. Ich habe ihr versprochen, sie sofort anzurufen, sobald die Obduktion abgeschlossen ist. Heute Morgen habe ich nochmals in der Pathologie angerufen. Rother glaubt, am Montag ist sie fertig. Dann können wir den Leichnam freigeben. Die andere: Herr Dr. Brinkhoff war gestern Abend noch hier. Wir haben das Protokoll aufgesetzt und er hat unterschrieben. Bei der Gelegenheit habe ich ihn gleich nach dem Jägertreffen im Allgäu gefragt. Er hat anscheinend – er zitierte aus seinem Notizbuch - ›keinerlei Kenntnis von einer intensiveren Verbindung zwischen Hillebrandt und einer anderen Person‹, wie er versicherte. Ich halte die Aussage …, vorsichtig ausgedrückt, schlichtweg für eine Unwahrheit.« Er ergänzte: »Nicht wahr?«.
Berendtsen blickte seinen Kollegen verblüfft an. Dann platzte er vor Lachen.
»Das glaube ich sofort.« Berendtsen bot seine Tüte an. Vergebens. Er selbst wählte ein grünes. »Schreibst du alles in Stenografie auf, wie ich sehe?«
»Immer schon. Ich habe in der Oberstufe ein Wahlpflichtfach belegt. Ich hatte viel Spaß daran und habe dementsprechend viel geübt. Es macht sich bemerkbar.«
Berendtsen war erstaunt. Sie arbeiteten bereits ein volles Jahr zusammen, aber er hatte es nie bemerkt, wohl gewundert, mit welcher Geschwindigkeit Hallstein die Stichworte eingetragen hatte.
»War die Spusi gestern noch in Sythen? Hat jemand etwas mitbekommen?«
»Willi war selbst dabei. Ich habe aber noch keine Infos. Der PC ist jedenfalls mit einem Passwort geschützt. Das dauert noch. Da muss erst Schubert ran.«
»Wer?«
»Schubert, unser neuer EDV-Experte. Soll fähig sein.«
»Schubert heißt er? Ein hoch aufgeschossener Blonder? Habe ich schon kurz bei der Spurensicherung getroffen. Er machte auf mich einen leicht ungepflegten Eindruck.«
»Da könntest du recht haben, mein Freund. Dafür ist er aber ein top Mann. Er soll keinen Staat machen, er soll Probleme lösen. Das tut er.«
Berendtsen erkundigte sich per Handy bei Willi, der aber nichts Neues zu berichten wusste. Er trank den Rest Kaffee mit einem großen Schluck aus und setzte eine Kaskade von Widrigkeiten in Bewegung. Er verschluckte sich, hustete heftig. Der Löffel rutschte von der Untertasse unter den Tisch. Erst musste er einen Stuhl verrücken, dann den Tisch, in die Ecke kriechen, um den Löffel zu erreichen, stieß sich auf dem Rückweg den Kopf, fluchte über die Situation und warf den Löffel ärgerlich auf die Untertasse, die einen Riss davontrug. Zu allem Unheil entdeckte Uschi einen Kaffeefleck auf seinem weißen Hemd. Mit etwas Mineralwasser hatte sie den Schaden umgehend behoben. Das beinahe schadenfrohe Lächeln in ihrem Gesicht fand er gar nicht lustig. Ein Blick auf die Uhr. Um diese Zeit war Brinkhoff noch in der Natur unterwegs. »Ich denke, im Moment können wir nichts unternehmen. Ich bin im Büro.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Hast du Lust, gegen zehn Uhr Kaiser Otto zu besuchen?«
»Ich bin in einer Stunde bei dir im Büro.«
Berendtsen rief Vera an. Frau Dr. Vera Zimmermann war die Kriminaldirektorin und Polizeichefin im Kreis Recklinghausen, mit der er seit der Schulzeit eng befreundet war. Er berichtete kurz über den Stand der Ermittlungen wie sie weiter vorzugehen gedachten. Dann kam er über seine Familie auf seine Tochter zu sprechen und auf die Schwierigkeiten des Jurastudiums. Sie konnte ebenfalls ein Lied davon singen. Ganz nebenbei erwähnte er die Hausaufgabe seiner Tochter und erzählte von ihrer Not. Vera zeigte großes Verständnis und erklärte aus dem Stehgreif kurz und übersichtlich, wie dieser Fall im Allgemeinen entschieden würde. »Das Problem bei unserem Studium ist, dass alle recht haben können, wenn sie nur dementsprechend argumentieren«, lachte sie. Ihr war es in den Anfangssemestern ebenso ergangen. Berendtsen dachte an Sophie. Sie war lieb und gescheit, sehr ehrgeizig, aber manchmal fehlte ihr Mut und Geduld und Entscheidungsfreudigkeit. Das hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die auch stets vorausschauend und planend agierte und weniger spontan war als er. Sein Blick fiel auf sein iPad. Er hatte zum aktuellen Fall in seine neue App noch nichts eingetragen. Wenn sie auch noch nicht betriebsbereit war – ob es jemals dazu kam ließ er dahingestellt -, so hatte er mehr Spaß daran, sie zu programmieren als mit ihr zu arbeiten. Er hatte in Hamburg begonnen, sich tief in die Sprache PHP einzuarbeiten. Es machte ihm Spaß. Er hatte eine Menge nachzutragen. Es ging um die Leiche, m/w/, wer, wann, wie und wo waren die wichtigen Felder zu Anfang des Protokolls. Zeugen? Er war gerade dabei, die Personalien von Dr. Otto Brinkhoff einzugeben, als Hallstein nach kurzem Klopfen in sein Büro eintrat und ihn daran erinnerte, dass sie sich um halb zehn auf den Weg machen wollten. Nach einem routinierten Griff in die Schublade, um die Reserve an Bärchen für unterwegs aufzustocken, schnappte er sich sein Jackett und schloss hinter Hallstein die Tür ab.
Hallstein hielt ihm die Beifahrertür auf. Berendtsens Erstaunen kommentierte er mit »nur so«. Sie brauchten knapp eine Stunde bis in die Widukind Straße.
Sie parkten vor dem Haus aus gebrannten Ziegeln in verschiedenen Rottönen. Eine niedrig geschnittene Hecke aus Lebensbäumen säumte eine kleine Mauer aus denselben Steinen mit aufgepflanzten kurzen Metallstäben in der Form kleiner Pfeile, quer verbunden durch zwei parallele Metallstäbe. Das Tor in der Mitte der Abgrenzung stand offen. Sie gingen die wenigen Schritte über die Terrazzoplatten durch den Vorgarten, stiegen die fünf Stufen hinauf und schellten an. Brinkhoff stand bereits hinter der Tür und öffnete prompt mit den Worten: »Ich habe ihn schon oft ermahnt, aber es nützt nichts. Er lässt das Tor penetrant offen. – Der Postbote«, ergänzte er auf die Blicke der Kommissare hin. Sein Handschlag war kräftig für sein Alter. »Freue mich über ihren Besuch. Nicht wahr. Treten Sie bitte ein.« Er führte sie durch einen langen Flur am Wohnzimmer vorbei direkt auf die Terrasse. Berendtsen konnte einen kurzen Blick in die Stube erhaschen: glatte Flächen, Kirschbaumholz, Sekretär nebst Anrichte, ein Flügel. Parkettboden. Biedermeier. Passte zu ihm, stellte er fest. Die Markise war nach dem morgendlichen Schauer bereits wieder ausgefahren und die Bezüge waren ordentlich auf den Gartenmöbeln festgezurrt. An der Wand lehnte ein Wischer. Anscheinend hatten sie den Hausherrn bei seiner Arbeit unterbrochen. Die Fliesen waren gewischt, aber noch stand eine kleine Pfütze auf dem schmiedeeisernen antiken weißen Tisch auf dem Rasen, ebenso auf den Sitzflächen der vier dazu passenden Stühle. Ein kurzer Blick auf seine Schuhe – feucht.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten, meine Herren Kommissare? Ein Glas Wasser dürfen Sie mir nicht abschlagen, nicht wahr.« Er servierte das Wasser aus einer Kristallkaraffe aus dem Wohnzimmerschrank in die dazu passenden Gläser. Er schien in Berendtsens Augen nicht häufig Besuch zu haben, sonst würde er nicht solchen Aufwand mit dem »Guten« betreiben. »Was führt Sie zu mir, meine Herren?« Er legte ein Buch an die Seite. »Schmeil-Fitschen. Das Standardwerk der Pflanzenbestimmung. Ganz neu erschienen. Muss von Zeit zu Zeit etwas repetieren, nicht wahr. Durch den ständigen Gebrauch des Smartphones wird man immer vergesslicher. Das merkt man schon an den Telefonnummern. Früher konnte ich wer weiß wie viele Rufnummern auswendig wählen. Heute drückt man auf das Telefonbuch … fertig.«
»Ein schönes Anwesen haben Sie hier, Herr Dr. Brinkhoff. Alles wunderbar gepflegt. Die Gartenarbeit obliegt Ihnen, dem Mann der Naturkunde? Ich sehe sogar ein Gewächshaus.«
»Mein Hobby, nicht wahr. Ich habe verschiedene Pflanzen, die sehr selten anzutreffen sind und viel Aufmerksamkeit erfordern. Mein ganzer Stolz ist ein kleines Biotop in diesem Glashaus, in dem mehrere Exemplare des Sonnentaus und des Fettkrautes wachsen. Sagen Ihnen die Pflanzen etwas?«
»Es sind Karnivoren, fleischfressende Pflanzen, Drosera rotundifolia, weiß ich, aber den lateinischen Namen der anderen kenne ich nicht. Gesehen habe ich aber mal ein Fettkraut in den Alpen, am Ufer eines kleinen Biotops im Vinschgau.«
»Richtig! Genau da findet man sie. Pinguicula alpina. Behalten Sie den Namen, Berendtsen, werde ihn bei Gelegenheit abfragen, nicht äh, nicht wahr.« Plötzlich war er zurückversetzt in sein Leben als Biologielehrer. Mit entsprechender Miene und hinter dem Rücken verschränkten Armen. Er ging zwei Schritte auf die Beamten zu und entspannte seine Haltung. Auch die Miene klärte sich sogleich wieder auf. »Aber nun zum Thema, meine Herren. Was kann ich tun?«
Berendtsen nickte Hallstein auffordernd zu.
»Herr Dr. Brinkhoff, bereits gestern habe ich Sie nach der Treibjagd am Forggensee befragt.« Hallstein ließ die Worte einige Sekunden wirken. Sie wirkten, wie er an den Augenbrauen seines Gegenübers feststellen konnte. »Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass Sie nicht so unwissend sind, wie Sie uns mitgeteilt haben. Wir gehen davon aus, dass Sie uns nun wahrheitsgemäß Auskunft geben. Wir müssten sonst … Aber das ist eine andere Sache.«
Berendtsen biss sich leicht auf die Oberlippe. Dadurch wirkten seine Gesichtszüge deutlich strenger. Er hatte es oft ausprobiert. Wieder nützte es.
»Als Sie mich gestern fragten, Herr Hallstein, habe ich wahrheitsgemäß geantwortet, aber ich will nicht herumreden … Ich habe gestern Abend hier zuhause noch einmal darüber nachgedacht. Es könnte sein, dass Karl-Heinz sich nach zwei Tagen etwas anders benommen hat als normal. Am dritten Tag - wir gingen auf Hasen - war er nicht mit auf der Jagd. Und noch jemand fehlte. Sie hatten, wie wir übrigen feststellten, eine Wanderung um den See unternommen und wir trafen sie auf der Terrasse eines Cafés. Sie trafen sich mehrmals. Wir anderen haben ein wenig über sie gelästert, muss ich sagen, nicht wahr.«
Berendtsen nickte auffordernd.
»Der Name interessiert Sie, nicht äh, nicht wahr?« Er war leicht verlegen wie ein ertappter Schüler.
Hallstein zückte sein Notizbuch, zog den Bleistift aus der seitlichen Halterung. »Und?«
»Nun, wenn ich mich recht erinnere ist es … nun, sein Name ist Josef Brandner. Er ist – unter Vorbehalt – Regierungsrat in Münster und wohnt auch dort. In Wolbeck, genauer gesagt.«
»Herr Dr. Brinkhoff, was wissen Sie noch über den Mann?«
»Was könnte ich schon wissen? Ich habe nur zweimal mit ihm gesprochen. Ein netter sympathischer junger Kerl von rund fünfunddreißig Jahren. Sportler durch und durch. Er hat keine eigene Jagd, war aufgrund einer Einladung dabei.«
»Weiter! Wer hat ihn eingeladen?«
»Es war ein Spediteur aus Gladbeck, wie ich mitbekommen habe. Den Namen weiß ich nicht. Tut mir leid. Wir mussten uns am Anfang des Treffens alle kurz vorstellen, aber bei dreißig Leuten …«
»Das hilft uns ordentlich weiter«, bestätigte Hallstein, klappte sein Notizbuch zu und erwartete, dass sein Chef sich erhob.
»Dann haben wir für heute keine Fragen mehr, Herr Dr. Brinkhoff«, bedankte sich Berendtsen. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung.« Er trank sein Glas aus und wandte sich zum Gehen. Auf dem Weg durch den Flur fragte er: »Spielen Sie Klavier?«
»Wenig. Durfte mich zwei Jahre mit der Violine herumschlagen und danach habe ich fünf Jahre Klavierunterricht genossen. Mehr oder weniger gegen meinen Willen. Mein Vater unterrichtete an der Musikschule, nicht wahr. Etwas ist dennoch hängengeblieben. Wenn Sie auf den Flügel anspielen … es ist ein Bechstein und fest in der Hand meiner Frau. Sie spielt jeden Tag. Sie hat früher Konzerte gegeben. Hin und wieder spielt sie noch auf städtischen Veranstaltungen oder bei Schulaufführungen wie Abitur. Haben sie einmal eines ihrer Konzerte besucht? Sie würde Ihnen bestimmt eine Probe ihres Könnens darbieten, aber sie ist zum Einkaufen.«
Brinkhoff öffnete voller Stolz den Klavierdeckel über den Tasten, dann öffnete er den Korpus. Berendtsen betrachtete den Stimmblock und die sauber angeordneten Saiten mit Bewunderung.
»Wenn Sie ihn testen möchten? Bitte! Spielen Sie, Herr Kommissar?« Er entfernte sie Samtauflage über der Klaviatur.
Berendtsen klimperte bekannte vier Takte.
»Die ersten vier Takte von Beethovens Bagatelle Nr. 25, nicht wahr? Auch bekannt unter ›Für Elise‹. Können Sie spielen? Bitte versuchen Sie es.«
Zu aller Verblüffung rückte sich Berendtsen die Bank zurecht, stellte die Höhe ein und begann mit einem Tusch.
Das Stück war bekannt. Brinkhoff und Hallstein stampften im Rhythmus mit den Füßen und klatschten entsprechend mit den Händen zu ›Alte Kameraden‹. Er spielte noch das Trio und verzichtete auf die Wiederholung.
»Großartig! Ich muss sagen … groß-ar-tig!« Brinkhoff gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Auch Hallstein gestand seine absolute Bewunderung ein. Er war baff, dass sein Chef nicht nur spielen konnte, sondern in diesem Format. »Sauber!«, sagt er begeistert.
»Da fällt mir noch eine Frage ein: Sie waren am Mittwoch mit Hillebrand verabredet, nicht vorher?«
»Karl-Heinz wollte sich schon am Montag mit mir treffen, aber da konnte ich leider nicht. Ich wollte mit meiner Frau einen kleinen Ausflug machen. Wir haben den Termin verschoben. Am Sonntag hat er mich dann angerufen und wir haben uns für Mittwoch verabredet.«
»Es war eine klasse Vorstellung, Albert. Du hast es drauf. Alle Achtung!«, kam er auf dem Weg zum Wagen noch einmal auf das Spielen zurück. Er hielt dem »Solisten« wieder die Wagentür auf und verbeugte sich mit übertriebener galanter Geste.
»Auf alle Fälle bin ich froh«, begann Berendtsen im Auto, »dass wir ein Klavierkonzert der Gattin des Oberstudiendirektors a. D. haben vermeiden können. Gib Gas, Oliver, sonst ist sie noch zurück, ehe wir weg sind.«
Sie lachten.
»Mein Nachbar ist Redakteur bei der Ruhrzeitung. Er erzählte mir beiläufig, dass Hillebrandt sich bei ihm nach alten Artikeln über einen Umweltskandal in Gladbeck erkundigt hatte. Vielleicht sollten wir dort mal nachhaken. Würde nach einem Motiv aussehen. Bei Umweltdelikten geht es immer um eine Menge Geld.«
»Auch Streit. Daran scheitert ein Unternehmen häufig.« Hallstein bog in die Dülmener Straße ein.
Berendtsens Handy klingelte.
»Hallo Uschi, was gibt’s?«
»Die Kontodaten Hillebrandts sind eingetroffen.«
»Wir sind unterwegs. Danke für den Anruf und eins noch: Wir suchen einen Spediteur aus Gladbeck. Wohl ein größerer Betrieb.«
»Kümmere ich mich drum. Bis nachher.«
»Noch eines: Versuchen Sie etwas über einen Regierungsrat Josef Brandner herauszufinden. Wohnhaft in Wolbeck.«