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Kapitel 3.
ОглавлениеDer weiße Bungalow in Sythen lag abseits, von Wiesen und einem Maisfeld umgeben, an einem Waldrand als letztes von drei Häusern. Die Navigation dirigierte den Wagen über einen Wirtschaftsweg. Sie bogen links ab und sahen das Haus am Ende der Straße in der Sonne glänzen. Die Straße führte weiter in einem langen Bogen zu einem benachbarten Bauernhof.
Hallstein bediente den Klingelknopf. Westminster, Big Ben. Die Kommissare stellten sich vor und hielten ihre Ausweise vor die Linse. Ein Summen ertönte und das Gartentor sprang auf. Hallstein ging voraus. Berendtsen registrierte drei Überwachungskameras, die den Eingangsbereich im Visier hatten.
»Frau Marianne Hillebrandt?«, begrüßte sie Hallstein. In der Tür stand eine auf gutes Aussehen getrimmte Frau mit hochgestecktem braunem Haar. Berendtsen schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie trug ein grünes T-Shirt und knappe braune Shorts, die ihr seiner Meinung nach nicht zum Vorteil gereichten, denn ihre Beine erschienen ihm zu dünn. Insgesamt hatte diese Frau ein paar Kilo zu wenig, was vermutlich am Rauchen lag. Hinter ihrer tiefen Bräune und den zahlreichen Falten im Gesicht vermutete Hallstein eine Sonnenbank im Keller.
Fast unbemerkt erschien hinter ihr ein großer Hund, der ihr bis zur Hüfte reichte, und zwängte sich neben Tür und Frauchen, um den Besuch zu taxieren. Es handelte sich offensichtlich um den Jagdhund. Braun kurzhaarig, glattes glänzendes Fell, Schlappohren, helle Brust. Er nahm Witterung auf und stand still. Nur der Schwanz pendelte leicht hin und her.
»Steht vor Ihnen. Was führt Sie hierher?«
»Frau Hillebrandt, es geht um Ihren Mann. Dürfen wir einen Augenblick hineinkommen?«
»Mein Mann ist nicht zuhause. Wenn Sie mit mir vorliebnehmen wollen, treten Sie gerne ein, meine Herren. Vielleicht kann ich helfen?«
Der Hund, Filou, trabte voraus ins Wohnzimmer, drehte sich auf seiner Decke einmal um die eigene Achse und machte es sich gemütlich, indem er die Vorderpfoten lang ausstreckte und seinen Kopf darauf ruhen ließ. Berendtsen beobachtete, dass Filou seine linke Pfote bis über das erste Gelenk hinaus dick gepolstert und verbunden hatte.
»Was ist ihm passiert?«
»Er ist in den Boden einer zerbrochenen Bierflasche getreten. Sie lag in einer Pfütze, sonst wäre ihm das nicht passiert. Ich war am Samstag und Montag mit ihm zum Tierarzt in Lavesum.«
»Ist das der Jagdhund Ihres Mannes?«
»Filou ist der beste Jagdhund, den man sich vorstellen kann. Mein Mann war am Wochenende zum Segeln auf dem IJsselmeer eingeladen. Da konnte er den Hund nicht gebrauchen. Am Samstag hat er sich beim Spaziergang verletzt.«
Berendtsen kannte diese Hunderasse, aber die Bezeichnung wusste er nicht.
Frau Hillebrandt führte die Kommissare ebenfalls ins Wohnzimmer. Unaufgefordert stellte sie Mineralwasser, Eistee und Gläser auf den Tisch, denn es war draußen bereits sehr warm. Sie schob jedem ein Glas hin und schenkte ein. Hallstein stand auf Eistee.
Die Kommissare bedankten sich für die Aufmerksamkeit und Berendtsen begann mit den Fragen.
»Frau Hillebrandt, wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«
»Vor einer Woche, am letzten Donnerstag. Ich habe den Hund abgeholt.«
Berendtsen wartete. Sie war aufgestanden und holte von der Anrichte einen schweren Aschenbecher, grün gefleckter Marmor, und eine eingedellte Schachtel Marlboro, die sie kurz in die Höhe schnellte bis eine Zigarette mit den Lippen greifbar war. Ein Einmalfeuerzeug fand sich in der Schachtel. Der erste Zug war heftig und wurde tief inhaliert, als wäre sie einige Wochen abstinent gewesen. Eine eminente Rauchwolke wurde auf den Weg an die Decke geschickt. Mit dem zweiten Zug sog sie genügend Atemluft ein für die Antwort.
»Wir sind seit vier Wochen getrennt. Ich wohne mit der Tochter bei meiner Mutter.« Der Rest Qualm entkam in zwei Parallelen durch die Nase.
»Haben Sie miteinander telefoniert?«
»Am letzten Samstag wegen des Hundes. Am Sonntagabend hat er angerufen, weil er sich über Filous Zustand erkundigen wollte. Bei diesem Gespräch haben wir uns für heute verabredet, um verschiedene Angelegenheiten zu besprechen. Außerdem wollte ich einige Dinge von mir abholen. Er ist leider nicht hier. Er hat es verschwitzt. Er hat nur noch andere Dinge im Kopf. Seine Familie zählt nicht mehr. Ich habe ihn vor einer Stunde angerufen, aber er hat sein Handy abgeschaltet. Er ist bestimmt wieder in seinem Revier unterwegs.«
»Frau Hillebrandt … Ihr Mann ist auf der Jagd. Vielmehr – er war auf der Jagd.« Berendtsen blickte in ein Gesicht voller Skepsis mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn. »Wir haben ihn gefunden … auf dem Hochsitz im Hervester Bruch … Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann tot ist.«
»Tot? Wieso tot? Er war gesund und topfit. Ist ihm etwas passiert?«
Filou reagierte auf den bestürzten Tonfall in ihrer Stimme. Er hob den Kopf und stellte sich gleichsam schützend neben sie.
»Er ist erschossen worden«, fuhr Berendtsen vorsichtig fort.
»Ein Jagdunfall?«
Als Berendtsen zögerte, fuhr Hallstein fort: »Er ist auf seinem Ansitz erschossen worden. Wir gehen von Mord aus.«
Die Farbe ihres Gesichts wechselte von tiefbraun auf aschfahl. Sie zog an der Zigarette, hustete und bekam einen Schluckauf. Sie trank sehr langsam ohne Absetzen ihr Glas leer, hielt die Luft an. »Was?!« Der Rauch schoss ihr aus Nase und Mund. Sie tupfte die Glut ihrer Zigarette im Aschenbecher aus und steckte nach einem prüfenden Blick die nicht gerauchte Hälfte zurück in die Schachtel.
»Herr Brinkhoff war mit ihm am Hochsitz verabredet und hat ihn gefunden. Er hat uns benachrichtigt. Sie kennen Herrn Brinkhoff?«
Sie brauchte eine Weile. »Natürlich kenne ich Otto.«
»Frau Hillebrandt«, setzte Berendtsen das Gespräch fort, »wir wissen, dass diese Nachricht für Sie ein Schock ist. Dürften wir Ihnen trotzdem einige Fragen stellen?«
Sie füllte ihr Glas. »Fragen Sie.«
Berendtsen begann: »Sie haben Ihren Mann zuletzt gesehen am Donnerstag.?«
»Wie ich schon sagte. Donnerstag in der letzten Woche. Ich habe ihm den Wagen zurückgebracht. Ich hatte den großen Landcruiser genommen, weil ich darin mehr verstauen konnte. Ich selbst fahre ein Cabrio«. Sie zeigte nicht ohne Stolz auf einen SLK in der Garagenauffahrt. »In diesen bekommen ich nicht viel rein. Ich musste ohnehin mehrmals fahren. Alles habe ich immer noch nicht mitgenommen. Deshalb waren wir hier heute verabredet. An dem Tag hat er mir den Hund anvertraut.«
»Wusste Herr Brinkhoff, dass Sie beide getrennt sind?«
»Ich glaube nicht. Wir waren vor einigen Wochen das letzte Mal bei ihm, aber da wohnten wir noch zusammen. Wir hatten gegrillt. Bei Otto wird immer gegrillt. Er hat nicht gerne Besucher in seinen Gemächern, … die übrigens ganz geschmackvoll eingerichtet sind.«
»Gab es einen Grund für diese kurzfristige Trennung?«
Sie steckte die nächste Zigarette an.
»So kurzfristig kam die gar nicht. Wir hatten schon seit einigen Monaten mehr oder weniger Probleme mit dem Zusammenleben. Dann kam allerdings doch alles recht plötzlich.«
Sie wartete auf eine Frage, die aber nicht kam.
»Ja«, fuhr sie leise fort, »er hatte eine neue Beziehung. Es hat mich tief getroffen. Ich hatte keine Chance.«
»Kennen Sie seine neue Partnerin?« Hallstein hatte sein Notizbuch bereits parat für die neue Adresse.
»Ich habe keinerlei Informationen über ihn.« Sie hielt kurz inne. »Sie haben richtig gehört«, ergänzte sie sogleich. »Es ist ein Mann … mehr weiß ich nicht. Ich sagte schon: Ich hatte keine Chance. Ich wusste, dass ich irgendwann gegen jemanden würde antreten müssen. Schließlich bin ich neun Jahre älter als Karl-Heinz. Aber gegen einen Mann zu konkurrieren … da hat man als Frau keine Chance. Er könne nicht dagegen an. Es täte ihm auch leid. Und so weiter und so fort. Bla bla. Lächerlich! Was habe ich davon?«
»Aber sie haben doch eine gemeinsame Tochter. Es war also nicht immer so?«
»Die Tochter ist aus meiner ersten Ehe. Mein erster Mann war Steiger bei der Ruhrkohle. Er war Elektroingenieur. Er ist durch die Unachtsamkeit eines Kumpels zu Tode gekommen. Der Vollidiot ist ganz einfach mit einer Raupe über ihn hinweg gefahren. Zwei Jahre auf Bewährung.«
Die Kommissare teilten der Frau ihr Bedauern mit.
Es entstand eine unangenehme Pause, aus der Berendtsens Handy rettete. Frau Rother wollte mit ihm einen Termin zur Endbesprechung der Leichenschau abstimmen. Berendtsen vertröstete sie auf den frühen Nachmittag. Er entschuldigte sich bei Frau Hillebrandt und setzte das Gespräch mit der Frage fort, seit wann sie beide zusammenlebten.
»Seit fünfzehn Jahren. Karl war Trauzeuge bei der Hochzeit seines Bruders. Ich wohnte in der Nachbarschaft von Karin, seiner Frau. Meine Tochter war als Blumenmädchen ausgesucht. So haben wir uns kennengelernt. Ein Jahr später haben wir dann geheiratet. Er hat Maike adoptiert, damit sie schon mit dem neuen Namen in der Schule angemeldet werden konnte.« Dann gab sie die Antwort auf die Frage, auf die die Kommissare warteten. »Wir haben eine ganz normale Ehe geführt. Mit allem Drum und Dran. Das wollten Sie doch wissen. Nein, ich hatte keinen Grund, an seiner Liebe zu mir zu zweifeln. Es gab niemals einen Anhaltspunkt. An seiner sexuellen Einstellung … nein. Es war alles normal.« Sie wandte ihr Gesicht Richtung Garten. Der Rasen hatte es nötig. Es war Stroh. Langes Stroh. Weder gewässert noch geschnitten. Berendtsen dachte an seinen Rasensprenger. Heute Abend war Gartenarbeit angesagt: zuerst schneiden, dann wässern. Er brauchte einen neuen Anschluss für den Schlauch. Er entsperrte sein Handy, das er noch in der Hand hielt, setzte eine wichtige Miene auf und wollte die Erinnerung daran eintragen. Es stand bereits für 17:30 Uhr eingetragen: Gardena.
»Seit wann, glauben Sie, hat ihr Mann die neue Beziehung?«, nahm Hallstein das Gespräch wieder auf.
Sie brauchte gar nicht zu überlegen. Sie hatte es bereits die letzten Tage mehrfach analysiert.
»Ich vermute, dass es im letzten Herbst auf dem Jägertreffen im Allgäu war. Er hatte keine einzige Trophäe mitgebracht, wie es sonst seine Art war. Er war immer stolz auf seine Beute gewesen. Statt von seinen Vorträgen und dem Applaus zu berichten, den er stets genossen hatte, war er still und in sich gekehrt. Ich habe ihm empfohlen, einen Arzt aufzusuchen. Er ist sofort gegangen. Das hat mich schon gewundert. Er war sogar mehrmals beim Psychotherapeuten. Er geht immer noch einmal im Monat zu ihm. Ging … muss ich abmelden …«, bemerkte sie vor sich hin. »Der hat sein fröhliches Wesen einigermaßen wieder in die Reihe gebracht, aber unser Sexualleben lies seitdem zu wünschen übrig. Der brauchte keine Pillen, aber er war nicht mehr so ganz bei der Sache, … wenn sie verstehen. Ich habe mir keine Sorgen gemacht, weil ich davon ausging, dass es wieder wird. Ich dachte eher an eine Midlife-Crisis.«
»Frau Hillebrandt, wie schätzen Sie die Beziehung ein? Ich meine, wie stark waren die beiden verbunden? Gab es ein Testament?«
»Wir haben schon seit langem eine Verfügung. Wir setzten uns gegenseitig als Erben ein, wie man das so macht. Ich glaube nicht, dass er es geändert hat. Soweit war die Beziehung hoffentlich nicht gediehen. Ich kann nicht sagen, wie häufig die beiden zusammenwaren waren, aber meistens war er abends und am Wochenende zuhause.«
»Haben Sie das Testament mit Hilfe eines Notars aufgesetzt?«
»Bei Herrn Schenk, Notariat Rudolf Schenk. Er wohnt hier auf der Straße, übernächstes Haus.« Sie tupfte sich mit dem Zipfel eines Taschentuchs vorsichtig Tränen aus den Augen, darauf bedacht, ihre Wimperntusche nicht zu verwischen, was ihr aber nicht gelang. Sie betrachtete gedankenverloren die schwarzen Flecken.
Stille.
Berendtsen erhob sich, trank den Rest Wasser und stellte das Glas leise auf den ledernen grünen Untersetzer mit der Aufschrift des Whiskys »Laphroaig« und den Umrissen Schottlands und der Insel Islay zurück. Berendtsen kannte die Untersetzer. Er hatte sie vor – er dachte nach – fünf Jahren in seinem Schottlandurlaub bei einem Besuch dieser Destillerie ebenfalls geschenkt bekommen. Sie mussten noch irgendwo sein. Er schlenderte wie zufällig zur Terrassentür, die Hände auf dem Rücken, leicht nach vorne gebeugt. »Den Garten haben immer Sie bearbeitet?«
Sie nickte. »Geschnitten hat der Gärtner, aber der scheint im Urlaub zu sein. Ans Gießen hat Karl-Heinz nie gedacht.«
»Was wird nun aus dem Haus? Werden Sie hier wieder einziehen?«
»Herr Kommissar! Ich weiß seit einer halben Stunde vom Tod meines Mannes. Seitdem haben Sie mich befragt. Wann hätte ich mir darüber Gedanken machen sollen?«
Berendtsen entschuldigte sich ein wenig unbeholfen. Er fand seine Frage auch völlig überflüssig und dumm. Eigentlich hatte er nur etwas Unverbindliches sagen wollen. Es war schief gegangen. Ihm gingen andere Überlegungen durch den Kopf. Wie konnte sich ein Mann so ändern? Er hatte schon davon gelesen, aber live und vor Ort …
»Frau Hillebrandt, hatte Ihr Mann ein Arbeitszimmer? Dürften wir es uns einmal ansehen? Vielleicht finden wir Hinweise, die uns zum Täter führen.« Hallstein griff vorsorglich in das Gespräch ein, um zu verhindern, dass es wieder durch eine längere Pause unterbrochen wurde.
Frau Hillebrandt führte die Kommissare über eine halbgewendelte, sechzehnstufige Holztreppe in eine Art Atelier, das den halben Dachboden ausfüllte. Zwei Dachgauben auf jeder Seite schickten genügend Tageslicht in den Raum, den man ebenso gut zu einem Tanzsaal hätte umfunktionieren können. Der erste Eindruck bestätigte die Aussage, dass ihr Mann auf seine Trophäen stolz war. Die überwiegend mit Geweihen verschiedener Größe und Arten dekorierten Wände hingen voll mit ausgestopften großen und kleinen Tieren, darunter Köpfe von Wildschwein, Reh und Hirsch. Ein Spotlight konzentrierte sein Licht auf einen Winkel, in dem sich ein mannshoher Braunbär aufbäumte. Auf den bewundernden Blick der Kommissare hin erzählte sie kurz von ihrem gemeinsamen Urlaub in Alaska. An der Wand imponierte ein Eisbärfell aus dem Norden Kanadas, das allerdings bei einem Bärentöter, wie sich der Mann damals genannt hatte, erstanden worden war.
Der mächtige Schreibtisch mit den passenden Regalen und Schubladenschränken aus massiver Eiche passte in dieses große Zimmer. Davor beeindruckten zwei breite Chesterfield - Sessel den Besucher. Zwischen Schreibtisch und Wand stand eine schwarze, in der Höhe verstellbare Drei-Bein-Stehlampe. Das Licht der mächtigen Scheinwerfer ließ sich durch vier Klappen dirigieren. Berendtsen kannte solche Lampen aus Fotostudios.
Die Kommissare nahmen die Möbel in Augenschein. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Die Unterlage bestand aus einem großen DIN A3 – Papierblock mit Kalender und dem Absender Heckler & Koch samt Bildern verschiedener Jagd- und Handfeuerwaffen. Einige mit Kugelschreiber gemalte Bäume und Sträucher sowie Rechtecke und Kreise hatte Hillebrandt offensichtlich beim Telefonieren entworfen. Beim Versuch, das Geweih eines Zwölfenders zu zeichnen, war er augenscheinlich unterbrochen worden oder das Gespräch hatte für dieses Motiv nicht die nötige Länge. Zwischendurch fielen einige Telefonnummern auf. Teilweise durchgestrichen, manche mit Namen und Durchwahl. Berendtsens Blick fiel auf einen umkreisten Termin: ›Ansitz: Montag, 19. Otto‹. Durchgestrichen. Darunter mehrere kleine Punkte, die das Stornieren des Durchstreichens darstellten. Dahinter war ein überdimensionales Ausrufezeichen gemalt und offensichtlich während eines Telefonats verziert worden. Verschiedene Ablagefächer enthielten bezahlte und unbezahlte Rechnungen. In den Schubladen fanden sie nichts außer Büromaterial und Ordnern. Sie nahmen sich die Schrankwand vor. Offene Fächer gab es in der oberen und mittleren Reihe. In der Mitte sprang eine Art Säule hervor, die nur aus Fächern mit Türen bestand. In allen steckten Schlüssel, aber keine war abgeschlossen. Die Türen öffneten nach oben. Sie enthielten sorgfältig beschriftete Aktenordner. Alte Berichte, Zeitungsartikel, Honorarabrechnungen, Pläne des Hauses, Korrespondenz, Prospekte über Waffen. Berendtsen griff zum Ordner »Aktuell«. Er war leer. Drei Trennblätter fielen zu Boden.
»Frau Hillebrandt, können Sie mir sagen, warum dieser Ordner leer ist?« Er hob die Teiler vom Boden auf.
Sie sah in den leeren Ordner und stutze. »Dieser Ordner war in der Regel niemals leer, weil er immer neue Ideen im Kopf hatte. Selbst wenn keine Untersuchung lief, hatte er immer Aufzeichnungen darin, eine Art Ideensammlung.«
Sie nahm Berendtsen die drei Blätter ab, heftete sie in den Ordner und stellte ihn zurück an seinen Platz. Berendtsen sah sich weiter um. Fein säuberlich abgeheftete Jagdzeitschriften, ordentlich in Jahresordnern sortiert, mit Inhaltsverzeichnis. Berendtsen blätterte einige Zeitschriften durch und fand mehrere Artikel, die unter seinem Namen veröffentlicht waren. Hallstein stieß in einer Schublade auf einen handlichen Fotoapparat für die Hosentasche, auf dem er aber keine Bilder fand, und zwei großen Teleobjektive, die zu diesem Apparat nicht passten. Nach kurzem Augenschein gaben sie auf. Hier war für sie beide nicht viel zu begutachten.
»Wo hat ihr Mann seinen Waffenschrank?«, fiel Berendtsen ein.
Frau Hillebrand öffnete eine Tapetentür neben der Schrankwand. Der Stahlschrank dahinter war verschlossen. »Den Schlüssel hat er immer bei sich. Sie werden ihn bestimmt bei ihm finden. Er hat stets zwei Schlüsseletuis, ein braunes in der Hosentasche, ein blaues zur Sicherheit in der Jagdtasche. Er hatte vor Wochen einen Bund beim Bergen eines Tieres in dem Sumpf des Hervester Bruchs verloren. Ich musste ihm den zweiten Autoschlüssel bringen. Es hat lange gedauert, bis er alles wieder beisammenhatte. Auf den Schlüssel zum Waffenschrank haben wir über zwei Wochen gewartet.«
»Also konnte er zwei Wochen nicht jagen? Muss schlimm gewesen sein für ihn.«
»Nein. Die Waffen hatte er mit auf der Jagd. Er konnte sie nur nicht einschließen. Sie haben während der Zeit hier oben hinter dieser Tür gestanden. Es war ihm nicht recht, aber was sollte er machen?«
»Dürfen wir Ihnen unsere Kollegen schicken, die einen geschulteren Blick für versteckte Informationen haben und den Computer untersuchen, eventuell mitnehmen?«
Sie stimmte zu.
Berendtsen zog sein Handy aus der Hosentasche und informierte Willi bei der Spurensicherung.
»Haben Sie einen Tresor?«
Frau Hillebrandt öffnete einen Wandschrank und tippte den Code ein. Außer einigen hundert Euro fanden sie nur eine Dokumentenmappe und eine Schmuckschatulle mit einem Paar goldener Manschettenknöpfe und zwei teure Armbanduhren. Ein ledernes, mit blauem Samt ausgeschlagenes Etui, das er laut Auskunft der Frau von seinem Vater übernommen hatte, enthielt zwölf Goldmünzen verschiedener Prägung.
An der Haustür bedauerten die Kommissare nochmals ihren unangenehmen Besuch und händigten ihr die Visitenkarten mit dem Hinweis aus, dass sich ein weiterer Besuch wohl nicht vermeiden ließe.
Hallstein dachte an alles. »Frau Hillebrandt, wo waren Sie am Montagmorgen? Nur für die Akten«, ergänzte er sofort. Sie war bei ihren Eltern in Lavesum gewesen. Gegen zehn Uhr hatte sie den Tierarzt besucht.
»Frau Hillebrandt, wo können wir Sie erreichen?«
Sie verschwand kurz im Haus und kam mit einer Visitenkarte zurück.
»Hier finden sie alle Angaben.«
Hallstein las den Namen, Telefon, Mobilfunk und Emailadresse.
»Sie haben zuletzt den Landcruiser gefahren. Dürfen wir zum Abgleich ihre Fingerabdrücke nehmen?«
Als sie zögerte, erklärte Hallstein das Vorgehen. »Sie brauchen sich keine Sorgen um schwarze Finger zu machen. Die Zeiten sind vorbei. Das geht heute anders.« Er startete eine App auf seinem Smartphone und zeigte ihr die Auflagefläche. »Einfach hier auflegen. Das geschieht mehrmals. Das Ergebnis bekommen wir sogleich hier oben angezeigt und wissen bei einer grünen Umrandung sofort, ob es den Anforderungen unserer Spurensicherung genügt.« Er wischte mit einem speziellen Tuch über das Display und drückte die Kuppe ihres Daumens auf sein Smartphone. Die App zeigte die Hälfte der Abdrücke an. Die Umrandung der Auflagefläche erschien rot und verlangte eine zweite, dann eine dritte und vierte Auflage. Dann zeigte sie grün. Bei den Fingern genügten drei Abdrücke. Die Prozedur war schnell erledigt. Er beschriftete die Abdrücke von eins bis zehn, fügte ihren Namen hinzu und drückte auf »Senden«. Ein kurzer Quittungston und ein grüner Kreis mit Häkchen und der Meldung: »Datenübertragung erfolgreich abgeschlossen« bestätigten die Übermittlung an die Spurensicherung. Frau Hillebrandt sah Hallstein erstaunt an.
»Wie versprochen, ganz einfach, Frau Hillebrandt. Jetzt würde ich Ihnen noch gerne eine Speichelprobe abnehmen, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben.« Sein Stäbchen in dem Plastikröhrchen hatte er schon aus seiner Jackentasche gezogen. »Ich habe noch eine letzte Frage: Wäre es Ihnen möglich, Ihren Mann in den nächsten Tagen zu identifizieren? Ich muss Ihnen gleich sagen, es ist kein schöner Anblick.«
»Ich lasse von mir hören. Muss ich mich vorher anmelden?«
»Sie können kommen, wann Sie wollen. Melden Sie sich im Präsidium. Frau Brüggemann wird Ihnen weiterhelfen.«
Die Kommissare legten die wenigen Meter zum Notar zu Fuß zurück. Laut seiner Auskunft hatte Hillebrandt das Testament zu Anfang des Jahres – er sah in seinem Kalender nach – am zweiundzwanzigsten Januar geändert, aber vor drei Wochen hatte er ihm in dieser Angelegenheit einen neuerlichen Besuch abgestattet mit der Bitte, das neue, letzte Testament zu vernichten und das alte wieder in Kraft zu setzen. Es war die Version, die mit seiner Frau zusammen vor Jahren aufgesetzt hatte. Er bot den Kommissaren an, die Akte mit der zugehörigen Unterschrift aus dem Archiv kommen zu lassen.
»Das Testament selbst dürfen Sie nur mit richterlichem Beschluss einsehen«, erklärte er den Beamten unmissverständlich.
Berendtsen verzichtete auf diesen Aufwand. Das Wort des Notars reichte ihm.
Auf der Straße in Richtung Marl wies Berendtsen seinen Kollegen auf einen Wegweiser hin: »Hier geht es zum Stausee, Oliver. War das wohl ein interessanter Fall im letzten Jahr?«
Hallstein nickte kurz und konzentrierte sich auf den Verkehr.