Читать книгу Mein Gefängnis - Gernot Schroll - Страница 5

Mir fehlte jegliche Erinnerung.

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Ich konnte mich an absolut nichts erinnern, was in der fast 90-minütigen Autofahrt passiert war. Weder Fußgänger noch andere Autos, nicht einmal an die Strecke konnte ich mich wirklich erinnern. Bevor ich ausstieg, bedankte ich mich - noch sichtlich - entsetzt bei Gott dafür, dass er mich während meiner geistigen Abwesenheit keinen Unfall bauen hatte lassen. Nervös dankte ich ihm dafür, keinen Menschen getötet zu haben und um sicherzugehen, dass das Gebet ankommen würde, küsste ich mehrmals den Rosenkranz, welcher an meinem Rückspiegel hing. Nach mehrmaligem Bekreuzigen fühlte ich mich sicher, dass mein Gebet erhört und meine Fahrlässigkeit vergeben wurde.

Im Haus meiner Eltern angekommen, merkte ich plötzlich, wie leer ich mich fühlte. Ich war schon oft leer und erschöpft; vom Leben, den Leuten, die mich umgaben, den einfachen Geistern, aber diesmal war es anders.

Ich brachte mein Zeug ins Haus und legte mich vor den Hühnerstall im Garten, welchen ich und mein Stiefvater vor zwei Wochen als Geburtstagsgeschenk für meine Mutter, gebaut hatten. Ich fühlte mich verbunden mit den Hühnern, welche zum Lieblingsthema von mir, meiner Mutter und ihrem Partner geworden waren und beobachtete sie gerne. Sie taten zwar den ganzen Tag nichts anderes als zu fressen und Eier zu legen, doch konnte ich ihnen stundenlang dabei zusehen.

Immer wieder kam mir der Gedanke, ob mein Leben momentan noch erbärmlicher war als noch vor ein paar Wochen, jetzt wo anscheinend das Leben ein paar räudiger, dummer Hühner interessanter war als mein eigenes. Wie konnte ich meine Freizeit damit verbringen, einem Haufen völlig unterentwickelter, primitiver Kreaturen zuzusehen, anstatt etwas zu unternehmen? Wie beschämend fand ich die Feststellung, dass diese Tiere mehr unternahmen als ich.

Ich verdrängte diesen Gedanken und stellte mir stattdessen vor, wie ich in ein paar Monaten in einer großen Metropole meiner Traumfrau und unseren neuen Freunden erzählen würde, wie ich erst vor einigen Wochen die Hühner meiner Mutter gefüttert hatte. Man würde mich dafür bewundern, dass ich zwar in einer Metropole lebte, aber doch noch eine andere Seite hatte, eine naturverbundene. Diese Kombination machte mich noch attraktiver und exotischer als ich es ohnehin schon war. Ach, wird das schön, wenn die Leute endlich sehen, wer ich wirklich bin, aber bis dahin würde ich noch etwas neben den Hühnern liegen und sie beobachten, denn dieses Leben wird schlagartig vorbei sein und oft werde ich mich an diesen Moment, als einen der letzten in diesem vorübergehenden Lebensabschnitt erinnern.

Bald ging ich wieder zurück ins Haus, schließlich musste ich nun endgültig meine Arbeit fertigstellen, um sie nach dem Wochenende in der Druckerei einreichen zu können. Stunden vergingen und ich kam nicht weiter, las wahllos Kapitel, ohne irgendetwas zu verändern oder zu ergänzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, die Arbeit jemals fertigstellen zu können.

Ich musste die gesamte Arbeit wahrscheinlich schon insgesamt zwei Mal gelesen haben, ohne etwas zu ändern, dennoch zwang ich mich wieder und wieder Teile aufs Neue zu lesen: Was, wenn ich was übersehen hatte, irreversibel würde es dann schwarz auf weiß gedruckt werden. Der Drucker würde nicht wegen eines fehlenden Buchstabens oder Satzzeichens stoppen, er würde schonungslos drucken, das war seine Aufgabe.

Immer wieder sprach meine Stimme der Vernunft und beschwichtigte meine Sorgen, versicherte mir, dass die Arbeit nicht absolut perfekt und fehlerfrei sein musste, ich diese endlich fertigstellen musste, wollte ich das Studium rechtzeitig abschließen.

Abschluss – ein Wort das mich immer wieder erstarren ließ. Was, wenn ich diese Blockade hatte, weil ich die Arbeit nicht abschließen wollte, weil ich nicht wusste, wie es danach weitergehen sollte mit meinem Leben? In der Wohnung redeten immer alle von Arbeitssuche und Bewerbungen schreiben. Da ich nicht ständig von der gemeinsamen Geschäftsidee eines Freundes in Hong Kong, welche mich aus diesem Elend befreien und glücklich machen würde, erzählen wollte und vielleicht, auch weil ich Angst hatte, der eine oder andere könnte die Idee stehlen, zuckte ich oft nur verlegen mit den Achseln und sagte, dass ich keinen Plan hätte.

Einmal sagte einer von ihnen, dass er beruhigt sei, dass ich, der doch 3 Jahre älter war, selbst noch immer keinen Plan vom Leben hätte, worauf ich nur grinste. Irgendwie verletzten mich solche Aussagen, doch dann rief ich mir wieder meine geniale Geschäftsidee in Hong Kong ins Gedächtnis und wie ich damit in ein paar Monaten Millionär sein würde und alle stolz auf mich seien und das schlechte Gefühl verließ mich.

Wie so oft legte ich mich auf mein Bett, schloss meine Augen und stellte mir das Leben nach diesem schmerzhaften Lebensabschnitt vor. Wie ich, mit der Idee eines Freundes, welcher mich für die Umsetzung seiner so simplen, doch genialen Idee, auserwählt hatte, nach Hong Kong gehen würde. Er selbst war nicht so ein Mann von Welt und bevorzugte es, in Österreich zu bleiben und mir das operative Geschäft zu überlassen.

Ich träumte davon, wie ich Investoren mit meinem Charme, Witz und Aussehen verzauberte und binnen weniger Tage mehr als genug Investoren für die Umsetzung der Idee an Land hatte. Wie ich plötzlich nicht mehr der schöne, eloquente Student war, welchen die Frauen zwar begehrt hatten, dann aber doch verschmähten, weil er keine Perspektive, keine Sicherheit bieten konnte, sondern der erfolgreiche Geschäftsmann war, welcher einer Frau alles bieten konnte, wovon sie nur träumte. Der Aufsteiger des Jahres und begehrteste Junggeselle würde ich sein und nach einigen kurzen, jedoch bedeutungslosen Bekanntschaften, würde ich sie finden, die eine. Daran zu denken, mir meine Zukunft auszumalen, half mir, den momentanen Schmerz zu; dass die Frau an meiner Seite noch kein Gesicht hatte, störte mich nicht, es sollte ja schließlich eine Überraschung sein.

Mittlerweile las ich die Kapitel nicht einmal mehr, sondern starrte einfach den Bildschirm an und wartete. Druck kam wieder in mir hoch, wie sollte ich das nur alles schaffen, nie würde ich die Arbeit zu meiner Zufriedenheit fertigstellen können, nebenbei sollte ich auch noch für zwei Prüfungen lernen, wovon Economics schon am Montag war. Ich beschloss, trotz all der Zweifel, die Arbeit heute noch fertigzustellen. Morgen würde ich sie dann meinem Bruder zur Korrektur schicken. Gott sei Dank würde er mir das so kurzfristig und rasch machen können. Während er korrigierte, würde ich, nicht in der Lage, Zeit an die Arbeit zu verschwenden, für die Prüfungen lernen können und die - am wahrscheinlich späten Sonntagnachmittag retournierte sowie korrigierte Arbeit - noch einmal kurz überfliegen können. Somit würden mir fast zwei ganze Tage bleiben, um mich auf die Prüfung vorzubereiten. Mehr Zeit hatte ich einfach nicht.

Noch nie hatte ich so viel Angst vor einer Prüfung wie vor der bevorstehenden Economics Prüfung und das, obwohl ich noch nicht einmal wusste, was im Skript stand, das ich im ganzen Semester nur einmal geöffnet und einen flüchtigen Blick darauf geworfen hatte. Obwohl ich lediglich die Seiten angestarrt und den Ordner auch gleich wieder zugemacht hatte, blieb damals irgendetwas hängen; eine Angst oder Unbehagen.

Seit diesem kurzen Moment hatte ich es nicht mehr geöffnet. Monatelang hatte ich es lediglich als PDF-Datei auf meinem Laptop und versteckte es in einem Unterordner, um es nicht zufällig zu sehen und daran erinnert zu werden. Dieser Unterordner funktionierte wie mein Unterbewusstsein und bot Platz für all die Dinge, welche ich verdrängen musste.

Erst vor wenigen Tag, als ich die herannahende Prüfung, ob der zahlreichen Ankündigungen und Warnungen des Professors, nicht zu spät mit dem Lernen zu beginnen nicht länger leugnen konnte, druckte ich das Skript aus. Eilig und ohne genau hinzusehen, hatte ich das Skript damals aus dem Drucker genommen und gelocht, damit ich es, so schnell wie es ging wieder verstecken konnte, vom virtuellen in einen echten Ordner. Die paar Zeilen, welche ich damals, während des Lochens und Einordnens, unbewusst registriert hatte, machten mich seither noch nervöser.

Der Professor kam von der Universität und hatte uns gleich in der ersten Vorlesung klargemacht, was er von Fachhochschulen hielt und wie gravierend der Niveauunterschied zu einer Universität sei, ja nicht einmal vergleichen dürfe man diese zwei Dinge. Vom ersten Treffen an bereitete er mir Unbehagen.

Seine elitäre Art, wie er sprach und sich kleidete. Sein beeindruckendes Wissen und seine unheimlichen Verschwörungstheorien. Er machte mir Angst, seine düsteren Ausblicke, dass wir es alle schwer haben werden, wenn die Flüchtlinge kommen und viele auch keinen Job finden werden. Dass das System, so wie wir es kennen, bald kollabieren wird – er aber abgesichert sei, da er viele Immobilien und Gold besitze.

Er beschäftigte mich, ich war schon oft außergewöhnlich intelligenten Menschen begegnet, er war jedoch nicht wie einer von ihnen: Sie alle hatten ihre Intelligenz und ihr Wissen meist durch harte Arbeit und viel Studium erlangt, er wirkte jedoch, als wüsste er Sachen, die man in normalen Büchern nicht lesen konnte. Er kam mir vor wie ein Bösewicht aus einem nicht veröffentlichten James Bond Streifen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er Zugang zu Informationen und Wissen hatte, welcher nur wenigen Eliten in diesem Land gewährt wurde. Eine geheime Gruppe, welche das Land, die Wirtschaft und uns alle wie Schafe steuerte und er mittendrin. Er blieb diskret, konnte nie etwas à la Illuminati oder Freimaurer erzählen, doch er verschwieg etwas; es war die Gewissheit und Arroganz, fast schon Freude, welche er ausstrahlte, als er uns von bevorstehenden Bürgerkriegen und Schreckensszenarien berichtete.

Noch nie war mir eine so präpotente und zugleich charismatische, beeindruckende Person begegnet. Nach außen hin hasste ich ihn, innerlich faszinierte er mich. Fürchterlich regte ich mich immer auf über ihn, meine Kollegen lachten nur darüber und fragten, warum ich ihn überhaupt ernst nehmen würde, einfach ignorieren sollte ich ihn. Sie nahmen, das was er so von sich gab, nur teilweise ernst, belächelten Vieles. Sie sahen einen paranoiden Mann, welcher sich selbst wichtiger nahm als er es in Wahrheit war, doch ich konnte diese Meinung nicht teilen, zu sehr erschütterte er wöchentlich mein ideales Weltbild mit seinem unheimlichen Grinsen.

Er erzählte von einer Welt, außerhalb der meinen: Einer Welt voller Gefahren und Korruption, voller dunkler Geheimnisse, Habgier und Gewalt. Einer Welt, die mir Angst machte und so beschloss ich, ihn zu verabscheuen und versuchte meine Kollegen von seiner Boshaftigkeit zu überzeugen, damit ich nicht allein war, allein mit meiner Angst vor ihm und seinen Worten. Doch sie hatten mich im Stich gelassen und sich dafür entschieden, ihn einfach zu ignorieren. Nur meine Mutter nicht, sie verbündete sich mit mir und das, obwohl sie ihm noch nie begegnet war; so eine gute Mutter war sie, sie hasste sogar die Personen, die ich hasste.

Seit sein Kurs vor zirka 4 Monaten begonnen hatte begleitete mich ständig diese Angst. Ich wusste nicht genau, woher sie kam oder wovor ich mich fürchtete, doch sie war ein ständiger Begleiter der letzten Monate. Anfangs dachte ich noch, es wäre eine Kombination aus den vielen Terrormeldungen und den düsteren Zukunftsaussichten, die uns dieser Wirtschaftsprofessor vermittelt hatte – überall lauerten Gefahren, die Welt hatte sich zu einem äußerst gefährlichen Ort entwickelt und ich war nur mehr zu Hause, im Haus meiner Mutter, sicher.

Es war seltsam; Zwar war ich nie der mutigste: richtig ängstlich war ich trotzdem schon lange nicht mehr. Zuletzt vermutlich während der Zeit, wo mein Vater unauffindbar war, nach seiner Todesmeldung und der Gewissheit, meine Mutter würde bei uns bleiben und den Schicksalsschlag überstehen, legte ich mir ein dickes Fell zu und ließ mich nicht mehr erschüttern oder verängstigen – bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls.

Kurz kam mir der Gedanke, dass die stärker werdenden Angstzustände mit meinem, seit einigen Wochen ziemlich verstärkten Marihuanakonsum zusammenhängen könnten. Schnell verdrängte ich den Gedanken aber auch wieder, da es absurd war – Marihuana meine Angstzustände maximal lindern würde, keinesfalls jedoch verschlimmern, wusste doch jeder, dass diese Droge gute Laune machte. Und dennoch konnte ich den Gedanken nicht loswerden. verspürte ich diese generelle, nicht begründbare Angst mehr als zuvor, speziell nach einem Besuch bei einem Bekannten am letzten Wochenende. Ich dachte an die besagte Nacht:

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