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Nach wie vor saß ich vor der E-Mail –

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die Thesis als PDF eingefügt, brauchte ich nur noch „Senden“ zu drücken und am Montag würde die Arbeit gedruckt werden. Wieder kamen die Gedanken hoch, darüber wie fehlerhaft und amateurhaft die Arbeit war.

Um dagegen anzukämpfen, rief ich mir das Gespräch mit meiner Mutter ins Gedächtnis: Auch sie sagte, dass der ganze Albtraum der letzten Tage auf einmal weg wäre, würde ich die E-Mail nur senden. Sie hatte doch immer Recht und wusste, was das Beste für mich war. Wie so oft waren wir uns auch bei diesem Thema einig und sie sah das Problem der Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und Antriebslosigkeit auch klar in der Arbeit. Würde ich diese nun endlich abschließen, wäre das alles auf einem Schlag weg.

Ich ignorierte die Tatsache, dass das Gesagte nicht ihre Meinung war, sondern sie lediglich wiederholte, was ich ihr immer wieder eingeredet hatte – ihr so vertrautes Gesicht vor meinem geistigen Auge, drückte ich „Senden“: Das E-Mail war jetzt im Internet und über ein paar Servern in der Druckerei.

Ich hielt inne; still und andächtig saß ich da und wartete auf das erlösende Gefühl. Glücksgefühle sollten mich jetzt durchströmen; die widerliche Arbeit war weg und somit nicht mehr mein Problem, nun müsste sich meine Betreuerin damit beschäftigen. Doch die Glücksgefühle kamen nicht. Vollkommen unverändert saß ich vor dem Computer und starrte ins Leere, lag meine Mutter falsch? Warum fühlte ich mich nicht besser, warum war die Welt nicht wieder schön, oder zumindest wie früher weniger hässlich?

Wie versteinert realisierte ich, dass meine Stimmung, meine vollkommene Erschöpfung, diese Leere und Traurigkeit nichts mit dieser Arbeit zu tun gehabt hatten. „Aber was war es dann?“, fragte ich mich ratlos und ängstlich. Rasch verdrängte ich den Gedanken und redete mir ein, dass ich es einfach noch nicht realisiert hätte, es noch etwas Zeit bräuchte bis zur Ankunft der Glückshormone. In der Zwischenzeit sollte ich mich einfach auf die nächste Aufgabe konzentrieren: Economics, Prüfung: morgen mittags. Am Weg zum Erfolg blieb keine Zeit sich auszuruhen, „nur wer hart arbeitet, erreicht auch etwas“, sagte ich mir, während ich das gefürchtete Skriptum vorsichtig öffnete.

Es war mir klar, dass ich mich auch nach einigen Stunden oder Tagen nicht besser fühlen würde, dass all dies tatsächlich nichts mit dieser Arbeit zu tun hatte und wenn, dann nur insofern, dass die Arbeit es war, welche mich noch in irgendeiner Form zusammenhielt – mein Korsett – ohne welches ich nun in mich zusammenfallen würde. Doch ich wollte diese Realisation nicht zulassen und versuchte, sie einfach aus meinem Kopf zu verdrängen, oder zumindest ein paar Tage hinauszuzögern.

Das Skriptum bestand aus hunderten, aus einem Buch kopierten und eingescannten Seiten. Es war sehr klein geschrieben und auf jeder Seite waren mehrere Teile vom Dozenten unterstrichen, welche die wichtigsten Teile hervorheben sollten. Dieses Skriptum hatte wenig mit klassischem Wirtschaftsunterricht zu tun, viel mehr hatte ich das Gefühl, das Tagebuch eines hoch intelligenten, psychotischen Verschwörungstheoretiker vor mir zu haben. Das Skriptum wahllos zusammengefügter Theorien und dubioser Aussagen trug unmissverständlich seine Handschrift.

Ich warf einen Blick auf die erste Seite und versuchte, sie zu lesen. Entweder hatte ich in der letzten Woche Englisch verlernt, oder alles, was hier geschrieben war, ergab schlichtweg keinen Sinn. Nervös scrollte ich auf die nächste Seite, doch dasselbe: Zwar las ich die Buchstaben, verstand hin und wieder sogar ganze Wörter, doch einen Zusammenhang konnte ich nicht herstellen. Von sinnerfassendem Lesen war ich gerade so weit entfernt wie von meinen Zielen. „Was passierte gerade mit mir?!“, geriet ich in Panik. Nicht nur, dass ich ständig abschweife, viel mehr hatte ich, sobald ich beim letzten Wort eines Satzes ankomme, den Rest schon wieder vergessen.

Nach zehn furchtbar quälenden Minuten musste ich es mir eingestehen: Ich würde diese Prüfung unmöglich bestehen, ja nicht einmal antreten brauchte ich.

„Was wenn du einfach nicht gebildet genug bist? Diese letzte Hürde, dieser Hauch von akademischem Lernmaterial deine intellektuellen Kapazitäten weit übersteigt?“, forderte mich eine Stimme heraus“. „Vielleicht kapierst du es nicht, weil du schon seit Wochen keine Nachrichten mehr verfolgst!?“, legte sie nach.

Tatsächlich konnte ich keine Nachrichten mehr sehen, hören oder lesen. Was früher teilweise durch Faulheit und Ignoranz bedingt war, war der Angst gewichen. Ich konnte keine weiteren Terror-, Kriegs-, oder Mordnachrichten mehr hören, hatte schon genug Angst vor dieser Welt und mit jeder neuen Nachricht wuchs sie weiter.

Lange Zeit blickte ich auf den Nachrichteneifer meiner Kommilitonen herab, in Wirklichkeit fühlte ich mich minderwertig. Dafür, dass ich nicht in der Lage war, mit diesem Professor oder meinen Kollegen zu diskutieren; dafür, dass ich nicht in der Lage war, dem Professor Paroli zu bieten, wie es manche von uns taten und was er wahnsinnig schätzte. Zum ersten Mal in den drei Jahren meines Studiums fühlte ich mich fehl am Platz, nicht gebildet genug, nicht engagiert genug. Alles, worüber man mit mir sprechen konnte, war Sport – zu politischen und wirtschaftlichen Themen äußerte ich mich immer nur mit Standardphrasen, überspielte meine Unwissenheit mit Witzen und versuchte, ernsthafte Diskussionen ins Absurde zu führen. Das gelang mir auch immer; obwohl ich null Ahnung hatte, was in der Welt gerade passierte, dachten meine Studienkollegen, dass ich am letzten Stand war und versuchten immer wieder, Diskussionen mit mir zu führen; die Fassaden verfolgten mich mein ganzes Leben lang.

Seit ich denken konnte, war ich angespannt aufzufliegen, durchschaut zu werden, für das was ich wirklich war, ein nichtsnutziger Hochstapler, der nur durch eine Reihe von Zufällen und durch sein Geschick, Menschen zu manipulieren bis zur Fachhochschule kam. Bis heute hatte es niemand geschafft, mich zu durchschauen.

Schnell versuchte ich, die aufkommenden Selbstzweifel zu verdrängen, ein altbewährtes Mittel – erprobt an Wut, Angst und anderen unangenehmen Emotionen, denn zur morgigen Prüfung nicht anzutreten, bedeutet den Abschluss nicht mit den anderen zu machen. Den Abschluss nicht mit den anderen zu machen, bedeutet nicht mit meinen Mitbewohnern auf Abschlussreise fahren zu können.

Plötzlich Erleichterung: Meine Mitbewohner hatten oft stundenlang in meiner Gegenwart von dieser Reise gesprochen, sie genauestens geplant und mich ständig nach meiner Meinung gefragt. Apathisch stimmte ich meistens zu, widersprach hin und wieder, um den Schein zu wahren. Für keinen Moment wäre mir – vor wenigen Wochen noch – in den Sinn gekommen, das Studium nicht mit meinen Mitbewohnern abzuschließen. Dass ich jedoch nicht Teil ihrer gemeinsamen Reise sein würde, ahnte ich dennoch.

Selbst eine Absage hatte ich mir schon überlegt: Ich wollte mich am Tag davor so sehr betrinken, dass ich vor lauter Kater nicht mitfahren könnte. Das hätte sie bei meiner Vergangenheit nicht allzu sehr verwundern. Denn insgeheim wollte ich nie mit diesen Menschen meinen Abschluss feiern. Lieber wollte ich allein feiern, zu Hause mit Mama und ihrem Lebensgefährten auf der Terrasse sitzend. Sie hätte bestimmt einen Kuchen gebacken, so wie sie es für alle Anlässe machte. Gemütlich hätten wir auf meinen Meilenstein angestoßen. Ja, so wollte ich eigentlich meinen Abschluss feiern.

Von meinen Mitbewohnern hatte ich mich völlig entfremdet. Als wir im ersten Jahr noch nicht alle zusammenwohnten, dachte ich mir, dass sie die drei Personen wären, mit denen ich am besten klarkäme. Doch dann zogen wir alle zusammen in eine Wohnung und alles änderte sich. Die drei wuchsen immer näher zusammen, unternahmen auch an den Wochenenden, an welchen ich nach Hause fuhr, Dinge miteinander und ich fühlte mich immer mehr wie der Außenseiter. Wenn ich sie am Gang miteinander sprechen hörte, platzte ich vor Neid und verspürte Wut und verkroch mich noch mehr in meinem Zimmer. Wenn sie gemeinsam kochten, wurde mir schlecht, da ich nicht mitmachen konnte, folgten ich und meine Mutter einer strengen Diät. Wie sie lachten und sich gegenseitig betatschten, wie sie geschlossen ins Fitnessstudio gingen.

All diese Dinge nagten an mir, sie schlossen mich aus, wollten mich nicht dabeihaben, ich spürte es. Wenn sich dann doch mal einer von ihnen in mein Zimmer verirrte und ein Gespräch mit mir suchte, versuchte ich alles, um möglichst unterhaltend zu sein: Fragte Dinge, die mich einen feuchten Dreck interessierten, stimmte bei Dingen zu, wo ich komplett anderer Meinung war, lachte über Scherze, die ich völlig unangebracht und widerlich fand, heuchelte Interessen für Themen vor, welche mich absolut langweilten, alles, um sie zum Dasein zu bewegen. Alles, nur um nicht wieder verlassen zu werden.

Ich erinnerte mich, dass ich nicht immer so war, an eine kurze Phase zu Beginn des Studiums, wo ich mich über alles und jeden aufregte und ständig Leuten widersprach. Daran, wie ich kurz darauf den Entschluss fasste, so nicht so weiterleben zu wollen, nicht länger auszusprechen was ich mir dachte, da es manchmal unangebracht war. Nicht zu fluchen, da man das nicht tat, nicht aufbrausend oder aggressiv zu sein, weil sich das nicht gehörte und nicht mehr schlecht über Menschen zu sprechen, auch wenn ich sie hasste, weil jemand, der so etwas tat dafür früher oder später bestraft werden würde.

Es war die Angst davor, mein vieles schlechtes Karma könnte mich eines Tages einholen, so wie es mir damals meinen Vater geraubt hatte, weswegen mich radikal änderte und altes Ich bei lebendigem Leib begrub.

Ich begann, Leute, die in meiner Gegenwart schlecht über andere sprachen zurechtzuweisen, in der krankhaften Hoffnung, sie dadurch von meiner Gutmütigkeit und Loyalität überzeugen zu können. Makabre Scherze verschmähte ich nun an, ihre Erzählenden wies ich zurecht. Und trotz meiner charakterlichen Gradwanderung starben die alten Geschichten und mein Ruf als „Heißsporn“ nicht aus. Ich konnte nie nachvollziehen, wie sie nicht bemerkten, wie sehr ich mich verändert hatte. Für sie war ich immer noch der Heißsporn, wenngleich mit Ambitionen zum Moralapostel.

Jedes Mal, wenn sie mir eine Geschichte meiner Wutausbrüche oder Eskapaden erzählten, fühlte es sich an als würden sie von einem anderen Menschen sprechen. Einem Menschen, den ich irgendwann einmal flüchtig gekannt hatte. Einem Menschen, für den ich nichts übrighatte; nein, ihn sogar verachtete. Mit einem müden Lächeln quittierte ich jede ihrer Anekdoten und wechselte das Thema; zu schmerzhaft die Vorstellung, dass diese Person jemals meinen Namen getragen hatte. Wieso kam es nicht in ihren Köpfen an, dass es diese Person nicht mehr gab? Ihre Geschichten, ermöglichten sein Weiterleben und demütigten mich.

Alkohol war es, was diese Person am Leben hielt, unter seinem Einfluss nahm sie nach und nach Gestalt an und mit jedem Getränk wuchsen ihre Kräfte, bis sie gänzlich die Kontrolle übernahm. Bereits im leicht alkoholisierten Zustand passierte es, dass mir Dinge herausrutschten, welche ich nicht sagen wollte. Dinge, die mir furchtbar leidtaten und für die ich mich sofort entschuldigte. Zur Wiedergutmachung zahlte ich ihre Getränke und hörte ihnen stundenlang dabei zu, wie sie mir ihre Probleme erzählten; alles nur damit sie den einen boshaften Kommentar vergessen würden.

Doch hatte ich eine gewisse Grenze überschritten, ergriff diese fremde Person die alleinige Kontrolle. In diesem Zustand war ich dann so betrunken, dass ich mich an meine Schandtaten meist nicht einmal mehr erinnern konnte. Wie so oft musste ich an meine Zeit in Hong Kong denken:

Mein Gefängnis

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