Читать книгу Ein Leben für die Jagd - Gert G. v. Harling - Страница 28
Wenn der Vater mit dem Sohne …
ОглавлениеManche Böcke vereinen alle Lehrbuchweisheiten über das Lebensalter in sich, man kann schon bei der ersten Begegnung sagen, wie alt sie sind. Bei anderen tut man sich dagegen schwer.
Nächtelange Diskussionen mit meinem passionierten Sohn vor seiner Jägerprüfung sollten mich davon überzeugen, dass ich herzlich wenig Ahnung vom Ansprechen des Rehwildes habe, die Altersbestimmung vielmehr denkbar einfach sei.
Im Vorbereitungskurs auf die Prüfung ging es um falsche und richtige Böcke. Meine Einwände, das vermittelte Wissen entbehre jeglicher wissenschaftlicher Grundlage, sei nach meinen Erfahrungen Nonsens, wurden von meinem Herrn Sohn mitleidig belächelt. Was die Altersansprache des Rehwildes betreffe, seien meine Kenntnisse antiquiert, glaubte er.
Ein Sechser – besser ein ungleich verecktes Sechserchen – war es, der mir Kopfzerbrechen bereitete. Mehrfach beobachtete ich den Bock auf dem großen Wildacker. Stets nur kurz, zu kurz, um ihn genau anzusprechen. Einmal erschien er jung, ein anderes Mal war ich sicher, einen »Geheimrat« vor mir zu haben. Dann hatte ich Muße, ihn mit dem Spektiv zu beobachten, und er kam mir wieder sehr alt vor.
Otto von Bismarck, sein Name wurde in meinem Elternhaus nur ungern erwähnt, mein Großvater war strammer Anhänger des Welfenhauses, schrieb ihn stets ohne »c« und argumentierte, diesen Namen müsse man sich nicht merken, ebendieser Bismarck soll gesagt haben: »Der einzige Augenblick in meinem Leben, in dem ich wirklich glücklich gewesen bin, war, als ich meinen ersten Hasen erlegte.« Das kann ich nachempfinden. Als mein erster Bock lag, ein jämmerlicher Knopfer, ging es mir ähnlich. Ich fühlte mich endlich erwachsen, endlich als vollwertiger Jäger. Und nun durfte ich mit meinem Sohn ins Revier, damit auch er seinen ersten Rehbock schießen würde.
Moritz kann es kaum erwarten, und so stapfen wir denn los: ein junger, vor Passion und Ungeduld strotzender und ein älterer, abgeklärter Jäger.
Den Schäferdamm entlang pirschen wir, der Sohn seinem Begleiter unsicher immer wieder von der Seite einen Blick zuwerfend, der Vater routiniert, wohlwollend, hin und wieder seinen hoffnungsvollen Sprössling unauffällig musternd.
Am alten Wildacker kriechen wir in ein Gebüsch, das gute Deckung und genügend Blickfeld bietet. Der Wind steht günstig.
Ein fragender Blick meines Sohnes – erst zur Kanzel, dann zu mir –, und ich schüttele den Kopf. »Vom Hochsitz aus zu schießen überlassen wir den Alten«, flüstere ich. Unverständnis spricht aus der Reaktion des Jungjägers.
Mir kommen mit einem Mal die fast unwirklich scheinenden Nächte in einem Iglu in den Sinn, in dem mein Freund Michael und ich vor Jahren nach einer Gänsejagd an der Hudson Bay wegen der ungünstigen Wetterverhältnisse festgehalten waren. Das Buschflugzeug konnte uns nicht wie geplant abholen. Drei Tage verbrachten wir mit Inuits auf engstem Raum und verkürzten uns die Zeit mit Erzählen von Anekdoten.
»Wie jagt ihr in Deutschland?«, fragte mich damals der Chef der Eskimos. Ich berichtete von Abschussplänen, die vorschreiben, wie viel Wild man schießen darf und wie stark es zu sein hat, erzählte von Revieren, die 100 oder 200 Hektar groß sind, von Kanzeln, Wildäckern, geharkten Pirschsteigen, bis ich unterbrochen wurde. »Nun gut, das ist Wildmanagement, aber was macht ihr, wenn ihr jagen wollt?« Die Frage hatte mich beschämt. Wenn ich heute, gewissermaßen von der Natur isoliert, auf einer Kanzel sitze, denke ich oft an den Ausspruch dieses Inuks.
Mein Sohn stupst mich behutsam an und reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Igel marschiert schnaufend ein paar Meter entfernt an uns vorbei.
Wenige Meter weiter bewegen sich Dornenzweige, dann hüpft eine Mönchsgrasmücke so nahe heran, dass man sie hätte greifen können.
Kurz darauf beobachten wir zwei bunt schillernde Käfer, und als die Dämmerung hereinbricht, jagen sich zwei Mäuse fast über unsere Stiefelspitzen. Beobachtungen, die uns in einer Kanzel entgangen wären.
Als es dunkel ist, ziehen wir zufrieden heimwärts, freuen uns an den Glühwürmchen und dem Ruf des Kauzes, während die fast volle Scheibe des Erdtrabanten – Schweinesonne nennen manche den Mond – hinter den Kiefern aufsteigt und die Nacht fast zum Tage macht.
Am nächsten Morgen sitzen wir vor Tagesanbruch wieder in dem Gestrüpp, genießen den stimmungsvollen Sonnenaufgang und das anschwellende Konzert der Vögel. Ja, und dann erhalte ich einen gewaltigen Stoß in die Seite. Auf 70, 80 Gänge zieht ein Bock auf den Wildacker. Ein herrliches Bild: das von der aufgehenden Sonne beschienene, rot leuchtende Reh im frischen Grün zwischen glitzernden Tautropfen und mit dem dunklen Kiefernwald als stimmungsvollem Hintergrund. Dazu zahllose Vögel, die allesamt auf ihre Art den anbrechenden Tag begrüßen. Ich brauche kein Glas, um ihn als alt anzusprechen, zumal ich auch ungleich vereckte Sechserstangen erkenne.
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Die Morgen- und Abenddämmerung ist die schönste Zeit für die Jagd.
Ein fragender, auffordernder Blick des jungen Jägers, Kopfnicken, dann auch Kopfnicken meinerseits. Wir sind uns einig, vor uns steht der erhoffte Alte. Behutsam geht die Büchse in Anschlag.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie mein Sohn vom Jagdfieber geschüttelt wird. Die Gewehrmündung wackelt wie Espenlaub.
»Wenn er breit steht, schieß!«, flüstere ich und konzentriere mich auf das Reh.
Durch das Fernglas erkenne ich fast jede Einzelheit des Gehörns, den massigen Träger und den mürrischen Gesichtsausdruck.
Dabei wird meine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Moritz zielt und zittert, setzt die Waffe ab, atmet tief durch, legt wieder an, starrt angestrengt durch das Zielfernrohr, zittert und zielt, holt hörbar tief Luft, atmet schnaufend aus, versucht sich zur Ruhe zu zwingen, ohne Erfolg. Das Jagdfieber macht ihm einen bebenden Strich durch die Rechnung. Als der Schuss bricht, sichert der Bock in unsere Richtung, zieht weiter und trollt, als mein Filius sich bemüht, leise zu repetieren, zum Waldrand, wo er kurz verhofft – und dann verschwindet.
In gedrückter Stimmung machen wir uns auf den Heimweg.
Plötzlich sitzt mitten auf dem Weg ein Hase. Er wirkt überlebensgroß und mümmelt an einem riesigen Sauerampfer. Wenn er sich gemächlich vorwärtsbewegt – der Ausdruck »hoppeln« trifft hier gewiss nicht zu –, sieht das unbeholfen, schwerfällig aus. »Er hat viele, viele Feinde –alle, alle wollen ihn fressen«, zitiert mein Sohn, als wir Meister Lampe lange genug durch unsere Ferngläser bei der Morgentoilette zugeschaut haben. »Warum fällt dem jungen Jäger dies gerade jetzt ein?«, überlege ich und erkläre: »Es gibt in der Tierwelt keine Feindschaft, das Verfolgen eines Hasen durch Habicht, Marder oder Fuchs entspricht dem ewigen Naturgesetz des Fressens und Gefressenwerdens.«
Am Abend sitzen wir wegen des Windes am selben Wildacker unter einem riesigen Holunderbusch. Holuntar, »Baum der Holler«, nannten ihn unsere Vorfahren und hatten ihn Frau Holle geweiht. Üppig ranken sich Märchen und Sagen um diesen seltsamen Strauch, aus dessen Zweigen wir als Jungen Blasrohre oder Flöten bastelten und der in der Heilkunde seit uralten Zeiten einen hervorragenden Platz einnimmt. Ein Hauch Geborgensein geht von seinem grünen, mit weißen Lichtern winkenden Blätterdach aus.
Wunderbar, wie die Abendröte die Landschaft verzaubert. Kleine Fliegenkreisen in Schwärmen über uns. In Tanzgruppen heben sie sich in die Höhe, als drehten sie sich um eine Spindel. Dann kommen alle wieder gleichzeitig herab, Hals über Kopf zitternd, ohne je aneinanderzustoßen. Ein herrliches Spiel. Unglaublich, dass Hunderttausende solcher Winzigkeiten so einen großartigen Lufttanz aufführen können, immer in derselben schmalen Säule, ohne einander zu berühren. Die kleinen Insekten schlagen Purzelbäume, eines aufwärts, eines abwärts. Eines hüpft beim Fliegen, ein anderes kreist wie im Tanz, und keines stört dabei das andere.
Ein Häher streicht lautlos auf uns zu, schwingt sich krächzend in jäher Wendung herum und wird vom Schutz der dichten Kiefernäste aufgenommen.
Dann arbeitet sich ein blauschwarz glänzender Mistkäfer umständlich durch das Laub zu unseren Füßen. Als es zu dämmern beginnt, gesellt sich am anderen Ende der Fläche, zu weit für einen sicheren Büchsenschuss, ein Reh zu der bereits ausgetretenen Ricke. Der Alte? Ankriechen wäre ein Wettlauf mit der aufkommenden Dunkelheit, und so betrachten wir den Bock durch unsere Gläser, bis es stockfinster ist und wir nach Hause schnüren, sicher, den alten Bock am kommenden Morgen zu erlegen. Doch mit des Geschickes Mächten …
Dreimal harren wir noch an dem Wildacker, aber der Bock lässt sich nicht blicken. Moritz schießt schließlich einen anderen Bock.
Mehrere Male sitze ich dann allein am großen Wildacker, ohne Rehwild in Anblick zu bekommen. Erst im Sommer, als ich vom Frühansitz heimwärts ziehe, beobachte ich am Rand, von Gestrüpp verdeckt, ein Reh. Durchs Glas erkenne ich schließlich ein Gehörn, und dann besteht kein Zweifel, auch wenn ich nicht viel von ihm sehe, es ist der ominöse Sechser.
Ob der Wind umgeschlagen ist oder küselt, weiß ich nicht, jedenfalls äugt der Bock starr zu mir herüber, und ich gehe in eine Down-Lage, vor der jeder Hundeführer Hochachtung gehabt hätte. Flach wie eine Flunder liege ich am Boden, warte auf den Augenblick, in dem das Haupt wieder in das Gestrüpp eintaucht.
Dann robbe ich los, spärlich gedeckt durch das morgendlich feuchte Gras. Als mich noch knapp 70 Gänge von dem Bock trennen, tritt er auf den Wildacker aus und steht breit wie eine Zielscheibe. Behutsam setze ich mich auf den Hosenboden und bringe die Büchse auf meinen Knien in Anschlag.
Nach dem Schuss ist der Bock verschwunden. Eine breite Spur im Gras zeigt aber den Weg, den er geflüchtet ist. Dieser letzte Weg ist betaut von dunklem Herzschweiß.
Eine Amsel schießt zeternd davon. Etwa 20 Gänge weiter entdecke ich den roten Bock zwischen braunem Farnkraut wie hingebettet auf einigen Trieben der wild wuchernden Brombeeren, die gierig versuchen, die von Menschen urbar gemachte Fläche für die Natur zurückzuerobern.
Fast alles hat planmäßig geklappt. Spannendes Entdecken, aufregendes Ankriechen, der Schuss gut, und ich hätte eigentlich zufrieden sein müssen. Stattdessen ärgere ich mich über meine Ansprechkünste. Vor mir liegt nämlich ein zweijähriger Bock. Sein jugendlichbuntes Gesicht und der schmale Träger lassen es auf den ersten Blick erkennen.Trotzdem werde ich meinem Grundsatz untreu und schärfe dem Bock den Äser auf, um die Zähne in Augenschein zu nehmen. »Postmortale Klugscheißerei« nannte dies unser im Pulverdampf ergrauter Wildmeister. Der Erlegte wird durch die Entstellung nicht älter. Grübelnd breche ich ihn auf, schultere ihn und stapfe heimwärts.
Zu Hause wird der »Kindermord« schweigend zur Kenntnis genommen.
Drei Wochen später erzählt mir mein Bruder am Telefon, dass er einen uralten Bock erlegt habe, ich den Falschen geschossen hätte.
Später, als er mir den gebleichten Schädel seines wohl über acht Jahre alten Bockes zeigt, den er am alten Wildacker erlegt hat, wird mir der doppelte Sinn seiner Worte klar. Das Gehörn sieht meinem zum Verwechseln ähnlich, es kann sich nur um Vater und Sohn handeln.