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Kapitel 2: Heißer Kaffee und wirre Träume
ОглавлениеAls ich das Café um zehn nach halb zehn betrat, saßen meine drei Sprösslinge bereits an einem Tisch. Auf den Tellern, die vor ihnen standen, türmten sich Brötchen, Schinken, Käse und Eier, und auf einer weiteren Platte, die in der Mitte des Tisches stand, waren leckere Mehlspeisen aufgeladen. Daneben dampfte Kaffee in bauchigen Tassen und drei Gläser, gefüllt mit Orangenjuice, befanden sich ebenfalls auf der reichlich gedeckten Tafel. Dass sie an mich gedacht und den von mir so begehrten Tomatensaft organisiert und bereit gestellt hatten, empfand ich als besonders liebenswürdig.
„Hallo, Mama“, sagten alle drei im Chor und Nele, die trotz ihrer Exaltiertheit die Herzlichste von allen war, stand auf und küsste mich, „Mamilein, mein liebes Mamilein, schön, dass du hier bist“ murmelnd, zuerst auf die linke, dann auf die rechte Backe und drückte mich ganz fest an sich.
Sunny und Maggy schienen in ein Gespräch vertieft zu sein, denn außer ihrem flüchtig hingeworfenen „Hallo, Mama“ nahmen sie keine Notiz von mir. Wahrscheinlich überlegten sie schon, was sie zu der dämlichen Hochzeit ihres Vaters anziehen sollten.
Ich nahm Platz, nippte an meinem Tomatengetränk und beobachtete meine Töchter. Ich war stolz auf sie, denn sie waren wirklich gut geraten und hübsche junge Frauen geworden.
Nele hatte wieder – wie könnte es anders sein – ein weites, buntes Kleid an und trug ihre kaum zu bändigende Lockenmähne zur Abwechslung offen. Ihr Gesicht hatte an diesem Tag einen ganz besonderen Glanz und ihre Wangen waren leicht gerötet.
Sunny war wie immer wie aus dem Ei gepellt. Sie trug ein mintgrünes Kostüm mit weißer Bluse und hatte ihre dichten, glatten, brauen Haare wie gewohnt zu einem kunstvollen Knoten im Nacken drapiert, was ihr seriöses Wesen noch unterstrich. Sie und Nele sahen einander sehr ähnlich. Beide hatten ein schmales Gesicht mit hohen Backenknochen, ein kleines Näschen und große, mandelförmige, dunkle Augen.
Natürlich war auch Maggy ein hübsches Persönchen, sie hatte aber etwas härtere Gesichtszüge als ihre jüngeren Schwestern. Sie trug ihr ebenfalls dunkelbraunes Haar, seit ich zurück denken konnte, als Pagenkopf frisiert. Heute war sie mit Jeans, einer orangen Bluse und einem creme-weißen Blazer bekleidet.
Maggy war ein äußerst praktisch denkender Mensch, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Sie liebte ihren Beruf und ihren langweiligen Hannes und stand mit beiden Beinen im Leben. Ein Laster hatte sie allerdings, und das, obwohl sie Medizinerin war: Sie war eine leidenschaftliche Raucherin.
Ich stand auf, holte mir eine Tasse Kaffee und bestaunte das wirklich großartige Buffet. Allerdings hatte mir die Neuigkeit, die Heinz mir aufgetischt hatte, irgendwie den Appetit verdorben. Lustlos klatschte ich ein Brötchen und etwas Schinken auf meinen Teller und nahm mir ein weiches Ei.
Sunny und Maggy tuschelten geheimnisvoll, als ich wieder auf unseren Tisch zusteuerte. Und nachdem ich mich gesetzt hatte, grinsten sie mich an, als würden sie für ein Werbeplakat für Zahncreme posieren.
„Was ist los mit euch beiden?“, fragte ich, während ich vorsichtig mein Ei köpfte.
„Mit uns ist gar nichts los“, antworteten sie im Chor, als ob sie es eingeübt hätten, „aber Nele muss dir etwas sagen.“
„Nele muss mir gar nichts sagen“, erwiderte ich, und nun war ich es, die breit grinste und ganz langsam, indem ich mir jedes Wort förmlich auf der Zunge zergehen ließ, hinzufügte: „Ich weiß es nämlich schon.“
„Du weißt es schon? Aber woher?“, staunten sie, und weg war ihr Zahnpasta-Grinsen. Jetzt rissen sie nur noch Augen und Münder auf.
„Heinz hat es mir gesagt“, erwiderte ich. „Er hat angerufen, als ich gerade losfahren wollte. Er wollte mir diese Hiobsbotschaft persönlich überbringen.“
„Was hat Papa dir gesagt?“, fragte nun Nele, die sich zum ersten Mal an diesem freundlichen Morgen ins Gespräch einbrachte. Bisher war sie, abgesehen von ihrer herzlichen Begrüßung, nur damit beschäftigt gewesen, den Berg von Nahrungsmitteln, den sie auf ihrem Teller aufgetürmt hatte, zu vertilgen. Momentan biss sie genüsslich in ein Schokoladencroissant und knabberte dazu ein Essiggurkerl. Naja, über Geschmack ließ sich bekanntlich streiten; das bewies meine Nele ja auch, was ihren Kleidungsstil betraf.
„Was soll er mir schon gesagt haben? Dass er Tanja Siharsch im Sommer heiraten wird“, antwortete ich. „Aber ihr wisst ja ohnehin Bescheid. Und sicher seid ihr zu dieser Traumhochzeit auch eingeladen.“
„Ach das!“, rief Maggy nun – fast erleichtert – aus. „Das haben wir gar nicht gemeint. Es gibt nämlich noch ganz andere Neuigkeiten.“ Und an Nele gewandt fuhr sie fort: „Nun sag’s ihr schon, du kleiner Feigling!“
Ich blickte von Maggy zu Nele, von Nele zu Sunny, von Sunny wieder zu Maggy und dann noch einmal zu Nele und verstand gar nichts. Was sollte Nele mir sagen? Hatte sie womöglich tatsächlich wieder den Job gewechselt oder gar gekündigt, ohne einen neuen zu haben, und war nun eine arbeitslose Hobbymalerin, die sich mit einem arbeitslosen Langzeitstudenten eine Wohnung teilte?
Aber Nele sagte gar nichts. Sie kramte nur umständlich in ihrer riesigen Handtasche und zog ein Kuvert heraus, das sie mir über den Tisch reichte.
„Du bist gekündigt worden“, warf ich ihr vorwurfsvoll an den Kopf, „und du hast noch keinen neuen Job.“
„Na, schau doch rein in das Kuvert, ehe du vorschnell urteilst!“, forderte mich meine Tochter auf.
„Du hast ein Stipendium für die Kunstuniversität“, rätselte ich – diesmal ohne Vorwurf in der Stimme – weiter.
Nele schüttelte genervt den Kopf, wischte sich eine Lockensträhne aus dem Gesicht, rollte die Augen – das hatte sie schon als kleines Mädchen getan, wenn sie mit ihrer Mutter, also mit mir, nicht einverstanden gewesen war – und meinte: „Ich sag gar nichts! Mach’s einfach auf und schau, was drinnen ist!“
Vorsichtig lugte ich in den Umschlag. Ein Schwarzweißbild war drinnen. Ich bekam weiche Knie. War Nele etwa krank? War dies ein Röntgenbild? Vor Entsetzen krampfte sich mein Magen zusammen, mein Herz drohte stehen zu bleiben, und was sich vor meinem geistigen Auge abspielte, möchte ich gar nicht wiederholen.
Ganz behutsam und mit zitternden Händen zog ich das Bild aus dem Umschlag und betrachtete es. Es war kein Röntgenbild, es war aber so etwas Ähnliches wie ein Röntgenbild. Es war eine Ultraschallaufnahme.
Ich blickte vom Bild zu Nele, von Nele wieder zum Bild und schließlich wieder vom Bild zu Nele. Und als ich mich einigermaßen gefasst hatte, stellte ich die dämlichste Frage, die man in einer solchen Situation stellen konnte: „Bist du etwa schwanger?“
Genau so dämlich, aber belustigt grinsend, antwortete meine Tochter: „Aber nein, Mamilein, wo denkst du hin? Was du auf dem Bild siehst, ist ein Frosch. Ich habe einen Frosch verschluckt, und der Onkel Doktor hat ihn fotografiert.“
Mir war in diesem Moment überhaupt nicht nach Scherzen zumute, und deshalb sagte ich vorwurfsvoll: „Cornelia, nimm mich bitte nicht auf die Schaufel!“
„Ich muss dich doch auf die Schaufel nehmen, wenn du so bescheuert fragst“, konterte meine Tochter, und dann fuhr sie fort: „Natürlich bin ich schwanger. Oder denkst du, ich leihe mir Ultraschallbilder aus, um dich an der Nase rumzuführen? Freust du dich denn nicht? Du wirst endlich Großmutter.“
Und Sunny und Maggy kicherten (auch Sunny kicherte!) begeistert: „Und wir werden Tanten. Ist das nicht cool? Wir müssen gleich eine Flasche Sekt bestellen, um darauf anzustoßen.“
Ich konnte die Euphorie, die meine Kinder ob dieser Tatsache an den Tag legten, absolut nicht nachvollziehen. Wie stellte Nele sich das vor? Wie wollte sie sich bei ihrem Lebenswandel um ein Kind kümmern? Wie wollte sie für so ein kleines, unschuldiges Wesen Verantwortung übernehmen, wenn sie nicht einmal imstande war, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen? Sie jobbte mal da, mal dort und hatte noch nicht einmal einen festen Freund.
Oder vielleicht doch? Wenn es da ein Kind gab, dann musste es doch zwangsläufig auch einen Vater geben. Hatte ich da irgendetwas verpasst?
Mein Magen hatte sich wieder einigermaßen entkrampft, und so tat ich, was ich in Situationen, denen ich mich nicht gewachsen fühle, immer tue: Ich mampfte gierig mein Brötchen, löffelte mein Ei und schlürfte meinen Kaffee, wobei ich mir zu allem Überfluss noch Zunge und Gaumen verbrannte.
Währenddessen schossen so viele verschiedene Gedanken durch meinen Kopf, dass ich gar nicht mitbekam, was ich da eigentlich aß. Als ich den letzten Bissen hinunter gewürgt hatte, wandte ich mich wieder an meine schwangere Tochter und fragte sie direkt auf den Kopf zu:
„Und wer ist der Vater?“
„Das geht niemanden etwas an“, antwortete Nele trotzig wie ein Backfisch.
Und ob mich das etwas anging! Ich wusste jetzt schon, dass ich alles nur erdenklich Mögliche daransetzen würde, um herauszubekommen, wer meine Tochter geschwängert hatte. Das wäre ja noch schöner: Zuerst hätte da Mister Unbekannt das Vergnügen gehabt, und wenn es darum ging, Verantwortung zu übernehmen, sollte er verschont bleiben? Was war das bloß für ein Tag?! Zuerst die Hiobsbotschaft von Heinz und nun auch noch das! Ich hatte ein Gefühl, als ob mein Gehirn anschwellen wollte.
„Ich glaube, ich brauche jetzt eine Zigarette. Maggy, hast du eine für mich?“, fragte ich meine Älteste finster.
„Aber Mama, du hast doch mit dem Rauchen aufgehört“, mischte sich Sunny vorwurfsvoll ein, „und außerdem wolltest du, soweit ich mich erinnern kann, schon seit längerer Zeit unbedingt Enkelkinder bekommen. Immer wieder hast du uns mit deiner Sehnsucht nach einem Baby genervt und deine Freundinnen beneidet, die schon Kinderwägen mit den kleinen Bälgern ihrer Töchter durch die Gegend schieben. Jetzt freu dich doch!“
Maggy hingegen schob mir ihre Zigarettenpackung und ein Feuerzeug über den Tisch und sagte ganz einfühlsam: „Ich denke, Mama muss sich erst an den Gedanken gewöhnen. Lassen wir ihr doch etwas Zeit!“
Ich schnappte mir die Packung, stapfte aus dem Lokal an die frische Luft, bemerkte gerade noch, dass Sunny mit dem Satz „Ich lass uns jetzt eine Flasche Sekt servieren“ aufsprang und Richtung Bar eilte, zündete mir eine von Maggys Zigaretten an und zog den Rauch tief in meine Lungen.
Wahrscheinlich hatte meine Älteste recht und ich musste wirklich erst alles verdauen. Aber was es heute zu verdauen gab, war schon ein bisschen zu viel für einen empfindlichen Magen. Zuerst hatte mir Heinz die Siharsch-Tussen-Vermählung präsentiert. Wie sollte ich mit diesem schwanzgesteuerten Affen jemals wieder ein seriöses Gespräch führen oder als ernst gemeintes Elternpaar mit ihm öffentlich auftreten, falls eine unserer drei Töchter doch einmal gedachte zu heiraten, wenn er so blöd war, auf diese geld- und renommégeile Zicke reinzufallen? Aber eigentlich verblasste meine Empörung über diese Eheschließung angesichts der Tatsache, dass ich nun Großmutter werden würde.
Diese Offenbarung brachte meine gesamte „neue“ Zukunftsplanung ins Wanken: Ich hatte lange mit meinem Schicksal gehadert, als meine Ehe mit Heinz in die Brüche gegangen war. Aber irgendwann war es mir gelungen, mir ein schönes Leben als Single-Lady nicht nur vorzustellen, sondern ein solches auch zu genießen.
Was meinen tatsächlich geäußerten Wunsch, Großmutter zu werden, betraf, hatte ich mich inzwischen damit abgefunden, dass sich meine „seriösen“ Töchter Maggy und Sunny damit noch Zeit lassen wollten. – Und damit, dass mich Nele zur Oma machen würde, hatte ich sowieso nie gerechnet.
Ich sah in dem Umstand, derzeit noch „enkellos“ zu sein, sogar eine Chance für mich selbst: Ich hatte eine hübsche Wohnung, keine Verantwortung für eigene kleine Kinder mehr, keine übertriebene Affenliebe niedlichen Enkerln gegenüber (seit sie Großmutter war, weigerte sich meine Nachbarin Anita strikt, länger als eine Woche zu verreisen), genug Geld, um schöne und interessante Urlaube nicht nur zu planen (denn weiter war es mit Heinz nie gekommen), sondern tatsächlich auch anzutreten, und genügend Zeit, um mich endlich wieder ab und zu mit meinen ältesten Freundinnen Silvia und Anna, die ich schon seit meiner Kindheit kannte, zu treffen.
Ich konnte mir meine Freizeit einteilen, wie ich wollte, ohne auf irgendjemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Ich ging ab und zu ins Kino, ins Theater oder in eine Ausstellung, betrieb mehr oder weniger regelmäßig ein wenig Sport, indem ich joggte oder mit dem Rad fuhr, und verbrachte viele Stunden lesend auf meiner Couch, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben oder mich meines Müßigganges wegen rechtfertigen zu müssen.
Ich ließ in meiner chaotischen Art die Dinge in meiner Wohnung einfach auch ein paar Stunden liegen, ohne dass mir jemand meine Schlampigkeit vorwerfen konnte, und räumte erst dann auf, wenn es mir selber in den Kram passte oder wenn mir mein eigenes Chaos zu viel wurde.
Einzig mein Sexualleben war nach der Scheidung im wahrsten Sinne des Wortes unbefriedigend. Denn im Alter von sechsundfünfzig Jahren findet man nicht mehr so leicht einen Partner, der zu einem passt, und schnelle Flirts oder gar One-Night-Stands waren zwar schon vorgekommen, waren für mich aber nicht unbedingt erstrebenswert. Sex ohne Liebe war für mich vergleichbar mit Pasta asciutta ohne Parmesan: schon pikant, aber das gewisse Etwas fehlte.
Es hätte eigentlich alles gut sein können, so wie es war. Und nun sollte alles anders kommen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich zündete mir eine zweite Zigarette an und überlegte fieberhaft, wer denn der Vater meiner Enkelin, denn es war für mich selbstverständlich, dass meine Tochter ein Mädchen zur Welt bringen würde, sein könnte:
Als erster potentieller Kandidat kam mir Jan, der arbeitslose Langzeitstudent, in den Sinn. Nele verstand sich blendend mit ihm, betonte aber immer wieder, dass er nur ein guter Freund sei. Aber so abwegig war der Gedanke nicht, dass die beiden nach dem Genuss einer Flasche guten Weines und in Anbetracht der Tatsache, dass sie beide vielleicht an einem gewissen Notstand litten, einmal eine rauschende Liebesnacht miteinander verbracht hatten.
Als Nächster fiel mir Neles ehemaliger Chef, der Gärtner, ein, der meine Tochter mehrmals ihres grünen Daumens wegen gelobt hatte. Vielleicht hatte er noch andere Qualitäten meines Kindes geschätzt und womöglich seine Position als ihr Vorgesetzter schamlos ausgenutzt. Mir graute vor der Vorstellung, was meine arme Nele unter solchen Umständen möglicherweise mitgemacht hatte. So gesehen war es kein Wunder, dass sie wieder den Job gewechselt und die Anstellung im Fitness-Studio angenommen hatte.
Aus diesem kam – soviel ich wusste – niemand in Betracht, denn ihre neuen Kollegen waren allesamt weiblichen Geschlechts, und auch die Leitung des Studios oblag einer Frau.
Was ich nicht wusste, war natürlich, mit wem Nele sonst noch freundschaftlich oder irgendwie anders verkehrte, denn sie hatte mir ja bisher keinen ihrer Kurzzeitschwärme vorgestellt.
Vielleicht sollte ich einmal Neles bester Freundin Susi auf den Zahn fühlen. Susi wusste bestimmt mehr. Aber das musste ich geschickt angehen, denn anders würde ich mit Sicherheit nichts in Erfahrung bringen. Die beiden kannten einander schon seit frühester Kindheit, und wenn es darauf ankam, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Außerdem war es sehr schwierig, an Susi heranzukommen, denn sie lebte und arbeitete im Norden der Stadt, weshalb ich sie nie rein zufällig traf.
Ich drückte meine zweite Zigarette aus und wankte – wegen des ungewohnten Nikotingenusses ziemlich unsicher – zurück ins Lokal und zu dem Tisch, an dem meine drei Kinder einträchtig saßen und Sekt schlürften, um auf das fragwürdig-freudige Ereignis anzustoßen.
„Was ist los mit dir, Mamilein?“, fragte mich Sunny. „Du wackelst ja schon, obwohl du noch gar nichts getrunken hast.“ Und schon stellte sie mir ein Glas Sekt vor die Nase. So ausgelassen erlebte ich meine Jüngste sonst nie.
Lustlos nippte ich an dem mir zugeteilten alkoholischen Getränk, beteiligte mich aber nicht an dem Gespräch, das meine Kinder angeregt führten. Es drehte sich natürlich ums Baby, aber ich bekam nicht einmal mit, worum es im Detail ging.
Das nächste Gesprächsthema betraf die Hochzeit von Heinz. Doch darüber wollte ich eigentlich nichts mehr hören, und deshalb stand ich auf, schlüpfte in meinen Blazer, den ich mir einer gehörigen Wallung wegen abgestreift hatte, und verabschiedete mich:
„Tut mir leid, Kinder, aber ich habe Kopfschmerzen. Ich fahre jetzt nachhause und lege mich eine Weile hin.“
Und zu Nele gewandt sagte ich noch:
„Ich komme am Montag am Nachmittag zu dir und bringe dir etwas Obst mit. Du musst dich jetzt vitaminreich ernähren.“
„Ja, Mamilein, ich freue mich auf dich. Aber übertreibe es nicht mit dem Obst! Ich kann schon selbst für mich sorgen“, erklärte sie mir.
Wir verabschiedeten uns herzlich wie immer und ich verließ das Lokal und ging zu meinem Smart. Ich war noch immer so verwirrt, dass ich eine Weile überlegen musste, wo ich ihn geparkt hatte.
Im Auto erst fiel mir ein, dass ich nicht einmal nachgefragt hatte, wann denn das freudige Ereignis, also die Geburt, stattfinden würde. Ich wurde nun Großmutter und hatte keine Ahnung, wann meine eigene Tochter ihren Entbindungstermin hatte!
Als ich bereits gestartet hatte, überlegte ich, wer noch davon wissen könnte, dass Nele schwanger war. Ihren Schwestern hatte sie ihr süßes Geheimnis früher anvertraut als mir, das lag auf der Hand. Aber hatte sie Heinz auch schon eingeweiht? Wusste er bereits, dass er Großvater wurde? Dann wusste er es früher als ich – die eigene Mutter?! Das war schon ein starkes Stück. Jetzt kämpfte ich sensible Kuh doch glatt mit den Tränen. Denn ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich die Erste sein würde, die von den Kindern einmal eingeweiht werden würde, dass es da ein süßes Geheimnis gab, wenn es denn so weit war.
Der nächste Gedanke, der mir kam, setzte mir so sehr zu, dass ich beinahe eine rote Ampel übersehen hätte – ich musste so scharf bremsen, dass die Reifen quietschten: Wenn Heinz schon Bescheid wusste, dann war die Siharsch als zukünftige Stiefmutter sicher auch informiert. Das versetzte mir einen Stich ins Herz und ich konnte meine Tränen nun wirklich nicht mehr zurückhalten.
Verärgert über mich selber und meine dämliche Sensibilität bog ich in meine Straße ein, parkte den Smart, wischte meine Tränen weg, wobei ich natürlich die Wimperntusche verschmierte, und lief – wie ein trauriger Clown aussehend – in meine Wohnung. Ich schälte mich aus meinem Ausgeh-Outfit und warf mich aufs Bett. So gern hätte ich mich ein wenig ausgeruht, aber ich fand keinen Schlaf.
Also zog ich Jogginganzug und Laufschuhe an und setzte mein Vorhaben vom frühen Morgen in die Tat um: Ich ging laufen. Das tat mir im Normalfall immer gut, egal, wie groß die Probleme waren, die sich vor mir aufgetürmt hatten. Doch heute wollte sich der gewohnte Erfolg nicht einstellen: Etwas ausgepowert bog ich eine dreiviertel Stunde später wieder in meine Straße ein, aber das Gedankenchaos in meinem Kopf hatte sich noch immer nicht gelegt.
Als ich zurückkam, stand meine Nachbarin Anita auf ihrem Balkon und zupfte an ihren Blumen herum. Es schien mir fast so, als ob sie mich abgepasst hätte.
„Hallo Clau!“, rief sie mir zu. Sie war zum Glück die einzige Person in meinem Bekanntenkreis, die auf die wirklich bescheuerte Idee gekommen war, meinen Namen dermaßen zu verunglimpfen. Alle halbwegs normal tickenden Menschen nannten mich Claudia oder wenigstens Claudi (meine Kindheitsfreundinnen Silvia und Anna und vor langer Zeit Heinz - zumindest wenn ich Heinzi zu ihm gesagt hatte). „Komm doch auf einen Kaffee vorbei, Kurt hat heute Dienst auf der Wache!“, forderte sie mich auf.
Große Lust hatte ich nicht, den restlichen Nachmittag bei meiner Nachbarin zu verbringen, aber vielleicht würde sie mich ja auf andere Gedanken bringen. Ich war schon nahe daran zu sagen: „Ich gehe nur schnell unter die Dusche, dann komme ich zu dir rüber“, als mir im letzten Moment doch noch eine – wenn auch nicht besonders glaubwürdige – Ausrede einfiel, die ich ihr zubrüllte:
„Tut mir leid, Anita, aber ich muss heute unbedingt noch ein paar Eier ausblasen und bemalen. Sonja hat beschlossen, auch einen Osterstrauß vor ihrer Eingangstüre zu platzieren.“
Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben eine solche Tätigkeit durchgeführt, weil ich sie einfach unappetitlich fand, und malen konnte ich schon überhaupt nicht. Dafür fehlte mir schlichtweg das Talent. Trotzdem war ich froh, mit dieser kleinen Notlüge meinen Nachmittag gerettet zu haben, denn ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie dieser bei meiner Nachbarin verlaufen wäre:
Sie wäre auf die Neuigkeiten, die mich beschäftigten, überhaupt nicht eingegangen, womöglich wäre es mir nicht einmal gelungen, sie loszuwerden, sondern hätte, ohne auch nur einmal tief Luft zu holen, einen Redeschwall über das Großmutterdasein über mich ergossen und die Vorzüge ihrer Enkelkinder in den höchsten Tönen gepriesen, sodass ich spätestens nach drei Minuten abgeschaltet hätte.
Schnell huschte ich ins Treppenhaus, um nicht doch noch im letzten Moment von Anita verhaftet werden zu können, und nahm den Lift, der mich zu meiner Wohnung in den dritten Stock transportierte.
Nach einer ausgiebigen Dusche wollte ich ein Buch lesen, konnte mich aber angesichts der vielen Neuigkeiten, die ich heute erfahren hatte, nicht konzentrieren. Auch der Versuch, einen Film im Fernsehen anzuschauen, scheiterte kläglich.
Also putzte ich das Badezimmer und die Toilette, beseitigte das Chaos in der Küche, im Wohnzimmer und auf meinem vereinsamten Doppelbett und schlichtete sogar die in der Diele herumliegenden Schuhe in den Schrank. Dann räumte ich noch meinen Kleiderschrank um, indem ich die wirklich warmen Wintersachen höher und die sommerlichen Shirts erreichbarer platzierte, und buk einen Kuchen, den ich am nächsten Vormittag meinen Eltern vorbeibringen wollte. Dabei konnte ich ihnen gleich die Nachricht, dass sie Urgroßeltern werden würden, präsentieren – wenn sie nicht ohnehin schon zu dem Kreis der Eingeweihten gehörten.
Als es endlich Abend wurde, machte ich mir eine Flasche Rotwein auf, holte die Fotoalben mit den Kinderaufnahmen meiner Töchter hervor, blätterte in einer sehr sentimentalen Stimmung darin und gab mich den Erinnerungen an die Zeit, als meine Mädchen noch klein gewesen waren, hin. Dazu hörte ich mir, um nicht wieder sentimentaler Weise heulen zu müssen, mindestens drei Mal die „13 schmutzigen Lieder“ von Georg Danzer an, und dann noch einige Male den >new orleans alptraum stomp<, das erste Lied auf dieser CD.
Nach dem ersten Glas Wein löste sich endlich die Spannung, die sich im Laufe des Tages in mir aufgebaut hatte, und ich sah alles, was ich an diesem Tag an unerfreulichen Neuigkeiten erfahren hatte, ein wenig lockerer.
Nach dem zweiten Glas Wein überlegte ich mir, ob ich noch einmal meine Wohnung verlassen und mir – entgegen meinem strikten Vorsatz, nicht mehr zu rauchen – eine Packung Zigaretten besorgen sollte. Das unterließ ich dann aber einerseits aus Bequemlichkeit, anderseits aus Sorge um meine Gesundheit.
Stattdessen schenkte ich mir ein drittes Glas Wein ein und nahm mir fest vor, noch einmal ein ernstes Wörtchen mit Cornelia zu sprechen: Sie musste den Namen des Kindsvaters einfach bekannt geben, egal ob es Jan oder der lüsterne Gärtner oder ein mir völlig Unbekannter war. Wenn nicht, würde ich persönlich dieses Geheimnis lüften, das schwor ich mir.
Nach dem vierten Glas Wein und nachdem ich nun endlich alle alten Fotoalben durchgeblättert hatte, stellte ich mir vor, wie ich stolz meinen Freundinnen erzählen würde, dass ich nun auch Großmutter wurde, und wie ich mit meiner im Kinderwagen schlafenden Enkeltochter durch den Park spazieren würde, wie ich ihr das Fläschchen geben würde, wie ich sie wickeln würde, wie ich ihr viele rosarote und geblümte Kleidchen mit dazu passenden rosaroten und geblümten Hütchen kaufen würde, wie ich mit ihr Puppen spielen und Kinderlieder singen würde und wie ich ihr Geschichten erzählen und Märchen vorlesen würde und wie sie ihre zierlichen Ärmchen um mich schlingen und „Ich hab dich sooo lieb, Omilein“ sagen würde.
Nach dem fünften Glas Wein war es halb elf Uhr, ich war müde und ziemlich beschwipst – so viel Alkohol trank ich nämlich normalerweise nicht – und beschloss ins Bett zu gehen. Ich schlief in dieser Nacht aber äußerst unruhig und hatte wirre Träume. An zwei davon konnte ich mich sogar noch am nächsten Morgen erinnern:
Im ersten Traum lag Jan, der arbeitslose Langzeitstudent, auf einem OP-Tisch. Sein Bauch war so rund, als hätte er einen Medizinball verschluckt. Ich selbst stand daneben und hatte ein riesengroßes Messer in der Hand. Und hinter mir stand Nele und beschwor mich: „Du musst die Babys rausschneiden, Mama! Mach schon! Du musst jetzt endlich die Babys rausschneiden!“ Dann kam Heinz, gefolgt von der Siharsch, in den Raum und sagte: „Tanja und ich haben beschlossen, dass ich die Babys rausschneide. Denn der Onkel Doktor kann das professioneller erledigen als eine Physiotherapeutin“, und scheuchte Nele und mich aus dem Raum, während Jan jämmerlich vor sich hin wimmerte.
Im zweiten Traum hatte ich offensichtlich den >new orleans alptraum stomp< von Georg Danzer verarbeitet, denn in ihm waren Heinz und die Siharsch nach New Orleans gereist, um zu heiraten. Sie heirateten aber nicht – wie geplant – einander. Sondern Heinz ehelichte eine unvorstellbar dicke, amerikanische Prostituierte, die nur sehr spärlich bekleidet war und auf den deutschen Namen Annette hörte. Die Siharsch vermählte sich mit einem glatzköpfigen Ganzkörpertätowierten, der Stanscheißer Koarl hieß. Die Trauungen vollzog ein mit einer grünen Gärtnerschürze bekleideter Österreicher, der einen Rechen in der linken und einen Spaten in der rechten Hand hielt, äußerst lüstern dreinschaute und einen breiten steirischen Dialekt sprach.