Читать книгу Oma im Info-Stau - Gertraud Sayer - Страница 5
Kapitel 3: Monday Morning
ОглавлениеAm Montag regnete es und es war empfindlich kalt geworden. Für höher gelegene Regionen war sogar Schnee prognostiziert worden. Ich konnte also nicht wie geplant mit dem Rad zur Arbeit fahren, sondern musste den Smart nehmen.
Trotzdem war ich einigermaßen gut gelaunt, denn der Besuch bei meinen Eltern, der als Kurzbesuch geplant gewesen und dann doch ein Ganztagesbesuch geworden war, war sehr erfreulich und gemütlich gewesen.
Die beiden alten Herrschaften, die wie immer blendend gelaunt waren und sich glücklicherweise bester Gesundheit erfreuten, hatten sich über den Kuchen gefreut, den ich für sie gebacken hatte, und mich gleich liebevoll, aber keinen Widerspruch duldend, genötigt, mit ihnen das Mittagessen einzunehmen. Es hatte eine köstliche Kürbiscremesuppe, Rindsrouladen mit Kartoffelpüree und grünem Salat und ein Tiramisu als Dessert gegeben – ein typisch österreichisches Sonntagsessen eben.
Den sonnigen Nachmittag hatten wir genutzt, um einen längeren Spaziergang zu unternehmen und danach bei Kaffee und Kuchen zuerst über alte Zeiten und dann natürlich über brandaktuelle Neuigkeiten zu plaudern.
Über den Umstand, dass Nele schwanger war, waren sie bereits informiert. Offensichtlich war ich wirklich die Allerletzte, die davon in Kenntnis gesetzt worden war, dass meine Tochter ein Baby erwartete.
Aber meiner Mutter war es gelungen, alle meine Bedenken bezüglich Neles Kompetenz, die Mutterrolle zu übernehmen, zu zerstreuen, indem sie gemeint hatte, früher sei es den Menschen viel schlechter ergangen und trotzdem hätten sie es geschafft, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Und aus den meisten seien einigermaßen anständige Menschen geworden.
„Vielleicht“, hatte sie gesagt, „wächst sie ja an dieser Aufgabe, wird reifer und geht dann auch ihr eigenes Leben verantwortungsbewusster an.“
Die Nachricht, dass Heinz seine Sprechstundenhilfe zu ehelichen gedachte, hatte meine Eltern noch nicht ereilt. Mein Vater hatte sich überhaupt nicht dazu geäußert, sondern war aufgestanden und hatte ostentativ den Raum verlassen (er hatte Heinz nie gemocht), und meine Mutter hatte gemeint, das sehe meinem Ex ähnlich und ich solle mir doch auch endlich wieder jemanden suchen, was ich natürlich vehement abgelehnt hatte.
„Ach, Kindchen“, hatte sie besorgt geäußert (sie sagte doch tatsächlich noch „Kindchen“ zu ihrer 56jährigen Tochter!), „es ist nicht gut, wenn man im Alter allein ist. Du solltest dich wirklich wieder auf dem Markt nach einem Neuen umsehen.“
Aus meinen Erinnerungen an den gestrigen Sonntag wurde ich erst gerissen, als ich bemerkte, dass ich gleich an meinem Ziel war.
Ich stellte meinen Smart auf dem Parkplatz vor der Praxis ab, stieg aus und freute mich, dass der Regen eine kurze Pause eingelegt hatte. Hinter mir bog die Siharsch mit ihrem schwarzen Polo in die Einfahrt. Also sputete ich mich, um in meine Praxisräume zu gelangen, ohne ihr vorher begegnen zu müssen.
Kaum hatte ich meinen Mantel abgelegt, bewegte sich auch schon meine Türschnalle, und die Siharsch steckte, ohne vorher angeklopft zu haben, ihren Kopf in meine heiligen Hallen.
Ihre Lippen waren wie jeden Tag dick mit rotem Lippenstift beschmiert, ihre dunklen Haare wie immer perfekt gestylt. Und ebenfalls wie immer trug sie unter ihrem weißen Kittel, den sie nie zuknöpfte, eine knallenge schwarze Hose, ein schwarzes Shirt und dazu neonfarbene Schuhe; heute waren sie neongelb. Aber sie besaß solche Schuhe in allen nur denkbar möglichen Neonfarben.
„Heinzi hat gesagt, ich soll Ihnen mitteilen …“, fing sie mit gespitztem Mund zu sprechen an.
Aber ich unterbrach sie, indem ich sie so freundlich anlächelte, als wäre sie meine allerbeste Busenfreundin, und flötete: „Ich wünsche Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen, Frau Si‘arsch“, (das H in ihrem Namen ersetzte ich absichtlich durch einen Knacklaut), „und Sie müssen mir gar nichts mitteilen, denn Doktor Geiger hat den Termin für heute Mittag schon eingetragen. Ich weiß also Bescheid.“
Heinz und ich hatten das so abgemacht: Sollte noch ein Patient eine physiotherapeutische Behandlung brauchen, wenn ich die Praxis bereits verlassen hatte, so suchte er auf meinem Terminkalender einen freien Platz und trug den Neuen ein.
Am Freitag zuvor war ich bereits um zehn Uhr mit der letzten Behandlung fertig gewesen und hatte mich auf den Heimweg gemacht, während Heinz seine Ordination immer bis Mittag offen hatte. Irgendwann im Laufe des späteren Vormittages musste er mir einen Herrn Magister Jodok Fürst für heute Mittag eingeschrieben haben.
„Ja, ich wollte nur sicher gehen …“, versuchte sie ihr unerwünschtes Erscheinen zu erklären und blinzelte dabei, als ob sie mit jemandem flirten wollte.
Aber ich unterbrach sie abermals, nun mit einem drohenden Unterton in der Stimme und ohne sie freundlich anzulächeln: „Frau Si’arsch“, (das H in ihrem Namen ersetzte ich wieder absichtlich durch einen Knacklaut), „nun können Sie ja sicher gehen, dass ich im Bilde bin. Und jetzt habe ich zu tun! Also verlassen Sie bitte umgehend meine heiligen Hallen und machen Sie Ihre eigene Arbeit! Sonst werde ich ungemütlich.“
Damit war ihre Mission erfüllt und ich wieder allein. Ich fuhr zuerst meinen Computer hoch und sah dann meine Post durch, die mir Heinz am Freitag offenbar noch auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Danach stand ich auf, schlüpfte in meinen weißen Mantel, knöpfte ihn im Unterschied zur Vorzimmertussi auch zu (!) und stellte nach einem Blick auf den Terminkalender fest, dass an diesem Vormittag acht Behandlungen anstanden. In zehn Minuten würde es losgehen.
Da klopfte jemand an meine Tür.
„Ja, bitte“, sagte ich, und Heinz kam herein.
Er entschuldigte sich umständlich dafür, mir nicht persönlich, sondern am Telefon mitgeteilt zu haben, dass er sich wieder zu vermählen gedachte.
In dem Moment musste ich laut auflachen, weil mir mein Traum, den ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag gehabt hatte, einfiel: Heinz und eine tonnenschwere, halbnackte, amerikanische Prostituierte auf der einen Seite und die Siharsch und der ganzkörpertätowierte Stanscheißer Koarl auf der anderen Seite werden von einem lüsternen Gärtner in New Orleans getraut. Es war ja zu komisch! Ich konnte mich kaum beruhigen!
Etwas irritiert blickte mich mein Ex an und fragte: „Was ist daran so lustig?“
„Ach, nichts“, entgegnete ich, „ich hatte nur einen ziemlich bescheuerten Traum, der mir soeben eingefallen ist.“
„Von der Hochzeit?“ fragte er ungläubig. – Ich nickte.
„Da wäre noch etwas“, fing Heinz ganz zögerlich wieder zu reden an und stieg dabei – wie immer, wenn ihm etwas unangehm war – verlegen von einem Bein aufs andere und kratzte sich am Kopf.
„Ist die Siharsch vielleicht schwanger?“, fragte ich ihn nun ganz direkt.
„Nein, das nicht; also …. also die Tanja ist nicht schwanger“, winkte er ab und fuhr dann fort: „Aber jetzt …. also…. also …. wenn wir heiraten …. also …. dann ist sie ja meine Frau. Und wenn sie meine Frau ist …. also …. also …. dann ist sie offiziell …. also …. dem Gesetz nach…. also …. also…. die Stiefmutter von Maggy, Nele und Sunny. Und da hab ich mir gedacht …. also …. du könntest dir …. also …. vielleicht doch ein wenig Mühe geben, …. also …. also …. mit ihr besser auszukommen, und …. also …. also …. ein klein wenig freundlicher zu ihr sein.“
„So so, unsere Töchter bekommen jetzt eine Stiefmutter. Na, da werden sie sich aber mordsmäßig freuen. Müssen sie dann auch Mutti zu ihr sagen?“, fragte ich ihn mit einem ziemlich sarkastischen Unterton in meiner Stimme, und weil ich so schön in Fahrt war, machte ich gleich munter weiter:
„Merkst du eigentlich gar nicht, wie du dich vor mir und vor aller Welt zum Affen machst, wenn du diese renommégeile Tussi heiratest? Glaubst du ernsthaft, dass sie dich so liebt, wie sie tut, wenn sie >Heinzi hin< und >Heinzi her< sagt? Die Frau ist doch nur hinter deiner Kohle und deinem Ansehen her! Bist du dir eigentlich bewusst, dass sie deine Tochter sein könnte? Sie ist gerade einmal drei Jahre älter als Nele.“
„Als Maggy“, besserte Heinz mich aus. Sonst sagte er nichts mehr. Er schaute mich nur mit traurigen Dackelaugen an.
Also forschte ich noch weiter: „Übrigens: Weißt du eigentlich, dass deine Tochter schwanger ist? Du wirst Großvater.“
Heinz nickte betreten, weil er mich gut genug kannte, um zu wissen, wie sehr es mich verletzte, dass er diese Neuigkeit vor mir erfahren hatte: „Ja, Nele war am Donnerstag bei mir zum Abendessen und hat es mir erzählt.“
Das saß tatsächlich! Ich schluckte meinen Groll hinunter und verkniff mir eine weitere sarkastische Bemerkung diesbezüglich und vor allem auch die Frage, ob es denn die Siharsch auch schon wisse. Dann wollte ich mich noch erkundigen, warum er am Telefon gesagt hatte, er müsse die Siharsch heiraten, kam aber nicht mehr dazu, weil mein erster Patient anklopfte.
Wenn viel zu tun ist, vergeht die Zeit für mich immer besonders rasch, und deshalb hatte ich das Gefühl, soeben erst gekommen zu sein, als um halb zwölf Uhr mein letzter Patient, Herr Magister Jodok Fürst, in meine Praxis kam – oder besser gesagt, rollte. Herr Fürst war nämlich ziemlich dick, sodass ich ihn – natürlich nur in meinen Gedanken – Rollmops nannte.
Der Rollmops rollte also wie ein bunter Ball herein, ließ sich unaufgefordert in einen Sessel plumpsen und grinste dabei über das ganze Gesicht. Seine kühne Aufmachung amüsierte mich: Er trug eine gelb-blau karierte Hose, ein gelbes Poloshirt und ein rotes Schirmkapperl mit der Aufschrift „Muttis Liebling“.
„Jodok Fürst ist mein Name“, stellte sich der Rollmops vor, der ungefähr in meinem Alter sein musste – so schätzte ich ihn zumindest ein. Nach genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass er eigentlich gar keine unattraktiven Gesichtszüge hatte, er sah sogar recht interessant aus. Bloß seine Figur ließ zu wünschen übrig.
„Ihr Mann hat gemeint, Sie könnten mir helfen, liebe Frau Doktor. Ich bin nämlich so verspannt im Nacken“, begann er, mir den Grund für sein Kommen zu erklären.
„Erstens bin ich keine Frau Doktor“, konterte ich, „und zweitens ist Doktor Geiger nicht mein Mann, wir sind nämlich geschieden.“
„Gut, das ist wirklich gut, dann kann ich mir ja Hoffnungen machen, Sie noch etwas näher kennenzulernen, schöne Frau“, fuhr der Rollmops mit einem schelmischen Grinsen fort.
Und dann witzelte er weiter: „Sie müssen wissen, in fünf Wochen soll ich die Oberaufsicht über den Turmbau zu Babel übernehmen. Bis dahin sollte ich fit wie ein Turnschuh sein. Und aus diesem wirklich wichtigen Grund müssen Sie mir unbedingt helfen.“
Seinen plumpen Annäherungsversuch überhörte ich. Stattdessen sagte ich: „Wenn Sie einen verspannten Nacken haben und fit wie ein Turnschuh werden wollen, brauchen Sie nicht unbedingt eine Behandlung von mir. Es würde schon reichen, wenn Sie regelmäßig Nordic Walking betreiben.“
„Das tue ich ja schon, das tue ich ja schon“, erklärte mir der Rollmops, „Sie müssen wissen, ich möchte nämlich abnehmen. Ich bin ja nicht immer so dick gewesen und möchte mein früheres Gewicht wieder erreichen, deshalb wackle ich, ähm, ich meine, walke ich auch fleißig.“
Er räusperte sich. „Was meinen verspannten Nacken betrifft, hat Ihr Mann, also besser gesagt Ihr Exmann gemeint, da gebe es therapiemäßig sicher noch etwas.“
Ich gab mich geschlagen. „Na gut, dann probieren wir es einmal mit einer Elektrotherapie. Wir fangen heute mit zehn Minuten an. Dann kommen Sie noch fünf Mal im Abstand von jeweils einer Woche zu mir und wir steigern die Zeit. Die Zeitspanne zwischen den Therapieeinheiten nützen Sie brav zum Walken. Und nach sechs Wochen schauen wir, ob es Ihrem Nacken besser geht und Sie die Verantwortung beim Turmbau von Babel übernehmen können“, erklärte ich ihm augenzwinkernd und forderte ihn auf, sein Poloshirt auszuziehen, um mit der Behandlung beginnen zu können.
Während er sich seiner Kleidung entledigte, erklärte er mir:
„Normalerweise gehe ich nur sehr seriös angezogen aus dem Haus, müssen Sie wissen. Aber montags treffe ich mich immer mit meinen allerbesten Freunden Max und Herbert. Und die beiden sind etwas schräge Vögel. Unsere Treffen finden stets unter dem Motto „Wer nicht wagt, gewinnt nicht“ statt. Das Motto betrifft unser Outfit, das heißt, wer am ausgefallensten angezogen ist, gewinnt, müssen Sie wissen. Natürlich habe ich nie eine Chance gegen die beiden, aber Sie müssen zugeben, ich gebe mir alle Mühe.“
Bestätigung heischend hielt er mir als Beweis sein Schildkapperl mit der Aufschrift „Muttis Liebling“ entgegen. – Ich nickte.
Und während ich ihn danach mit Stromschlägen bearbeitete, erzählte er mir zuerst drei Witze und erläuterte mir dann auf äußerst amüsante Weise seinen Diätplan, mit dem er schon fünf Kilo abgenommen hatte; selbst der Umstand, dass es eine kohlehydratfreie Diät war, wo er doch so gerne Nudeln in allen Variationen in sich hinein schaufelte, konnte seinem Humor nichts anhaben.
Im Anschluss daran berichtete er mir von seinen zwei allerbesten Freunden Max und Herbert, mit denen er sich zuvor getroffen hatte, die schwul waren und im Sommer heiraten wollten.
„Also eigentlich müsste man ja sagen, die beiden verpartnern sich“, erklärte er mir, „aber im Prinzip ist das ja ohnehin nichts anderes als eine Heirat.“
Nachdem er seine Freunde in den schillerndsten Farben beschrieben hatte, begann er über die Art und Weise zu berichten, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienten:
„Die beiden stellen Wachsfiguren her und machen damit ganz schön viel Kohle. Natürlich machen sie das nicht so professionell wie Madame Tussauds, das heißt, sie formen keine berühmten Persönlichkeiten. Aber ich schwöre Ihnen, sie machen Ihnen Wachsfigurendoubles von allem, was Ihr Herz begehrt. Sie haben ja gar keine Ahnung, wie viele Menschen sich so etwas ernsthaft anfertigen lassen. Sie lassen sich Wachsfiguren ihrer Liebsten machen, ihrer Kinder, ihrer Enkelkinder, ihrer Schoßhündchen, ihrer Kanarienvögel und weiß Gott wovon noch alles. Und die setzen sie dann zuhause auf irgendeinen Stuhl oder sonstwo hin oder stellen sie in irgendeine Ecke und freuen sich, wenn sie ihre Besucher damit erschrecken oder erheitern können. Man kann sie nämlich stehend oder sitzend anfertigen lassen, ganz wie man möchte.“
„Ach!“, sagte ich, um auch etwas zu diesem monologischen Gespräch beizutragen.
„Natürlich kann man so eine Wachsfigur nicht überall hinsetzen. In einem Wintergarten überleben die nicht lange, wenn ein richtig heißer Tag ist. Da gibt es dann nur noch viel Wachs und keine Figuren mehr. Aber in normal temperierten Räumen überleben sie ganz gut;“ fuhr er fort, „mir haben sie auch schon zwei Wachsfiguren gemacht. Ich habe sie zum Geburtstag von ihnen bekommen, weil sie wissen, dass ich kein Geld dafür ausgeben würde: Eine Figur ist ein Ebenbild meiner eigenen stattlichen Persönlichkeit und die andere sieht meinem Sohn zum Verwechseln ähnlich. Es ist schon vorgekommen, dass ich mich mit der Figur unterhalten wollte. Erst als ich keine Antwort bekam, bemerkte ich, dass ich nicht mit meinem Sohn, sondern mit seinem Ebenbild sprach.“
„Oh!“, sagte ich nun, um meinen originellen Einwurf von vorher noch zu übertrumpfen.
„Die zwei Wachsfiguren stelle ich in meinem Haus stets irgendwo an ein Nordfenster, wenn ich verreise. Das ist wirklich praktisch, denn das sieht dann so aus, als wäre immer jemand zuhause. So etwas schreckt Einbrecher ab, habe ich mir sagen lassen. Allerdings getraue ich mich nicht, sie an ein Südfenster zu stellen. Dort würden sie wahrscheinlich viel schneller abnehmen, als ich das gerne täte, und dann wäre ich womöglich neidisch“, ergänzte er.
Am Schluss outete er sich noch als ebenfalls Geschiedener. Den Grund für seine Scheidung erzählte er mir nicht mehr, denn die zehn Minuten waren um und ich war mit der Behandlung fertig.
Nachdem er sein Shirt wieder übergestreift und sein Kapperl mit der Aufschrift „Muttis Liebling“ aufgesetzt hatte, verabschiedete er sich: „Es war wirklich schön, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn ich gewusst hätte, dass Therapeutinnen so charmant sind, hätte ich mich schon viel früher um die Oberaufsicht beim Turmbau zu Babel beworben und mich davor von Ihnen behandeln lassen, um die nötige Fitness zu erlangen. Naja, vielleicht darf ich Sie ja mal auf einen Kaffee einladen.“
Ich wollte schon sagen: „Tut mir leid, aber Rollmöpse passen eigentlich nicht in mein Beuteschema“, ließ es aber im letzten Moment noch bleiben. Vielleicht war er ja ein Sensibelchen und überspielte diese Tatsache durch sein ständiges Witzeln. Deshalb meinte ich bloß: „Wir sehen uns nächsten Montag in meiner Praxis. Und vergessen Sie nicht aufs Walken!“
„Was der wohl für einen Beruf hat?“, überlegte ich, als ich die Praxisräume schloss und zu meinem Smart ging. Er hatte einen Magistertitel, konnte also mit Sicherheit kein Baumeister sein, auch wenn er so gerne für den Turmbau zu Babel verantwortlich wäre. Baumeister waren doch Ingenieure. Und warum er wohl geschieden war? Humor hatte er ja, das musste man ihm lassen. Na, vielleicht würde ich am nächsten Montag mehr von diesem Sonderling und seinen noch viel seltsameren Freunden erfahren.
Als ich mir das Wachsfigurenkabinett der schwulen Freunde Max und Herbert vorstellte, vollgestopft mit stehenden und sitzenden Figuren und allerlei wächsernen Viecherln vom Schoßhündchen bis zum Kanarienvogel, musste ich unwillkürlich grinsen.
Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass es inzwischen nicht mehr regnete, sondern sogar die Sonne durch die dunklen Wolken blinzelte. Ich setzte mich ins Auto und wollte gerade starten, als mein Mobiltelefon klingelte. Auf dem Display erkannte ich, weil meine Lesebrille noch auf meiner Nase saß, dass es Nele war, die mich anrief.
„Hallo, Nele, mein Schatz“, meldete ich mich, „ich bin schon fertig mit der Arbeit und praktisch auf dem Weg zu dir. Ich möchte vorher nur noch eine Kleinigkeit einkaufen.“
„Hallo, Mamilein“, sagte Nele, „ich muss dir leider für heute absagen. Ich habe die Schicht im Studio wechseln müssen und bin bereits auf dem Weg dorthin.“
„Na, dann komme ich eben morgen Vormittag zu dir. Am Dienstag bin ich immer erst am Nachmittag in der Praxis“, schlug ich vor.
„Mir geht es morgen auch nicht aus. Ich habe frühestens am kommenden Freitag Zeit. Wann bist du denn an diesem Tag mit deiner Arbeit fertig?“ fragte meine Tochter.
Freitags hatte ich meistens nicht besonders viel zu tun. Weiß der Kuckuck, warum die Leute kurz vor dem Wochenende keine Termine mit mir machen wollten. Weil ich, bevor ich die Praxis verlassen hatte, meinen Wochenplan durchgesehen hatte, wusste ich, dass mein letzter Patient um halb zehn kommen würde. Deshalb sagte ich:
„Wenn nichts dazwischen kommt, könnte ich um elf Uhr, vielleicht auch schon etwas früher bei dir sein.“
„Das passt wunderbar“, meinte Nele, „ich freue mich auf dich. Und ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“
„Gut, dann bis Freitag! Tschüss, mein Schatz“, sagte ich, drückte Cornelia weg und beschloss, die gewonnene Zeit zu nützen, indem ich wieder einmal joggen ging. Vielleicht hatte ja Silvia oder Anna Zeit, um mich zu begleiten.