Читать книгу Casmilda's Gewinn durch Verlust - Gery Wolfsjäger - Страница 4
Kapitel 1 Lebhafte Mitt-Zwanziger… und ihre Freizeit
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Casmilda las sich die Sms durch, die sie am Vortag im betrunkenen Zustand an Marco gesandt hatte.
„Ich weiß nicht, welcher es dieses Mal war!“, meinte ihre Freundin Cornelia, die sich dabei ein gewisses Grinsen, bei dem ihre Mundwinkel beinahe über die Ohren lappten, nicht verkneifen konnte.
Sie saßen bei Junk-Food-Mood - einem namhaften Fast Food-Restaurant - in der Mariahilferstraße, im sechsten Bezirk in Wien.
Aus dem Radio ertönten verträumte Songs über die Liebe. Die weichen Sonnenstrahlen glitten durch die Fensterscheiben des Lokals und spielten mit Connys Haar. Vor einer Woche hatte Casmilda ihrer Freundin und Kollegin ihre langen Naturlocken gefärbt, schokoladenbraun mit goldblonden Strähnen.
Die letzte Nacht hatten sie im Dance for Chance verbracht, einer bekannten Wiener Diskothek. Konsequent hatten sie die Männer ignoriert, die ihnen ständig Drogen angeboten hatten, oder sie auf ein Getränk einladen wollten. Zwar waren diese ziemlich attraktiv, aber was konnten sie sich schon von ihren zugedröhnten, betrunkenen Zuständen erwarten? Der erste Eindruck zählte bekanntlicherweise, obwohl man Vorurteile außer Acht lassen sollte, andererseits war eine gewisse Skepsis mit Intuition zu vergleichen. Beide Dinge ähnelten einander, wobei sie vor Dummheiten schützen sollten. Und doch, Vorurteile sendeten ihre Botschaften vom Gehirn aus, Intuition lag im Herzen oder im Bauchgefühl. Vorurteile hatten außerdem einen billigen Beigeschmack: aus Angst oder Ungeduld, jemandem eine Chance zu geben, wurde er in eine Schublade gesteckt, ohne ihn vorher ausreichend kennenzulernen. Viele männlichen Wesen ließen sich außerdem heutzutage von der allseits verbreiteten modernen Emanzipation der Frau einschüchtern, die sich unter anderem in einem gewissen Selbstvertrauen ausdrückte. Somit sollte jede Frau in gewisser Weise nachsichtig sein. Die Männer, die Casmilda und Conny jedoch Drogen angeboten hatten, wirkten bei Weitem nicht schüchtern, trotz des weiblichen Selbstvertrauens, das Conny und Casmy ausstrahlten, doch hinter ihrer rauhen Fassade verbarg sich möglicherweise ein weicher Kern.
Ach, wie dumm nur, dass das Leben nicht so ablief wie in Kitschromanen!, dachten Casmy und Conny beinahe gleichzeitig, während sie ihre Burger aßen. In diesen romantischen Geschichten schaffte es die Protagonistin immer wieder, einen hart gesottenen Mann in einen kuschelbedürftigen Liebhaber zu verwandeln. Wie glücklich wären sie in so einer Welt der Harmonie! Von Zufriedenheit und innerem Standbein wollten die jungen Frauen in ihren dahinschwelgenden Gedanken nichts wissen, denn darüber berichten Kitschromane nicht. Sie wollten lieber hoch oben in den Wolken fliegen, vielleicht sogar auf Nummer sieben, anstatt sich den Boden der Tatsachen anzusehen. Daher genehmigten sich Casmilda und Cornelia zwischendurch liebend gerne die Welt des Kitsches, da sie die Ausflucht des Alltages in die Illusion sehr genossen.
In Maßen konnte ihrer Meinung nach ein wenig Illusion sogar die Realität beflügeln oder erträglicher machen.
Das Maß ließ sich jedoch sehr leicht überspannen. Auch Glücksgefühle führten zur Sucht – man könnte diese Abhängigkeit sogar gewissermaßen als Bestandteil der klassischen Depression beschreiben, denn ein Zuviel des Glücks würde andererseits den Realitätssinn verschleiern. Früher oder später würde den Beiden langweilig werden, oder ihre übertriebene Euphorie sie letztendlich in eine Psychiatrie führen. Dort hätten sie endlich wieder einen Grund, unglücklich zu sein, es gäbe ihnen paradoxerweise den passenden Ausgleich zu ihrem seligen Lebenskick.
Casmilda empfand ein enormes Glücksgefühl, als sie lächelnd auf ihr Handy blickte. Den inneren „Teufel“, den sie für die Nachricht verantwortlich machte, benannte sie in einen einfühlsamen Gefühlsmenschen um. Obwohl Marco ihr nicht geantwortet hatte, breitete sich in ihrer Brust ein Gefühl der Hoffnung und Glückseligkeit aus, und sie strahlte mit einem verträumten Blick versonnen in die Ferne.
„Willst du wirklich mehr von ihm als seine flüchtige Bekanntschaft?“, fragte Conny, die Casmildas Sms als übertrieben emotional deutete.
„Oh“. Casmilda fühlte sich beim Tagträumen ertappt, klimperte mit ihren langen Wimpern und öffnete den Mund in einer starren, lächelnden Haltung, ehe sie zu sprechen begann.
„Nun“, sagte sie in einem zärtlichen Flüsterton , „was bedeutet mehr? Ich möchte ihn jedenfalls kennenlernen.“
Die Sms bestand aus klaren Worten: „Hallo Marco, bist du wirklich so stark wie die Anmut deiner Muskeln es verspricht, so sanft wie dein charmantes Lächeln, deine einfühlsamen Worte? So zeige es mir. Deine Casmilda.“
Casmy wusste selbst, dass ihr Hang zur Romantik bei diesen Worten mit ihr durchgegangen war, doch der Alkohol hatte ihre Hemmschwelle am gestrigen Abend vollkommen hinweggeschwemmt. Zum ersten Mal hatten sie Tequila und Co dazu gebracht, ihre Gefühle auf romantische und doch diplomatische Art und Weise zu vermitteln.
Der März dieses Jahres beschreib ein ziemlich verwirrendes Wetterspiel aus entsetzlicher Wärme und Kälte. Casmy und Conny liebten Sonne, deshalb gaben sie sich mit diesen halben Sachen von warmem Klima kaum zufrieden. Doch immerhin hatten sie einen Ausflug in sonnige Gefilde geplant. Dort wollten sie sich den heißen Temperaturen ebenso hingeben wie den attraktiven Männern, die sie dort erwarteten, sowie möglicherweise einer kleinen Phase des abschließenden Liebeskummers, wenn das Feuer der Urlaubsaffäre erloschen war.
Sie wussten wie schön der Sommer in Wien sein konnte, wie leidenschaftlich die durchtrainierten Männer ihre Muskeln auf der Donauinsel zum Ausdruck brachten, aber die Neugierde des Unbekannten hatte sie wieder einmal erfasst, wie die Neugierde auf ein Paket, das es auszupacken galt.
Casmilda spielte mit ihren schulterlangen, aubergine getönten Haaren, um ihrem unbewussten Wunsch nach Geborgenheit eines Mannes Ausdruck zu verleihen. Sie liebte es, wenn Männer ihre glänzende Mähne streichelten.
„Meinst du, Marco würde mit uns nach Mallorca fliegen?“ fragte Casmilda.
„Wie wär’s wenn du ihn einfach fragst, Dummerchen? Du bist doch sonst nicht so schüchtern!“, erwiderte Cornelia, und zwinkerte ihrer Freundin vergnügt zu.
Diese zuckte mit den Schultern.
„Es sind nur noch zwei Monate bis zu unserem Urlaubsantritt“, meinte Casmy. „Ich sollte ihn wohl bald fragen, nicht wahr?“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Ja, aber andererseits haben wir ihn erst kürzlich kennengelernt, meine Liebe. Du und ich hingegen teilen seit Anbeginn unserer Lehrzeit diverse Launen und Tagesverfassungen miteinander, zehn lange Jahre. Himmel, wie die Zeit vergeht!“, seufzte Conny, um anschließend nachdenklich die Stirn zu runzeln.
„Ich habe eine Idee, wir vergessen dieses spanische Last – Minute – Angebot und bleiben hier, um sein Wesen genauer unter die Lupe zu nehmen, was natürlich in erster Linie deinem Interesse naheliegt!“
Casmilda blinzelte überrascht. Seit einigen Monaten beschäftigten sie sich mit der Diskussion, wo sie ihren Sonnengebeten am besten nachgehen könnten. Cornelia ignorierte die Verblüffung ihrer Freundin und lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück, um ihrem Gedanken eine freudige Entspannung zu verleihen. Sie wechselte die Stellung ihrer Beine, die sie übereinandergeschlagen hatte.
„Das ist typisch für dich Conny, kein Wunder, dass deine Bindungen erlischen, kurz nachdem sie entflammt sind, du machst dich von Männern abhängig! Soll Marco doch hier bleiben, wir machen uns alleine unseren Spaß, auf Mallorca gibt es bestimmt viele attraktive Touristen!“
Nun war es Cornelia, die einen verdatterten Blick aufsetzte und sich die Hände in die Hüften stützte.
„Meine Liebe, kann es sein, dass du plötzlich Angst davor hast, dich Marco zu nähern? Vorhin hast du noch in den höchsten Tönen von ihm geschwärmt, und jetzt redest du plötzlich von irgendwelchen Touristen!“, spöttelte Conny in gespielt dramatischem Ton.
„Vergiss nicht,“, seufzte Casmy, „wir arbeiten im selben Salon. Also ist es wohl das Beste, wenn ich mir die Sache mit ihm aus dem Kopf schlage – und aus dem Herzen. Außerdem hat er seinen Urlaub vielleicht bereits geplant, und verbringt ihn außerhalb Wiens.“ Conny fühlte mit ihr und strich ihr kurz über den Kopf.
„Du hast recht. Lass' lieber die Finger von ihm. Tut mir leid für dich, aber du weißt ja: Privates und Geschäftliches zu trennen ist die Basis für eine gute Teamarbeit!“
Casmilda konnte Cornelia nicht widersprechen. Dennoch schwärmte sie für Marco, und sie wusste über die Schwäche ihres Verstandes gegenüber diesem Gefühl Bescheid.
Wenige Augenblicke später unterhielten sie sich zur Abwechslung über ein bodenständiges, realistisches Thema: die Finanzierung des Hotels und des Flugs .Das Endergebnis des Debakels hinderte sie daran, nach Mallorca zu reisen. Sie entschieden sich für einen Aufenthalt in Wien, weil ihre Ersparnisse kein anderes Urlaubsziel zuließen. Zwar rentierte sich der Luxus des Quartiers und auch der Flug um Haaresbreite, aber letztendlich müssten sie auf den Eintritt in die diversen Discotheken, die der Ballermann 6 hergab, verzichten, da diese Kosten ihr Budget überstiegen, ganz zu schweigen von den Getränkepreisen. Sie verabschiedeten sich also gedanklich von ihrem Sommertrip ins Ausland und beschlossen, sich davon nicht die Vorfreude auf die hitzige Jahreszeit verderben zu lassen.
Das Haarstudio Die fliegende Schere hatte im Mai 3 Wochen lang geschlossen, somit blieb genügend Zeit, einmal so richtig ausspannen zu können. Conny nippte an ihrem Cherry-Shake. Sie dachte kurz über Marco nach, den auch sie sehr attraktiv fand. Aber mehr war da nicht. Mehr durfte da nicht sein. Weder Conny noch Casmy konnten sich Gefühle, sexuelle Erlebnisse oder zu viel Freizeit mit Marco erlauben, es würde dem Geschäftsleben nichts Gutes abgewinnen. Außerdem definierte ein Ehrenkodex in ihrer Freundschaft, sich nur objektiv in die aktuelle oder bereits beendete Liebesbeziehung ihres Gegenübers einzumischen, ganz gleich, welcher Intensität diese entsprang, somit waren Flirt – oder Annäherungsversuche jeglicher Natur für die jeweilige beste Freundin tabu.
Die drei Stylisten wohnten in einem Jugendwohnhaus im 12. Bezirk, Meidling. Die U4 – Station „Meidling Hauptstraße“ befand sich in der Nähe jenes Gebäudes. Das Haarstudio war ebenfalls öffentlich mit der U4 gut zu erreichen, vom Schwedenplatz entfernt waren es nur ein paar Schritte in Richtung Rotenturmstraße, sowie zur Vorlaufstraße Nr. 19.
Im Jugendwohnhaus lebten Menschen verschiedenster Herkunft. Marco war gebürtiger Italiener und von Linz nach Wien gezogen, Casmy kam aus Wilhelmsburg im Bezirk St. Pölten Land, und Cornelia stammte aus dem weinreichen Burgenland. Rein zufällig ergab es sich, dass sie alle im selben Wohnheim untergebracht waren, sowie im selben Geschäft arbeiteten. Conny und Casmy wohnten bereits seit Anbeginn ihrer Lehrzeit in Wien. Marco war erst vor 5 Wochen eingezogen.
Es war nur Bewohnern außerhalb Wiens sowie einreisenden Ausländern die Erlaubnis vorbehalten, in diversen Jugend – und Studentenwohnheimen zu leben. An und für sich gab es auch eine Vorschrift, die die Altersgrenze für das Beziehen einer Wohnung konkret festlegte, aber die Bewohner hätten teilweise rein theoretisch die Väter oder Mütter der jüngeren Insassen sein können. Die Verwaltung jedoch blickte über diesen kleinen Regelverstoß hinweg.
Casmy und Conny nutzten diese älteren Menschen als abschreckendes Beispiel. Die Aussicht, noch in gehobenem Alter in einer Stätte zu wohnen, die für Studenten und Lehrlinge oder junge Leute mit geringem Einkommen vorgesehen war, sollte ihnen kein Vorbild sein.
Im gesamten Jugendwohnhaus gab es diverse Freizeiteinrichtungen wie beispielsweise einen Fitness, – Musik – und Partyraum, einen Tischtennistisch, den Squash – Bereich, Internetzugang sowie einen Tennisplatz. Nicht zu vergessen waren natürlich die Getränke – und Snack-Automaten, die Bibliothek und die gemütlichen Couchen und Sitzecken.
Die Zeiger der Uhr im Restaurant zeigten 18:30.Sie nahmen die letzten Bissen ihrer Happy – Schmecky – Burger zu sich, kauften für unterwegs noch eine Sweetmouse – Kirschschnitte , und verließen das Fastfood– Restaurant. Junk – Food – Mood hatte seine Eröffnung vor einem Jahr gefeiert, die Menüs waren an jenem Tag dementsprechend günstig gewesen. Auch danach bewegten sich die Preise in einem durchaus toleranten Rahmen, allerdings enthielt der Speiseplan nicht unbedingt Nahrungsmittel, die sich mit diversen Schlankheitskuren gut vereinbaren ließen. Die Zeitungen berichteten mehr oder minder theatralisch über wilde, klatschsüchtige Skandale: „Happy – Schmecky – Burger lassen Sie bei regelmäßigem Konsum nach drei Monaten aussehen wie ein Walross, da ein Stück so viele Kalorien enthält wie drei gebackene Schweineschnitzel“, oder „Die Desserts bei Junk – Food – Mood sind mit Stoffen angereichert, mit denen Sie möglicherweise Fenster putzen könnten!“ Die Ernährungswissenschaftler im Fernsehen neigten ebenfalls gerne zu ähnlichen Übertreibungen, aber Casmy und Cornelia wussten, warum sie in letzter Zeit ständig den Fitnessraum im Jugendwohnhaus aufsuchten, insofern sie ihren inneren Schweinehund dazu überwinden konnten.
Die jungen Frauen gähnten, als sie den Gehsteig der Mariahilferstraße betraten, da die Nacht im Dance for Chance ihre Nachwirkungen zeigte. Zwei geschlagene Stunden waren sie nun in diesem muffigen Schuppen gesessen. Beim Betreten des Restaurants hatten sie die Burger, Süßigkeiten oder Milchshakes als äußerst delikat empfunden, doch beizeiten begann ihr abgespanntes Gehirn zu begreifen, wie die Gerüche gesunden Essens sich im Vergleich anfühlten.
Connys Handy klingelte, als sie auf dem Gehsteig standen.
„Was? Das wirst du noch bereuen! Du wirst nie eine Frau kennenlernen, die dein Wesen über längere Zeit toleriert, das schwöre ich dir!“
Mit hastigen Bewegungen drückte sie auf den roten Knopf und warf ihr Mobiltelefon in die Handtasche. „Was hast du?“ fragte Casmilda entsetzt. Besorgt blickte sie in das traurige Gesicht ihrer Freundin, dessen Augen sich langsam mit Tränen füllten. Sie tätschelte sanft ihren Arm.
„Er will unsere Beziehung aufgeben!“, entfuhr es Conny lauter, als sie beabsichtigt hatte.
„Wer?“
„Drei Mal darfst du raten!“
„Äh, Jakob?“
„Nein, diese Liaison ist seit sieben Wochen passé, es geht um Daniel! “
„Oh, entschuldige, da habe ich mich wohl vertan, du wechselst ja auch die Männer wie die …..“
„Ruhe!“
„Ich bin ja schon still. Tut mir leid, das war nicht sehr einfühlsam von mir. Ach ja, zurück zu Daniel: so ein gemeiner Typ. Und warum will er sich von dir trennen?“ Casmy fragte sich, inwiefern sie diesem übertrieben Drama ihre Ernsthaftigkeit beisteuern konnte.
„Er meinte nur, seine Intuition rate ihm zu dieser Handlung. Doch wieso quält er mich drei Wochen lang mit seinem romantischem Getue, um mich schließlich derart kalt abzuservieren?“
Casmilda tippte sich nachdenklich mit dem Finger an die Stirn Ihr kam ein Gedanke.
„Entweder hat er sich emotional noch nicht von seiner Ex-Freundin gelöst, eine ganz andere Person hinter deinem Rücken kennen gelernt, oder er ist schwul.“ Letzteres sollte ein Witz sein, um Conny aufzuheitern. Aber der Versuch war vergebens. Conny verzog keine Miene. Casmilda seufzte und hob erneut an zu sprechen.
„Wer weiß, vielleicht ist er oberflächlich und wollte nur eine rein sexuelle Beziehung mit dir führen, ohne Regeln von Treue oder Rechenschaft. Das würde dann wohl allerdings auch bedeuten, dass du nicht den Typ Frau repräsentierst, den er auf sexueller Ebene attraktiv findet!“
„Aufbauende Worte, danke!“ Conny verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
„Tut mir leid, wenn ich noch folgendes Ass im Ärmel habe, aber andererseits solltest du dir Gedanken darüber machen, welchen Beitrag du selbst leistest, der die Männer in die Flucht schlägt. Schließlich sagst ausgerechnet du zu Daniel, er sei ein Typ, dessen Eigenschaften schwierig zu tolerieren seien. Damit hättest du dich gut und gerne selbst meinen können.“
„Lass’ mich jetzt kurz in Ruhe, bitte!“ Conny hatte ihr scheinbar kaum zugehört und schwelgte mit ihren Gedanken in einer Opferhaltung.
Die zwischenmenschliche Liebe ist die komplexeste Erfindung der Menschheit, die es gibt, schoss es der frustrierten jungen Dame durch den Kopf. Sie glaubte, fähig zu sein, eine Beziehung zu führen, und den Partner sowie sie selbst glücklich machen zu können, wirkte aber auf Männer durch ihr überempfindliches, launisches Wesen ziemlich unreif, trotz der 25 Jahre, die ihr Alter beschrieben. Casmy war zwei Monate älter als Conny.
Casmilda fragte sich ernsthaft, was Cornelia bedrückte. Es fiel ihr schwer, diese Situation wirklich akzeptieren zu können. Conny hatte Daniel doch nur drei Wochen gekannt, und nun verhielt sie sich, als sei ihr Herz gebrochen. Konnte Liebe auf den ersten Blick sie tatsächlich so sehr verletzen, wenn sie nicht erwidert wurde? Sie fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn Marco ihr eine Abfuhr erteilen würde, auch, wenn sie nicht in ihn verliebt war, sondern nur für ihn schwärmte. Ihr Herz machte dabei einen traurigen Satz und sie verdrängte den Gedanken sofort wieder. „Diese Sache ist sowieso hinfällig“, meldete sich ihr innerer Kritiker zu Wort. Ihr Herz jedoch war ganz anderer Ansicht.
Casmilda hatte ihren Arm um Connys Taille gelegt. Conny schwieg und weinte still. Ihr Kopf lag auf der Schulter ihrer Freundin. So schritten sie Arm in Arm die Straße entlang, bis sie sich schließlich auf einer Bank niederließen. Es gab viele Momente, in denen Casmilda Cornelia nicht verstand, aber sie war für sie da, wann auch immer sie ihre Hilfe brauchte. Sie setzten sich auf eine Parkbank. Auch Situationen, in denen Cornelia in solchen Momenten der Traurigkeit frustriert und lautstark ihren Kummer zum Besten gab, mitten auf der Straße oder auch in einem Café, nahm Casmilda einfach hin - diese Szenen waren ihr schon lange nicht mehr peinlich. Auch in einer Freundschaft konnte ein verinnerlichtes Gewohnheitstier Wunder bewirken.
Conny zeigte ihre Launen auch gut und gerne am Arbeitsplatz. Ungeduldig verdrehte sie des Öfteren entnervt an einem Dienstagmorgen die Augen– montags hatte Die fliegende Schere geschlossen - , weil sie sich darüber ärgerte, dass jemand ihre rosa Schnitt-Fit – Schere verlegt hatte, bis ihr die Erleuchtung kam, jene aufgrund von Schwarzarbeit am Wochenende noch in ihrer Handtasche liegen gelassen zu haben .Diese Kleinigkeit beschrieb nur ansatzweise ihre überempfindliche, tollpatschige Natur. Eines Tages, als sie einem attraktiven Mann hinterherstarrte, weil er ihres Erachtens nach einen tollen Hintern besaß, lief sie wenige Augenblicke später gegen ein riesiges, kaum übersehbares Stoppschild. Ein prägnantes, ironisches Massaker krönte schließlich ihre Tollpatschigkeit. Sie stieß ein frustriertes „Scheiße!“ aus und stand 2 Sekunden später in einem Hundehaufen.
Bei jeder dieser Pannen war Casmy dabei gewesen, die derartigen Situationen einen Heidenspaß abgewann. Sogar die überempfindliche Conny schaffte es mittlerweile, ihre Lachmuskeln bei jenen Erinnerungen anzuspannen.
Cornelia wurde bewusst, dass sie ihr Make – Up in Ordnung bringen musste, da ihre Tränen ihr mühevoll errichtetes Werk zunichte machten.
„Geht es dir jetzt ein wenig besser?“, fragte Casmilda, während sie ihre Hand hielt.
„Nein, um ehrlich zu sein, nicht. Du hast Recht, ich sollte mich nicht grämen, wir haben uns nur drei Wochen lang gekannt. Ich bringe mich ständig in derartige Situationen, wie du ebenfalls richtig erkannt hast, und dieses innere Zugeständnis tut mir weh. Wie kann ich mit mir selbst ins Reine kommen?“
Casmilda hatte eine glänzende Antwort parat, doch sie wurde unterbrochen. Ihr blieb der Mund offen stehen, und die langen Wimpern schienen gen Himmel zu wachsen, zumindest fühlte es sich so an.
Da, einen Meter von ihr entfernt, ging er schnellen Schrittes seinen Weg, wohin auch immer. Marco.
„Hey Marco, hallo, bleib' doch mal stehen!“, rief sie ihm von weitem zu. Sie fühlte eine tiefe Euphorie in ihr aufsteigen, und ihr Herz begann zu pochen, als er sich langsam zu ihr umdrehte. Er lächelte, als er sie erkannte, und Casmilda stieg die Röte ins Gesicht, da sie sein attraktiver Anblick aus der Fassung brachte. Er machte auf dem Absatz kehrt und bewegte sich auf die beiden Frauen zu. Der hübsche Italiener trug ein weißes, ärmelfreies Shirt, eine kurze schwarze Hose, und sein Haar hatte er mit Wet-Gel einen Stand verliehen, der ihn ein wenig größer wirken ließ, da er mit 1,75cm nicht unbedingt eine stattliche Körpergröße aufwies. Hingegen unterstrichen seine dunkelbraune Haut und die charismatischen Augen die Attraktivität seiner Ausstrahlung, die von seinen stark hervortretenden Muskeln an Brust, Armen und Beinen vollendet wurde. Casmy erschienen seine Bewegungen wie ewige Kilometer, da in diesem Moment ihre Sehnsucht nach seiner strotzenden, beschützenden Kraft eine eigene Persönlichkeit anzunehmen schien. Darüber hinaus liebte sie es, ihm zuzusehen, wie er seinen tollen, braungebrannten Körper in der Sonne wiegte.
„Hallo ihr Beiden“, begrüßte er Casmilda und Conny mit einem Handschlag. „Ich habe euch leider nicht gesehen.“
„Macht doch nichts“, entgegnete Casmilda, die gerade mit der Sonne um die Wette strahlte, „ich habe dich gesichtet und nun bist du hier.“
Marco setzte sich zu ihnen. Der Schweiß lief ihm von der Stirn, was Casmilda als höchst erotisch empfand, weil sie die Tropfen am liebsten sanft mit ihren Fingern weggewischt hätte. Wie gerne würde sie näher an ihn heranrutschen. Doch er wandte seine Aufmerksamkeit Cornelia zu.
„Conny, geht es dir nicht gut?“, wollte Marco wissen, der in das Gesicht einer Frau blickte, die dringend ein neues Make-Up nötig hatte und vor allen Dingen ein Taschentuch. Marco reichte ihr eines aus seiner Hosentasche.
„Danke Marco, das ist lieb von dir. Casmy und ich haben keine dabei!“, stammelte Conny verlegen, ohne seine Frage zu beantworten.
Sie ärgerte sich über diesen Frevel. Daniel war auch freundlich zu ihr gewesen, und hatte ihr binnen kurzer Zeit sehr weh getan. Andererseits konnte sie solch attraktiven, männlichen Wesen nicht böse sein. Außerdem hatte er mit charmanter, einfühlsamer Stimme nach ihrem Befinden gefragt, somit vergaß sie ihre nachtragende Natur.
„Was machst du denn hier?“, wollte Casmilda wissen, als sie ihren Kopf in einer verträumten Schräglage auf ihre Hand stützte.
„Ich war gerade bei meiner Großmutter zu Besuch, sie wohnt gleich in der Nähe des Westbahnhofs.“ Er warf Conny einen kaum merklichen Seitenblick zu. „Soll ich euch lieber alleine lassen? Unsere Kollegin scheint Trost zu brauchen“, fragte er, seinen Blick wieder Casmy zugewandt. Obwohl diese genau wusste, wie Recht der hübsche Italiener hatte, flehte sie ihn innerlich an, zu bleiben.
„Wie du willst, Marco, du störst jedoch in keinster Weise!“, entgegnete sie mit einem zuckersüßen und doch aufrichtigen Lächeln.
„Hau’ ab!“, hätte Conny aufgrund ihres gebrochenen Herzen am liebsten geschrien, doch sie ließ es bleiben. Für Marco würde sie sich ausnahmsweise zusammennehmen.
Casmildas Worte sprudelten aus ihr heraus, ehe sie sie aufhalten konnte. Nervös stammelte sie: „Äh, Marco, übrigens, wegen der Sms gestern, das war irgendwie…“
„Sehr direkt!“, beendete Marco den Satz, wobei sein aufrichtiger Blick keine Vermutung aufkommen ließ, wie er ihre Nachricht bewertete.
„Ja, da hast du wohl die richtigen Worte getroffen. Aber vergiss sie einfach und lösche sie, ich hatte ein bisschen zu viel getrunken.“ Casmilda verletzte sich an ihren eigenen Worten, was sich in ihrer Herzgegend mit einem ziehenden Stechen bemerkbar machte. Intuitiv legte sie die Hand an jene sensible Körperstelle, wie um damit den Schmerz lindern zu können. Doch es war das Beste, sich von Marco privat zu distanzieren.
„Wenn du das sagst“, meinte Marco mit einem strahlenden Charisma, das seine Worte weder arrogant noch kalt erklingen ließ, sondern einfach von Herzen freundlich wirkte.
Anfangs hatte sie ein ganz anderes Bild von ihm. Er hatte erst vor vier Wochen im Salon angefangen zu arbeiten. Casmilda hasste ihn, denn er wirkte arrogant und schleimte sich scheinbar mit seinem technischen Gerede über Haarschnitte – und Colorationen bei ihrem Vorgesetzten ein. Eines Tages lächelte er die junge Friseuse jedoch verlegen an, und sie begann innerlich für ihn zu schwärmen. Als die beiden miteinander ins Gespräch kamen und merkten, dass sie im selben Studentenwohnheim lebten, tauschten sie ihre Telefonnummern aus, um sich für einen Plausch in ihrer Freizeit zu verabreden. Conny beobachtete das Geschehen und ein kleiner Anflug von Eifersucht zierte ihr Gesicht. Wenige Tage später hatte Marco Casmy gefragt, wann sie denn Lust hätte, besagten Drink zu konsumieren, daraufhin entgegnete sie nur lässig, sie hätte Orangensaft zuhause, „aber trotzdem danke“.
Der junge Hairstylist verstand ihren Humor nicht ganz, bis sie anfing zu grinsen.
„Und eine Dusche habe ich auch, falls du mit mir mal schwimmen gehen möchtest, ich bin mit allem gut versorgt!“ Marco hatte zu lächeln versucht, war aber scheinbar zu verklemmt, um diese Witze zu begreifen. Somit war ihr gemeinsames Treffen auf einen ungewissen Zeitpunkt verschoben worden.
Marco hatte seine Marlboro zu Ende geraucht und zertrat die Kippe mit seinem Fuß, der an einem stark durchtrainierten Unterschenkel herausragte.
„Meine Lieben, ich muss jetzt wieder los. Meine Schwester wartet auf mich. Wir sehen uns dann am Dienstag!“
Er reichte ihnen höflich die Hand und ging seines Weges.
Wie familiär er ist, ging es beiden Damen durch den Kopf, ein Rätsel.
Casmy strich sich ihr aubergine getöntes Haar aus der Stirn, wo sich schon langsam der Schweiß sammelte. Dieser Mann hatte ihr den Kopf verdreht, und sie wusste über den Auslöser ihrer Schweißperlen sehr gut Bescheid – die Sonne alleine konnte sie bestimmt nicht hervorgerufen haben.
Marco hatte die Tönung auf ihr Haar appliziert. Sie trug an jenem Tag ein trägerloses Top, und ihre wohlgeformten Brüste kamen gut zur Geltung. Sie bemerkte, wie sehr er sich mit dem Auftragen des Präparates beeilte, und mit hochrotem Kopf bemerkte, dass sie sich zwischendurch mit den Fingern über den Busen strich. Seine offensichtliche Verklemmtheit gab ihr zu denken.
Conny hatte neues Make-Up aufgelegt und fühlte sich ein wenig besser. „Männer sind und bleiben Herzensbrecher“, meinte sie, um die Verantwortung für ihre Gefühle an Daniel abzuschieben. „Am liebsten würde ich jetzt da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben, auch, wenn ich immer noch einen Kater verspüre.“
„Wir brauchen unsere Gehirnzellen noch für andere Dinge. Konzentriere dich lieber auf deinen Selbstwert als Frau“.
Conny blickte ihre Freundin verdattert an. „Also willst du mir sagen, eine anstrengende Art an den Tag zu legen, mit der die Männer nicht umgehen können, ja? Ist es das, worauf du hinaus willst?“ In ihrer Stimme schwang ein nervöser und gleichzeitig aggressiver Tonfall mit.
„Um ehrlich zu sein: ja. Du bist von dir selbst nicht überzeugt, daher rührt dein unsicheres und oftmals launisches Auftreten. Es verschreckt die männlichen Wesen. Nimm dich selbst wie du bist, hab dich gerne, dann tun es auch andere. Das ist die Grundregel jeder Beziehung!“, entgegnete Casmilda und blickte Cornelia tief in die Augen. Dieser missfielen die Worte, weil sie über ihre eigene Schwäche Bescheid wusste, und dabei ertappt zu werden war ihr äußerst unangenehm. Ihr letztes Kontra bestand daher aus einem kurzen Schnauben, dann verließen sie die Bank und machten sich auf den Weg zur U-Bahn.
In Connys Gedanken ging ein typisches Schema vor, das wusste Casmy. Sie glaubte, eine Freundin müsse mehr Loyalität zeigen, und diese in Form von sanften Worten der Zustimmung und des Verständnisses ausdrücken. Casmilda kritisierte Conny stattdessen, um ihre Denkweise zu ändern, was dieser sicher gut täte.
Ihre kleinen Reibereien beschäftigen sich öfters mit der Thematik der Männerwelt. Anstatt sich jedoch gegenseitig zu verstehen, ging das Desaster immer wieder von neuem los: Casmy dachte anders als Conny, und die beiden verspürten keine Lust, sich in die Lage ihres Gegenübers zu versetzen. Casmilda betrachtete Conny des Öfteren als kindisch, wenn sie solche Szenen wie die oben genannte beobachtete, wobei Cornelia ihre Freundin dabei als unsensibel empfand.
Um die heutigen Standpunkte der Beiden zu verstehen, waren ihre Vorgeschichte und Kindheit von Bedeutung: Cornelia wuchs als wohlbehütetes Kind in einer gut situierten Familie in Deutsch-Kreuz im Burgenland auf. Sobald ihre Mutter sie im Alter von 10 oder 12 ermahnte, ihr im Haushalt zu helfen, oder mehr Engagement für die Schule aufzubringen, kam ihr Vater hinzu, um sie vor der Mutter in Schutz zu nehmen, obwohl eigentlich kein verbaler Angriff von dieser erfolgt war. Connys Mutter hatte in ihrem Leben nicht sonderlich viel erreicht, was ihren beruflichen Erfolg anbelangte, deshalb glaubte sie, eine höhere Schule würde ihrer Tochter bestimmt gut tun, da ein dementsprechender Abschluss ihr die Möglichkeiten erschießen würde, die ihr selbst verborgen geblieben waren. Sie meinte es nur gut mit Conny. Ihr Vater jedoch liebte seine Tochter über alles, und klammerte sich an sie, weil er in seiner Kindheit nicht gelernt hatte, die Liebe, die ihm sein Vater verweigert hatte, nicht erzwingen zu können. Somit sah er in allem Liebevollen einen Zwang, den man an sich band und festhalten musste, um die betreffenden Liebe nicht zu verlieren. Conny wuchs somit zu einer verwöhnten Göre heran, die bei jeder Kleinigkeit ins Wanken geriet und zu jammern begann, und jeder Mensch, der das nicht verstand, war ihres Erachtens nach unsensibel, und musste sie trösten und vergöttern wie ihr Vater. Diese Vorstellung haftete noch heute an ihr.
Nur ihre Außenwelt, sprich Connys Arbeitskollegen, ihr Chef und ihre Freundin Casmy wollten sie aus diesem verwöhnten Trott herausziehen, wenn auch nicht alle Betroffenen bewusst dieses Ziel verfolgten, da nur Casmy über Connys Vergangenheit Bescheid wusste. Sich gewissen Gegebenheiten wie Kritik oder Hilfsbereitschaft im Alltag hinzugeben fiel Cornelia immer noch schwer.
Casmilda wuchs in einem kleinen Dorf namens Wilhelmsburg an der Traisen im Bezirk St. Pölten Land auf. Sie wusste, was es hieß, selbstständig zu sein. Sie wurde nicht verwöhnt, was ihre Kindheit betraf, ganz im Gegenteil, was ihr wichtig war, musste sie sich hart erarbeiten. Ihre Noten in der Schule waren immer exzellent. Nach der 4. Klasse lernte sie selbstständig und alleine für die Schule.
Wie groß war die Enttäuschung, als sie ihr Abschlusszeugnis der Hauptschule in den Händen hielt, mit lauter Einsern, und ihren Eltern in den Ohren hing: „Mama, Papa, wir ihr schon wisst ist mein Zeugnis überdurchschnittlich gut ausgefallen! Ich würde so gerne eine höhere Schule besuchen! Danach möchte ich vielleicht Psychologie studieren, und…!“
„Vergiss es, Schätzchen“, warf ihre Mutter sachlich ein, „für derartigen Luxus haben wir kein Geld. Die ständigen Bücherkosten, die Ausflüge und dergleichen übersteigen unser monatliches Budget. Erlerne einen anständigen Beruf, Mädchen!“
Als Casmilda vorschlug, einen Nebenjob anzunehmen, um sich die Schulkosten selbst leisten zu können, wurde ihr dies verboten. „Dein Engagement in allen Ehren, Liebes, aber ich glaube, damit wirst du dich überfordern.“
Somit bewarb sie sich im Alter von 15 Jahren bei Die fliegende Schere. Sie hatte es nicht leicht mit Cornelia, die am selbigen Tag wie Casmilda ihre Lehre antrat .Conny nahm alle ihre Aussagen persönlich, hinterfragte dabei ihren eigenen Wert und war schnell beleidigt. Es dauerte eine Weile, bis die beiden einander verstehen lernten. Ihre Kolleg -und Freundschaft war jedoch nicht immer von Kompromissen übersät, weil sie abgesehen von ihren charakterlichen Unterschieden in vielen Punkten einer Meinung waren, sei dies nun gekennzeichnet durch private Dinge wie gemeinsame Hobbies oder berufliche Dinge wie dieselben Geschmäcker bei einer fachlichen Typberatung – sie fanden mehr und mehr zueinander. Tief in ihrem Inneren wussten Casmilda und Cornelia über die Wichtigkeit der Akzeptanz ihrer jeweiligen Unterschiede Bescheid, sie würden sich nicht grundsätzlich füreinander ändern, aber mehr und mehr Bereitschaft zeigen, ihr Gegenüber zu verstehen. Casmilda brachte mit ihrer Persönlichkeit im Salon eine starke Powerfrau zum Ausdruck, die mit Elan und Motivation ans Werk ging.
Cornelia trat den Kunden mit einer sehr feinfühligen Ader entgegen, die sie sehr an ihr schätzten, obwohl Ausnahmen die Regel bestätigten. Somit stellten sie an ihren guten Tagen ein fantastisches Team dar, das balanciert und richtig handelte. Misslungene Teamkonzepte konnte ein Außenstehender an Connys beleidigter Miene oder Casmildas zornigen Blicken erkennen. Selbstverständlich jedoch waren beide mit einer selbst antrainierten Schauspielergabe ausgestattet, die es ihnen ermöglichte, die „schlechten“ Tage vor den Kunden zu verbergen. Irgendwie schafften es Casmy und Conny immer wieder beide, aufeinander einzugehen, wenn sie sich gestritten hatten, egal ob aus privaten oder beruflichen Gründen. Sie konnten immerhin viel voneinander lernen, wenn die Bereitschaft dafür gegeben war.
Der Abend bei Junk-Food -Mood hatte einen Anflug von Müdigkeit über die Gemüter der Stylistinnen gezogen. Zuerst waren sie sturzbetrunken am Sonntag Morgen nachhause gekommen, hatten danach ein paar Stunden geschlafen und sich statt frischer Luft die Düfte eines Fast Food-Restaurants gegönnt.
Sie hockten abends zusammen in Connys Zimmer im Jugendwohnheim und schwiegen sich gegenseitig an, dabei wanderten ihre Blicke zwischendurch zum Fernseher, der eine kitschige Serie ausstrahlte. Seit ihrer Diskussion wegen Daniel hatten die beiden sich nicht mehr miteinander unterhalten, kein einziges Wort gewechselt. Doch Casmy tat eben nur, worum Conny sie gebeten hatte. „Lass' mich bitte zufrieden!“, hatte sie gesagt. Dabei war Casmilda vollkommen bewusst, wie wichtig Conny in solch trotzigen Momenten Worte des Mitleides waren, doch sie tat ihr diesen Gefallen nicht, weil er sich letztendlich nicht als Gefallen herausstellen würde. Sie musste lernen, Mücken Mücken sein zu lassen, anstatt sie zu Elefanten aufzublasen. Schließlich sah Casmy ihre Freundin an und grinste. In ihren Augen erkannte Conny Aufmunterung und Zuversicht. Spätestens dann wurde Cornelia klar, welche Übertreibung sie wieder einmal an den Tag gelegt hatte, ihr Schmerz galt immerhin ihrem Liebeskummer wegen Daniel, nicht der ganzen Welt um sie herum.
Nun musste auch Cornelia grinsen und schloss ihre Freundin in die Arme. Dabei merkten beide die nicht zu verleugnende Fälligkeit eines Rückentrainings, die ihr Berufsleiden hervorbrachte. Eine halbe Stunde später rüttelte Conny Casmy sanft am Arm, die bereits eingeschlafen war.
Es folgte die typische Küsschen – Verabschiedung und Conny ging zu Bett.
Auch Casmilda befand sich wenige Minuten später in ihrem kleinen Schlafgemach. Kurz, bevor sie sich selig in den Schlaf wiegen wollte kam ihr ein Gedanke. Ihre schweren Lider aufrechterhaltend beschäftigte sie Connys Verhalten dahingehend, wie wichtig sich die Liebe eines Mannes für sie selbst darstellte. Doch anstatt diesem Gedanken tiefgründige Philosophien folgen zu lassen, entdeckte sie in ihrem Inneren eine sexuelle Begierde.
Kurzerhand öffnete sie die Nachttischschublade und nutzte ihren Vibrator, sowie ihre zärtlichen Hände, um sich wenige Minuten später einem sinnlichen Orgasmus hinzugeben.
Ein Anflug leichter Reue streifte sie, während sie das Penisimitat unter das lauwarme Wasser im Badezimmer hielt. Sie wusste genau, dass sie die Möglichkeit hätte nutzen können, sich der lebendigen Fleischeslust eines Mannes im Dance for Chance vollkommen hingeben zu können, was Küsse oder sexuelle Begierden anbelangte, die sich letztendlich in einem privaten Bett ihre Bahn gebrochen hätten, somit hätte sie auf den Nutzen des Vibrators vollkommen verzichten können. Doch die Rücksichtnahme auf Conny, dessen Vorwürfe, sie hätte sie alleine in der Diskothek zurückgelassen, hatten sie davon abgehalten, ihrem erotischen Drang bereits am Samstag nachzugeben, trotz des hohen Alkoholspiegels.
„Doch ich habe Connys Unsicherheit gegenüber Männern nicht zu verantworten, obwohl sie mir diese Verantwortung in Form von Vorwürfen gerne unterbreiten möchte“, sagte sie laut in den Raum, als sie in ihrem Bett liegend die Decke anstarrte. Die Kompromisse in unserer Freundschaft sind nicht immer einfach für mich, dachte sie. Wenige Sekunden später war sie eingeschlafen.
Unterdessen dachte Conny erneut über Daniel nach. Nun, da sie alleine mit sich selbst war, und Casmilda sie nicht von ihrer uneinsichtigen Art, die Situation zu sehen, abhalten konnte, trieben in ihren Gedanken einige Hassfantasien gegen ihren Exfreund ihr Unwesen. Es war einerseits gut, sich von ihren Emotionen treiben zu lassen, denn sie entsprachen ihrer wahren Natur, die Dinge zu sehen. Andererseits wusste Cornelia tief in ihrem Inneren, wie sehr sie es in ihrem Leben befürworten würde, mehr Selbstvertrauen zuzulassen und somit ihre Wahrnehmung für die Außenwelt zu verändern. Doch Veränderung war ihr ein Gräuel, sie barg keine Sicherheit. Also würde sie sich bestimmt noch eine Zeit lang mit ihrem alten selbstzweifelnden Ich herumschlagen müssen. Wenige Minuten später fiel auch sie in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Tag wurde Casmilda bereits sehr früh am Morgen wach, als sie schlaftrunken registrierte, an ihrem arbeitsfreien Montag noch viel länger ausschlafen zu können.
Doch die Erinnerung an einen realistischen Traum hielt sie davon ab, weiterhin auszuruhen. Sie setzte sich ruckartig im Bett auf, schloss die Augen und ließ die Bilder vor ihrem geistigen Auge revue passieren: Marco und Casmy hatten die sexuelle Vereinigung der Reiterstellung genossen, wobei sie ihn mit gierigen Blicken fixiert, sowie mithilfe obszöner Worte motiviert hatte, tiefer in sie einzudringen. Schließlich erschien Conny und filmte die beiden bei ihrem Lustakt. Mit den Worten: „Das Internet wird seine Freude an dem Film haben!“, bedachte sie Casmy mit einem eiskalten Lächeln. Gefühle der Scham und des Entsetzens durchfuhren ihren nackten Körper, als sie ihre Hände verzweifelt um ihn schlang. An dieser Stelle riss sie erschrocken die Augen auf. Schnell schnappte sie sich ihr Tagebuch und begann, den Traum schriftlich zu analysieren: „ 9.3.: Ich träumte von Marco, der mich sexuell befriedigte, und Conny, die den Akt unterbrach. Sie filmte uns während ich mich auf ihm bewegte, und drohte damit, das Ganze ins Internet zu stellen. Was soll das bedeuten? Mir scheint, als hätte ich Angst, Conny würde mir dieses Gefühlshoch mit Marco nicht gönnen, das sich in meinem Traum anhand einer sexuellen Vorstellung ausdrückt. Doch wieso sollte sie das tun? Sie ist meine beste Freundin. Obwohl ich mir darüber im Klaren bin, welch übertriebenes Ausmaß Connys Neid annehmen kann, wissen sie und ich, woher seine Wurzeln rühren – sie würde bestimmt nichts unternehmen, um mir Marco abspenstig zu machen. Dennoch verarbeite ich in diesem Traum wohl auch ein gewisses Unwohlsein bezüglich ihrer Blicke, die sie mir im Dance for Chance zuwarf, als ich versuchte, mit den anwesenden Männern zu flirten. Und diese Fantasie bezüglich des Internets beschreibt meine Angst davor, die Öffentlichkeit, sprich mein Chef Larcy Biksmer könnte von der Affäre zwischen mir und Marco erfahren. Dies würde seine strenge Erinnerung an die Trennung zwischen Privat – und Berufsleben bedeuten. Doch ich muss auf den Boden der Tatsachen zurückkehren – zwischen Marco und mir läuft keine Affäre.“ Zumindest noch nicht fügte sie im Stillen hinzu.
Sie atmete tief durch, beruhigt durch ihre analysierenden Worte und legte das Tagebuch zurück in die Schreibtischschublade.
Sie machte sich Kaffee und putzte sich die Zähne. Dann aß sie, noch im Pyjama, eine Schüssel mit Sckoko-Müsli und extraleichter Milch, um schlank zu bleiben.
Casmilda duschte, rauchte nackt ein paar Zigaretten, und bekleidete sich mit einer dünnen Leinenhose sowie einem türkisen, bauchfreien Top. Nachdem sie sich nochmals die Zähne geputzt hatte, klopfte es an der Tür. Wer das wohl sein mochte um diese Zeit? fragte sie sich. Die Uhr zeigte 9:40.
Sie öffnete und ein unheimlich gut aussehender, junger Mann stand vor ihr. Er schien nicht älter als 20 zu sein. Er hatte dunkle, kurze Locken und schokoladenfarbene Augen, passend zu seinem braunen Teint, der seinen muskulösen Körper zierte.
„Ja, bitte?“
„Ich bin Florenzo, Marcos Cousin, das ist für Sie!“, brachte er mit einem Lächeln hervor, das nur dem leidenschaftlich geformten Mund eines Italieners entspringen konnte.
„Du kannst mich auch sehr gerne duzen!“, erwiderte Casmilda und streckte ihm aufgeregt ihre rechte Hand hin, die er vorsichtig drückte. Casmilda nahm eine weiße Rose entgegen, die laut Florenzos weiterer Ausführung von Marco stammte. Ihr Duft schien den gesamten Raum zu erfüllen, zumindest fühlte ihn Casmilda derart intensiv, da ihre Glückshormone ihr einen Streich spielten. Da war auch ein Kärtchen dabei: „Für eine liebe Arbeitskollegin, dein Marco“.
„Danke sehr, Florenzo, möchtest du gerne einen Kaffee mit mir trinken?“, fragte sie lächelnd, als ihre Bäckchen eine zarte rötliche Farbe annahmen.
„Nein danke, das ist lieb von dir, ich muss mich beeilen um Zeitungen auszufahren!“
Mit diesen letzten Worten verschwand er.
Was für ein Charmeur Marco doch war! Obwohl sie ihn für taktvoll und einfühlsam hielt, überraschte es die junge Dame doch, dass ihr Kollege solch einen würdevollen Schwang der Romantik an den Tag legte. Sie steckte die holde Blume zwischen den Busen in ihr Top und drehte sich vergnügt im Kreis. Wo er jetzt wohl ist, ob er an mich denkt?, fragte sie sich. Sie wollte die Rose einwässern und nahm sie vorsichtig aus ihrer provisorischen Halterung, wobei die prallen Brüste der Blume einen guten Halt verliehen hatten. Sie befüllte eine langstielige Vase mit kaltem Wasser, als sie sich die weiße Rose genauer ansah. Da bemerkte sie die ersten bräunlichen Flecken an den Blütenblättern. Wollte er mir schmeicheln oder mich in meiner Würde kränken?, dachte sie. Angeekelt verzog sie den Mund zu einer schmalen Linie und legte ihre Stirn in Falten.
Doch sie beruhigte sich wieder. Einem geschenkten Gaul schaute sie nicht ins Maul.
Doch eine andere Sorge schlich sich in ihr Bewusstsein. Sie nahm auf ihrem Bett Platz und befühlte ihren aufgeregten Herzschlag. Sie sammelte ihre Gedanken, als sie den Kopf in den Händen gestützt hielt. Marco, der aufgrund seiner femininen Mimik und Gestik die Frage aufkommen ließ, inwiefern er dem gleichen Geschlecht zugetan war, ließ ihr eine Rose überbringen. Doch warum besaß er derart viele Fotos von seinen Ex-Freundinnen, die er prahlerisch präsentierte? Oder zeigten die Fotos seine platonischen Freundinnen? Schwulen Männern war es immerhin eigen, Frauen als ihre Seelenverwandten zu betrachten.
Um sich von ihrer selbst auferlegten Verwirrung abzulenken, erfreute sie sich weiterhin an der Rose. Weiß symbolisiert die Reinheit, sagte man. Sie zündete sich eine Zigarette an und schmunzelte. Marco steckt vielleicht all seine Hoffnung in meine Jungfräulichkeit, die ich schon längst verloren habe, dachte sie und stieß den Rauch aus. Das würde auch erklären, warum er so nervös gewesen war, als er ihr die aubergine-Farben Tönung aufgetragen hatte und sie sich mit den Fingern über den Busen gestrichen hatte, um ihn sexuell anzuheizen. Sie drehte sich schmunzelnd auf den Rücken und zog genüsslich an ihrer Zigarette. Es machte ihr Vergnügen, Spekulationen über Marcos Gedanken anzustellen. Vielleicht meinte er ja, sie solle sich ein Beispiel an der Rose nehmen, weil Casmildas Sündhaftigkeit Bände sprach. „Diese Bände darfst du gerne lesen“! , rief sie euphorisch aus und verfiel einem Lachanfall, als sie kurz darauf bemerkte, wie die Asche ihrer Zigarette auf den Boden fiel, weil sie sich zu weit aus dem Bett gelehnt hatte. Sie holte einen Aschenbecher und dämpfte die Zigarette aus. Dann holte sie ihre Gedanken wieder ins Hier und Jetzt zurück.
Wenige Minuten später klopfte sie an die Tür ihrer Freundin und Nachbarin Valetta. Verschlafen öffnete sie. Sie hatte ebenfalls ihren freien Tag, und arbeitete im Kaufhaus Lipsmelker auf der Mariahilferstraße in einer Pizzeria.
„Wie spät ist es?“, fragte Valy verschlafen, ohne ein Wort des Grußes.
„Es ist zehn!“
Da wollte Valetta schon die Türe zuknallen, als Casmy den Fuß dazwischen legte, und sie flehend ansah.
Valetta ließ sie herein. „Kaffee, Tee?“
„Nein, danke!“, antwortete sie fröhlich.
In knappen Worten berichtete sie von ihrem blumenreichen Ereignis, und Valy hörte mit kaum aufgerissenen Augen zu.
„Wie kommt er auf die Idee, dir eine Blume überbringen zu lassen?“, fragte sie, als sie sich auf ihr Bett setzten.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Casmy mit verträumtem Blick und elfengleicher Stimme, „ er verwirrt mich ein wenig. Ich frage mich einerseits ob er schwul ist, seiner Mimik und Gestik wirken ziemlich feminin, wie ich dir bereits erzählt habe, andererseits schickte er mir diese herzallerliebste Rose!“
Anschließend zeigte sie Valetta die Sms, die sie ihm gesandt hatte, und musste schmunzeln. Diese strich sich mit einer flotten Handbewegung ihr kurzes Haar aus dem Gesicht und verzog ihren Mund zu einer schmalen, nachdenklichen Linie. Was sollte sie ihrer Freundin raten? Dass sie die Finger von ihm lassen sollte? Valetta hatte ihre Bedenken über Beziehungen mit Arbeitskollegen bereits geäußert, sie davor gewarnt, Privates und Berufliches derart gedankenlos in einen Topf zu werfen. Mehr konnte sie für sie nicht tun. Casmy betrachtete ihre Freundin. Sie konnte ihre Gedanken teilweise erahnen.
Valetta war eine hübsche, 23 – jährige Blondine, naturblond, wofür sie viele ihrer Freundinnen beneideten.
Eine ihrer wenigen Schwächen bestand darin, schnell die Geduld zu verlieren, und dementsprechende Aggressionen aufkommen zu lassen. Einen Teil ihres feurigen Temperaments nutzte sie auch in diesem Moment, als sie Casmilda aufgrund ihrer Schlaftrunkenheit nach einer halben Stunde zur Tür hinausschob, ohne großartige Rechenschaften darüber abzulegen. Sie meinte nur, sie würden sich später treffen. Und sie solle auf dem Boden bleiben, denn immerhin sei eine einzige Rose kein Grund, sie zu behandeln wie einen gesamten Strauß. Casmilda lächelte ihr zu, bevor sie sich umdrehte und ging. Mit diesem Lächeln versuchte sie sich selbst und Valetta Verständnis für ihr raues Wesen entgegenzubringen, das sie des Öfteren stutzig machte.
Valetta führte ein eher solides Leben. Die attraktive Lesbierin verbrachte ihre Freizeit gerne zuhause, lackierte sich ihre Fuß – und Fingernägel mit der Nuance hottest chocolate, ever been , ihrer Lieblings- Nackellackfarbe, rauchte Kette, und lud Freunde oder Freundinnen zum Kaffee ein, auch lesbische Damen zu One – Night – Stands hatten ihre Wohnung schon des Öfteren von Innen gesehen. Valetta und Casmilda diskutierten oft, ob Homo – oder Heterosexualität in der Frauenwelt die zufriedenstellendere Variante sei, doch diese Diskussion schien ins Endlose zu führen.
Valy hatte oft dem einen oder anderen männlichen Wesen verbal und körperlich ihre Dominanz spüren lassen, weil er in der Diskothek ihre feste Freundin gefragt hatte, ob sie bereit für Sex wäre, oder ob die beiden an einem flotten Dreier interessiert waren. Auch Casmy war einmal dabei gewesen, und weil deren flotte Dreier bis jetzt immer nur mit zwei Männern stattgefunden hatten, hielt sie den Mund, obwohl in ihr die Neugier gewachsen war, wie sich Sex mit einer Frau anfühlte. Einen gewissen Sexhunger in ihrem Gefühlsverhalten konnte Casmilda nicht bestreiten. Sie schaffte das Klischee des testosterongesteuerten Mannes ab und projizierte es mit ihrer sexuellen Offenheit auf sie selbst.
Valy begab sich wieder zu Bett, genoss traumlos ihren Schlaf und stand pünktlich um 14 Uhr auf um sich für den gemeinsamen Tag vorzubereiten. Ebenso pünktlich klopfte auch Casmilda an der Tür, diesmal wurde sie von ihrer Freundin mit einer Umarmung und zwei Wangenküsschen begrüßt.
Sie nahmen die nächste U-Bahn, um zu Junk Food Mood zu gelangen, das ungesunde Fast Food schmeckte Valy, Casmy und Conny unbeschreiblich gut. Casmy öffnete das U-Bahn-Fenster, um ein wenig frischen Fahrtwind abzubekommen.
Durch das herrliche Wetter spiegelten sich in Valys Haaren glänzende Reflexionen des Sonnenlichts, die ihr wunderschönes Blond zur Geltung kommen ließen. Casmilda betrachtete die kaputten Enden und meinte: „Deine Spitzen könnten einen Schnitt vertragen, sie sehen aus, als hättest du eine Spinne in deinen Haaren fuhrwerken lassen, wobei der Spliss die Netze darstellt!“
Sie lachte über ihren eigenen Witz. Dabei rümpfte sie theatralisch die Nase, und fuhr Valetta kurz mit den Fingern durch ihre Wuschelmähne, was jene mit einem Einziehen des Kopfes als überflüssig deutete. „Ja ja, du immer mit deiner überheblichen Friseurzunge, aber gut, tob' dich aus wenn du meinst, es würde mir dann besser gehen, heute noch, wenn du willst. Ich persönlich finde, es gibt wichtigere Dinge im Leben eines Menschen als kaputte Haarspitzen.“ Sie schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf und grinste.
„Das ist nun mal eine Berufskrankheit, meine Liebe!“ Casmilda war um kein Kontra verlegen.
„Berufskrankheit! Dass ich nicht lache“, entgegnete Valy mit theatralischer Miene, „deinem Prinzip nach müsste ich also jedem Gast in unserer Pizzeria davon abraten, unsere Pizzen zu essen, wenn sie ab und zu ein bisschen angebrannt sind, weil ich meinen Beruf derart ernst nehme, nicht wahr?.“ Gespielt dramatisch stemmte sich Valy die Hände in die Hüften. Casmy nahm die Herausforderung an.
„Was kann ich denn dafür, dass du ihn nicht ernst nimmst?“, bemerkte sie, und verlieh ihrer Stimme einen gespielt abwertenden Ton. Mit einem lockeren Lächeln winkte Valetta ab. Die U – Bahn rollte schließlich in der Station „Längenfeldgasse“ ein, sie stiegen um und waren wenige Minuten später an ihrem Ziel angelangt.
Sie setzten sich an einen Ecktisch im Freien. Im Fast-Food-Paradies bestellten sie je einen Happy Schmecky-Burger sowie zwei Lufti – Schoki - Erdbeermuffins. Sie orderten keine Getränke, da sie aus Sparmaßnahmen in ihren Handtaschen für je eine große Flasche mit verdünntem Fruchtsaft gesorgt hatten.
Casmilda ließ sich gerade die Mischung aus sauren Gurken, Rindfleisch und Tomaten schmecken, als sie einen hektischen Daniel bemerkte, der beinahe an ihr vorbeigelaufen wäre. Nahezu atemlos hielt er inne. Casmy blinzelte, als sie seine Anwesenheit registrierte, um auch sicherzugehen, dass er tatsächlich vor ihr stand. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen. Nach Atem ringend kam er direkt auf sie zugesteuert.
„Weißt du, wo Conny ist?“, fragte er Casmy, ohne eine Begrüßung zu erwähnen.
Sie bemerkte seine Schweißperlen und legte angewidert ihren Burger zur Seite.
„Sie ist zuhause, wo denn sonst? Was willst du denn von ihr?“, fragte Casmy in leicht gereiztem Ton. Hat er nicht bemerkt, dass ich gerade genüsslich einen Burger verspeise? dachte sie bei sich.
„Ich will mit ihr reden, spätestens dann, wenn ich meinen Termin zum Haareschneiden bei ihr einhalte.“ Sein Keuchen war nicht zu überhören, als er den Oberkörper nach vorne gebeugt hielt, um sich mit den Händen auf seinen Knien abzustützen. Seine Stimme verriet einen leicht verzweifelten Unterton. Casmilda blickte ihn emotionslos an, nicht etwa aus Loyalität gegenüber Conny, aber weil er scheinbar keinen Funken Anstand besaß. Er hatte sie weder begrüßt, geschweige denn sich für die Störung entschuldigt, die er während ihres appetitlichen Genusses verursacht hatte.
„Woher weißt du überhaupt, dass ich hier bin?“, wollte sie wissen, und fühlte sich in diesem Moment ein klein wenig verfolgt. Beunruhigt verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Daniel antwortete: „Das wusste ich nicht, ich habe nur gerade verspätete Mittagspause, und dachte, ich hole mir ein Menü. Warum ist Conny eigentlich nicht bei dir, ich dachte, ihr verbringt jede freie Minute miteinander?“
Seine Mimik und Gestik sprachen für die vollkommene Überzeugung, ein Recht auf die Befriedigung seiner Neugierde zu besitzen.
„Nein, dem ist nicht so, außerdem geht dich das überhaupt nichts an!“, mahnte ihn Casmy nun ihn lauter werdendem, gereiztem Ton.
Daniel war von Beruf Bäcker und hatte Tagdienst. Entweder war es die Müdigkeit, die sein Beruf mit sich brachte, oder er war aus Schüchternheit wortkarg geworden, denn von einer Minute auf die andere hielt er plötzlich den Mund.
„So ein Zufall aber auch, dass wir uns hier treffen!“, meinte Casmy sarkastisch, um die Gesprächspause zu decken.
„Zufälle gibt’s nicht!“, mischte sich Valy wütend ein, die das Gespräch mit wachsamen Elefantenohren belauschte. Sie sahen einander an und mussten grinsen. Echte Freundinnen hielten zusammen, und seien dies auch nur gekennzeichnet durch einen viel sagenden Blick des Lächelns. Sie konnten Daniel aufgrund seines taktlosen Auftrittes nicht ausstehen und machten keinen Hehl daraus, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Das eine Mal, als Casmy ihm begegnet war, hatte er auch keine Anstalten der Höflichkeit gemacht. Grüßen wurde bei ihm klein geschrieben. Dieser desinteressierte und selbstgefällige Tonfall machten ihn auch nicht unbedingt zu einem Sympathisanten.
Daniel marschierte schnurstracks ins Restaurant, bestellte einen Zwiebel – Crunchy – Snack, einen Sugarlover als Dessert und ging - natürlich ohne ein Wort des Abschieds.
„So ein unverschämter Kerl!“, meinte Valetta und schüttelte den Kopf. „Ich weiß schon, warum mir Frauen die lieberen Beziehungs – und Gesprächspartner sind!“ Zur Beruhigung steckte sie sich eine Marlboro zwischen die blassrosa geschminkten Lippen.
„Du hast Recht. Abgesehen davon verhält sich dieser Typ glaube ich immer so. Aber apropos lesbische Beziehungen“, sagte Casmilda mit neugierigem Blick, „bist du dir sicher, dass das deine endgültige Bestimmung ist, das Lesbisch - Sein?“, fragte Casmy.
„Äh, ja!“, antwortete Valy. „Und jetzt halt’ bitte die Klappe, darüber haben wir bereits oft genug diskutiert, meine Teuerste!“ Ihr dominanter Tonfall duldete keinen Widerspruch. Casmy zuckte nur mit den Achseln.
Gemütlich saßen sie an ihrem Tisch und genossen stillschweigend das ungesunde Mahl, erfreut über Daniels Verschwinden. Nach einem kräftigen Schluck Erdbeer-Trauben -Juice verspürte Valetta einen starken Harndrang.
„Entschuldige mich bitte!“, grinste sie Casmy zu.
„Du könntest Daniel Nachhilfe in Sachen Höflichkeit geben, meine Liebe!“, lachte Casmilda zurück.
Auf der Toilette konnte Valy immer gut ihren Gedanken nachhängen und sich entspannen. Seelenruhig ließ sie sich auf dem Deckel nieder und verrichtete mit geschlossenen Augen entspannt ihr Geschäft. Wäre da nicht dieses Wimmern gewesen, das sie augenblicklich aus ihrem Tagtraum aufwachen ließ, hätte sie bestimmt noch einige weitere Augenblicke in dieser Position verharrt.
Sie öffnete die Augen und verließ den WC-Raum. Sie fragte sich nervös, ob sie diese Stimme kannte und schlug die Hände vor ihr Gesicht, als ihr eine Ahnung zu verstehen gab, wem diese gehören könnte. Das Geräusch drang aus der Toilette nebenan. Als sie genauer hinhörte, ließen sich die jammernden Töne in Worte und Sätze zusammenfassen. „Ich bin so arm, alle Welt hasst mich!“, säuselte die Stimme.
Ja, tatsächlich, kein Zweifel. Valetta kniff sich kurz in den Unterarm, obwohl sie genau wusste, welcher Albtraum ihr bevorstand.
Es war ihre Ex-Freundin Tatjana. Sie kam aus Tirol, war 27 Jahre alt, und ein richtiges Drogenwrack. Voller Wucht wurde die WC-Türe geöffnet und Tatty stürmte aus der Toilette. Sie war ebenfalls zugezogen, und wohnte in Simmering. Ihre Haare waren feuerrot getönt, aber ausgewaschen, trotz des fettigen Ansatzes. Sie stank nach Schweiß und hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.
Aber trotz ihres verdatterten Innenlebens erkannte sie Valetta.
„Hallo, Valy!“, stammelte sie mit einem abgehobenen Lächeln.
Valy unterließ es zu antworten und stand schweigend da. Mit langsamen Schritten bewegte sie sich auf das Waschbecken zu und wusch sich die Hände. Sie versuchte, ihre Erschütterung zu verbergen. Wie hatte sie sich nur mit diesem Menschen auf eine Beziehung einlassen können? Tatjana war aggressiv, anhänglich und lebte immer in ihrer eigenen Welt, die sie mithilfe diverser Drogen wie Ecstasy oder Speed betreten konnte. Trotz des Deliriums, in dem sie sich auch an diesem Tag bewegte, bemerkte sie die kühle Ignoranz ihrer Ex-Freundin und schlang wie zum Trotz ihre Arme um deren Körper. Dann begann sie zu schluchzen. Valetta stieß sie von sich, weil sie von ihrer Gestalt und ihrem Gestank angewidert war. Mit einem heftigen Knall landete Tati der Länge nach auf den hellblauen Fliesen. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht.
Valetta drehte sich erschrocken zu ihr um und riss die Augen auf. „Entschuldige, das wollte ich nicht!“, versuchte sie sie schließlich zu beschwichtigen. Eine kleine Welle des Mitgefühls durchströmte ihr Bewusstsein. Valy kniete sich auf den Boden und versuchte vorsichtig, die Hände ihrer Ex-Freundin aus ihrem Gesicht zu wenden, während diese ihren Kummer still und leise ertrug.
Kurz bevor Valettas Hand Tatjanas Schutzbarriere berühren konnte, holte Tatti in Sekundenschnelle aus und wollte ihr einen heftigen Schlag auf die Nase verpassen.
Valettas Reflexe ließen sie jedoch in diesem Moment nicht im Stich, also wich sie geschickt aus, während Tatjanas Schlag unbeholfen in der Luft landete. Valy stand auf und blickte das Häuflein Elend am Boden mit herablassender Miene an, während sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte, eine Rechenschaft abwartend.
„Du hast mich verlassen, genau wie alle anderen auch“, hauchte Tatjana dumpf.
„Niemand liebt mich“, stieß sie anschließend mit wütender Stimme hervor, die der Ausgeburt der Hölle gleich klang. Auf welchen Trip sie sich wohl diesmal begeben hatte?, fragte sich Valetta ungerührt.
„Denke einmal darüber nach, warum du immer und immer wieder verlassen wirst!“, entgegnete sie kühl , ohne mit der Wimper zu zucken. Sie bemühte sich, Haltung zu wahren und verließ langsamen Schrittes den Vorraum des WCs. Ihr innerer Schockzustand drang nicht nach außen, sie war eine perfekte Schauspielerin. Dennoch wühlte sie die Tatsache auf, vor wenigen Minuten Casmilda in überzeugenden Tönen von lesbischen Beziehungen erzählt zu haben, und kurze Zeit später mit der Wahrheit einer verrückten, homosexuellen Frau konfrontiert zu werden, mit der sie früher ihre Gefühle geteilt hatte.
Sie atmete tief durch setzte sich wieder zu Casmy an den Tisch. Sie wollte diesen Vorfall einfach verdrängen und biss gedankenverloren in ihren Burger. Casmilda verspeiste genüsslich ihr Dessert, und bemerkte Valys Miene nicht. Wenige Minuten später wurde die Toilettentür gewaltsam aufgerissen, sodass alle Gäste ihre Aufmerksamkeit auf den Knall richteten, den sie hinterlassen hatte. Tatjana rannte schnurstracks nach draußen, nachdem sie Valy im Innenbereich des Restaurants nicht gefunden hatte.
„Valetta, du Schlampe! Wo bist du?“, schrie sie.
Sie gab der Eingangstür einen kräftigen Schubs und beschleunigte ihre Schritte, als sie Valetta draußen erblickte. An ihrem Tisch angekommen sagte sie beinahe seelenruhig: „Ist das deine Neue, du Flittchen?“ Ihr zynisches Lächeln trieb Valetta zur Weißglut, doch sie spielte ihre Rolle weiterhin gut, während sich in ihrem Inneren Aggressionen aufstauten, die sie nur schwer zu bändigen vermochte. Dennoch reagierte sie lässig, als sie erwiderte: „Geh' nachhause, Tatti, lass' uns zufrieden, oder ich rufe die Polizei und erzähle den Bullen von deinem köstlichen Cocktail.“
Casmilda war der Appetit vergangen. Sie wartete ungeduldig auf eine Analyse der Situation, während sie nervös an ihren Fingernägeln herumkaute.
„Wir sehen uns wieder!“, brachte Tatjana aufgebracht hervor, „spätestens, wenn du dich wieder einsam fühlst.“ Mit diesen letzten Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte in Richtung U-Bahn. Casmilda starrte ihr hinterher, verwundert über den wackligen Gang, den diese für sie eigenartige Emanze benützte, um sich fortzubewegen. Sie legte die Stirn in Falten.
„Wer ist diese niveaulose Person? Daniels Auftritt war dagegen harmlos!“, empörte sich Casmilda, ohne ihren Blick von Tatti abzuwenden. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder Valetta entgegenbrachte, da sie registrierte, keine Antwort von ihr erhalten zu haben, bemerkte sie die Tränen in deren Augen. Von Betroffenheit ergriffen richtete Casmy ihre Augenbrauen nach unten.
„Komm, wir gehen irgendwohin, wo wir ungestört miteinander reden können,“ versuchte sie, ihre Freundin zu beschwichtigen.
Sie packten ihre Sachen und suchten sich ein gemütliches Plätzchen auf einer Straßenbank, weit weg von all den neugierigen Schaulustigen, die sie bei Junk Food Mood beobachtet hatten, als Tatti ihre Worte zum Besten gegeben hatte. Casmilda wusste, dass Valetta in solch schwachen Momenten nicht in den Arm genommen werden wollte, also ließ sie sie in ihrer verschlossenen Haltung verharren. Wenige Minuten später ließ Valy ihren Tränen freien Lauf, während Casmilda ihre Neugierde nun vollkommen durch ein Gefühl der Empathie ersetzt hatte. Sie drückte ihr ein Taschentuch in die Hand. Nachdem sich Valy geschnäuzt hatte, atmete sie tief durch, biss wütend die Zähne zusammen und ließ wieder locker, um den Mund zu öffnen und Casmilda aufzuklären. In ihrem Bewusstsein wurde eine Erinnerung wachgerufen, die sie trotz aller Verdrängung in diesem Moment der Verwirrtheit und Zerrissenheit klar und deutlich aufrüttelte.
Langsam drehte sie ihr tränenbenetztes Gesicht Casmilda zu, die den Wink des Blickes verstand, ihre volle Aufmerksamkeit nun auf das Folgende zu konzentrieren.
Und dann erzählte Valy ihrer Freundin eine entsetzliche Wahrheit : „Ich war zwanzig, als es geschah. Der Typ drückte mich in der Toilette gegen die Wand, es war zwei Uhr morgens, in einer Diskothek in Vorarlberg. Er wollte in mich eindringen, hatte bereits seine Hose und Unterhose heruntergezogen.“ Bei dieser Erinnerung zuckte sie zusammen, sprach aber mit brüchiger Stimme weiter. „, Ich sagte ihm, er solle sich zum Teufel scheren und mich in Ruhe lassen, doch es schien ihm eine gewisse Genugtuung zu verleihen, dass ich unter meiner aggressiv gestimmten Aussage eine höllische Angst verstecken wollte, die ihm wohl nicht ganz entging.“ Nach einer kurzen Atempause fuhr sie unbeirrt fort, so als hätte sich das Ereignis erst vor kurzer Zeit zugetragen. „Mit lüsternem Lächeln gab er mir zu verstehen, ich solle mich fügen, denn es könnte mich sowieso keine Menschenseele hören, falls ich schrie, denn die Leute in der unmittelbaren Umgebung seien derart zugedröhnt, dass sie meine Laute als alles andere deuten würden, als das, was sie in Wahrheit wären. Dennoch schrie ich natürlich aus tiefer Kehle, als er mich mit einer Hand festhielt und mit der anderen meinen Hosenknopf öffnete. Gewaltsam zerriss er meinen Slip, während die Zahl meiner Herzschläge sich verdoppelte.“
Valetta verzog ihr Gesicht zu einem Ausdruck des Ekels und Zorns, als sie die Nase rümpfte und die Augenbrauen mit aller Kraft nach unten presste, um ihren Hass gegenüber ihrem Vergewaltiger auszudrücken.
„Ich werde niemals das pulsierende Zucken seines Penis vergessen, dessen Erregung des Trägers sich sichtlich steigerte, als er merkte, wie ängstlich und klein ich mich fühlte, als mir die Tränen die Wangen hinunterliefen und meine Aggression diesen Emotionen wich, oder sein widerwärtiges Lächeln, als er mit heftigen Bewegungen sein Geschäft verrichtete . Ich wich seinem Blick aus, so gut ich konnte, doch während er mit der einen Hand meine Taille fixierte, drückte er mein Gesicht mit der anderen in das Blickfeld seiner niederträchtig wirkenden Visage. Dieser Akt der Grausamkeit schien ewig anzudauern. Ich weiß nicht, wie lange er seine gewalttätigen Stöße gegen meinen Willen einsetzte. Ich weiß aber, dass er mich einfach auf dem kalten Fliesenboden liegen gelassen, nachdem er seinen Samen auf meinem Rock verteilt hatte, und mich anspuckte. Dann ging er.“ Valy sagte nichts mehr. Ihre leisen Tränen, die sich in große Sturzbäche der puren Verzweiflung auszudrücken schienen, sprachen Bände. Das laute Treiben der hektischen Menschen auf der Straße ging an den beiden jungen Frauen spurlos vorüber. Casmilda hatte ihrer Freundin gebannt zugehört, und wusste nicht, ob sie sie aufgrund dieser körperlich und seelisch grausamen Erfahrung in die Arme nehmen oder stillschweigend ihren Schmerz alleine ausweinen lassen sollte. Valettas emotionsgeladene Schilderungen ihrer Vergewaltigung lösten beklemmende Bilder in ihr aus, die ihre Augen weiteten, weil sie sich während ihrer Konzentration auf Valys Worte in ihre Lage versetzt hatte. Während des seelischen Beistandes musste sie sich jedoch emotional abgrenzen, um sich selbst zu schützen, da ihr diese Geschichte schier den Atem raubte.
Casmy lockerte ihre Arme, die sie fest um ihren Körper gepresst hatte, um ihrem inneren Selbstschutz Ausdruck zu verleihen. Sie wollte am liebsten auch weinen, verdrängte jedoch ihren eigenen Schmerz des Mitgefühls, um ihrer Freundin eine seelische Stütze zu sein, also schwieg sie, unsicher und verzweifelt, weil sie nicht wusste, wie sie Valy helfen konnte. Der Widerspruch zwischen ihrem Wunsch, sie seelisch zu stützen, und nicht zu wissen wie, war ihr dabei deutlich bewusst, wobei sie diese Tatsache noch ein wenig verzweifelter stimmte, doch sie tat ihr Bestes, um Ruhe zu bewahren. Valy wurde unterdessen langsam bewusst, warum Tatjana sie an ihren damaligen sexuellen Missbrauch erinnert hatte. Als sie ihre Ex-Freundin bei Junk-Food-Mood versehentlich zu Boden geworfen hatte, wurden jene Erinnerungen in ihr wachgerufen. Valetta tupfte sich mit dem Taschentuch das tränennasse Gesicht ab und wandte sich wieder an Casmilda, die eine Erleichterung verspürte, weil sie scheinbar das Richtige getan , und nichts unternommen hatte, um Valy zu trösten. „ Dieses Erlebnis legte den Grundstein meiner Homosexualität“, erklärte sie mit zittriger Stimme. „Die Menschen lassen sich ständig darüber aus, was für ihr seelisches Wohlbefinden gut bzw. förderlich ist – sei es die Beziehung zu einem Mann, oder zu einer Frau, aber ich gehöre zu den Personen, die nicht unbedingt das Gefühl in sich aufkommen lassen, eine Wahl zu haben. Mein Vertrauen zu Männern ist jedenfalls gebrochen, das weiß ich. Frauen sind für mich Wesen, denen ich mich körperlich und seelisch hingeben kann, weil sie niemals in der Lage sind, mich mit einem männlichen Glied in einem der eben genannten Punkte zu verletzen. Das mag sich vielleicht seltsam anhören, aber es ist meine persönliche Wahrheit. Ich habe Angst vor Männern.“ Beim letzten Satz verbarg Valetta ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schämte sich, diese Angst laut auszusprechen, obwohl ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern kennzeichnete.
Casmy versuchte, ihren Schock zu verbergen, der sich durch dicke Schweißperlen auf ihrer Stirn abzeichnete. Ihr fiel jedoch ebenso auf, wie viel Verständnis sie durch diesen Akt des Vertrauens ihrer Freundin gewonnen hatte.
Nun schien sich alles aufzuklären: Valettas Mangel an Geduld, ihr resolutes, kaltes Wesen, ihre Aggressionen. Casmilda überkam erneut eine Welle des tiefen Mitgefühls für Valy, und sie hatte ein weiteres Mal begriffen, wie wichtig es war, niemanden für das zu verurteilen, was sein Dasein ausmachte, solange die Hintergründe für sein Verhalten unbekannt waren. Sie hatte Valetta niemals verurteilt, aber sich oft über ihr Auftreten gewundert. Doch sie begriff, dass Hintergründe sich als diese benannten, weil sie nichts Sicht – oder Greifbares darstellten, das für die Außenwelt bestimmt war, sondern einen sehr persönlichen Teil eines Menschen verkörperten, der seine Präsenz im Verborgenen ausdrückte. Hintergründe beschrieben ein intimes Geheimnis, und manche Leuten wussten gar nicht Bescheid, welch intensiven Einfluss dieser Teil auf sie ausübte, Tag für Tag. Valetta kannte ihren Schmerz, und dennoch fühlte sie sich dadurch nicht besser.
Casmilda brachte ihren Rücken in eine gerade Lage, der während des Gespräches eine krumme Haltung der Traurigkeit angenommen hatte. Sie wollte mithilfe dieser Körperhaltung ihre Gedanken zum Fließen bringen, doch ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Nach langem Überlegen jedoch brach sie das Schweigen, das auch Valetta erreicht hatte. Sie wollte die Gesprächslücke füllen, da ihr die Stille nach einem Ausdruck solch heftiger Emotionen ein wenig Angst einjagte. Sie stellte Valy aufgrund ihrer Unbeholfenheit eine Frage, deren Insensibilität ihr in aller Deutlichkeit auffiel.
„Wie…, war es, ich meine, wie kamst du damit klar?“, fragte sie schließlich, und bereute ihre Worte, sobald sie sie ausgesprochen hatte.
„Wie bitte?“, entgegnete Valetta in schnippischem Ton. „Von Klarkommen kann doch nicht die Rede sein!“ Schließlich sah sie in Casmys Augen eine gewisse Hilflosigkeit, und versuchte, das Thema ein wenig lockerer zu betrachten, was ihr einerseits schwerfiel, andererseits die Stimmung, die zwischen ihnen herrschte, ein bisschen aufhellen sollte. „Mein Leben lang dachte ich, dass ich diese Existenz als Geschenk betrachten sollte, jetzt scheint es eher ein Gewinn durch Verlust zu sein!“ sagte sie in gespielt theatralischem Ton, und wippte ihre Hüften hin und her, um der dramatischen Situation ein wenig Komik zu verleihen.
„Philosophierst du jetzt?“, fragte eine verwirrte Casmilda, die sich eine Haarsträhne hinters Ohr schob.
„Nimm es, wie du es willst!“
Gewinn durch Verlust - diese Worte faszinierten Casmy. Erneut entstand eine Gesprächspause, und für Casmilda eine gewisse Weile, die sie wieder einmal zum Nachdenken nutzte. Wenn sie Valettas Worte richtig interpretierte, bedeutete es, die Sichtweise eines Geschenkes in der eigenen Wahrnehmung zu verändern. Da kam ihr ein Geisterblitz.
„Oh, ich habe gerade eine interessante Eingebung“, rief Casmilda laut aus, und hob ihren rechten Zeigefinger geradewegs zum Himmel gestreckt, „du willst also damit sagen, dass das Leben für dich ein Geschenk war, und du einige Dinge verlieren musstest, um dieses Geschenk erneut als Gewinn betrachten zu können!“
„Richtig!“, entgegnete Valetta in beinahe gleichgültigem Ton, weil dieses Detail für sie als selbstverständlich galt. „Um genau zu sein bin ich noch immer damit beschäftigt, dieses Phänomen zu verstehen. Ich war bereits in einer Psychotherapie, die mich wieder ein Stück weiter zu mir selbst gebracht hat, und dennoch erarbeitete ich mir mit dieser Philosophie sehr viele neue Einstellungen, die ich heute gut in mein Leben integriert habe, ganz unabhängig von den therapeutischen Sitzungen. Aber ich will jetzt nicht mehr darüber sprechen. Ich kann dir nur eines sagen“ - bei diesen Worten stand sie auf, legte sich ihre Tasche leger über die rechte Schulter, und blickte Casmilda durchdringend an - „ wenn du etwas in deinem Leben verändern möchtest, musst du genau die inneren Überzeugungen loslassen, sozusagen, verlieren, die dafür sorgen, dass du an einem gewohnten, meist lähmenden Verhaltensmuster festhältst. Dieser befreiende Akt wirkt jedoch vorerst wie eine innere Katastrophe und Leere, weil kein Halt anwesend ist, an den du dich klammern kannst.“
Valy bemühte sich um einen autoritären, belehrenden Tonfall, merkte aber bei den letzten Worten, wie brüchig sich ihre eigene Stimme anhörte. Sie hielt kurz inne, holte tief Luft, und sprach weiter: „Aus diesem Verlust jedoch entstehen neue Ideen und Konzepte für dein Leben, somit lohnt es sich, zu verlieren, denn der Gewinn ist darin enthalten.“
Casmilda lächelte zufrieden, als sie diese Worte vernahm. Ein Anflug schlechten Gewissens durchfuhr sie, und sie legte besorgt eine Hand auf ihre rechte Wange. Sollte sie jetzt nicht eigentlich bestürzt und besorgt um ihre Freundin sein, die ihr gerade ihr Herz ausgeschüttet hatte? Nichtsdestotrotz verstand sie, wie wenig hilfreich ein solch schlechtes Gewissen war, es half weder ihr selbst noch Valetta. Sie wusste, sie konnte diese Lebensweisheit gut gebrauchen, sie schien wie ein Rezept gegen gewisse psychische Leiden zu fungieren.
Wie aus dem Nichts erschien plötzlich ein Schmetterling und setzte sich auf Casmildas Nase. Sie musste heftig niesen. „Ich gewann eine Berührung, und befreite mich dadurch von Viren, und diesen Verlust kann ich positiv für mich verbuchen, da ich diese Krankheitserreger sowieso nicht mehr brauche!“, rief sie wie von Sinnen, als sie freudig in die Hände klatschte und zufrieden grinste, bevor Valy „Gesundheit“ sagen konnte.
„Hör’ jetzt bitte auf mit deinen Philosophien, ich habe diesen sexuellen Missbrauch als demütigend empfunden, daher wirkt die Theorie des ,Gewinnes durch Verlust' im Zusammenhang mit einem Schmetterling nicht unbedingt sehr einfühlsam!“ Valetta hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und blickte ein wenig verärgert auf Casmy hinab, die bei diesen Worten ihre Arme verschränkte, und den Kopf senkte, während sie immer noch auf der Bank saß.
„Entschuldige, du hast recht!“, erwiderte Casmilda. Doch innerlich freute sie sich weiterhin über ihre neu gewonnene theoretische Erkenntnis. Valetta hingegen fühlte, wie das Durcheinander ihrer Emotionen sich auf ihrer Stirn in Form von dicken Schweißperlen ausdrückte, die von der lauen Märzsonne vergrößert wurden. Sie wusste, wie schwierig es war, in der Gesellschaft weiterhin gut zu funktionieren, und diverse Rollen zu spielen, die das Leben ihr abverlangte, da die Vergewaltigung Tag für Tag schwer auf ihrer Seele lastete, heute nicht mehr derart grausam wie früher, aber ein Restschmerz war ihr geblieben.
In ihrer Vorstellung konnte überall jemand lauern, der ihr selbiges noch einmal antat. Sie hatte die Möglichkeit, diesen Gedanken ins Unterbewusstsein zu verdrängen, aber sie vermochte es nicht, diese Angst vollkommen auszulöschen. Trotz ihrer Lebenserkenntnis des Gewinnes durch Verlust fiel es ihr äußerst schwer, die alten Wunden loszulassen, bzw. daraus neue, bereichernde Erkenntnisse zu erzielen. Oft fühlte sich ihre Theorie speziell auf ihre eigene Situation bezogen ziemlich makaber und widersprüchlich an. Dennoch empfand sie ein wenig gönnerhaftes Wohlwollen unter ihrer harten Schale, da sie Casmilda eine neue Information mit auf den Weg gegeben hatte, die sie offensichtlich begeisterte. Somit war dieses Gespräch äußerst produktiv verlaufen, Casmilda hatte etwas dazugelernt und Valetta fühlte sich ein bisschen besser. Sie hatte Casmilda ein intimes Geheimnis anvertraut, über das außer ihrer Therapeutin bisher niemand Bescheid gewusst hatte. Und sie bereute es nicht, Casmy eingeweiht zu haben. Nun hatte sie eine zweite Ansprechpartnerin, mit der sie über ihre Ängste, die noch lange nicht überwunden waren, sprechen konnte. Außerdem empfand sie eine gewisse Erleichterung, von Casmilda nicht gefragt worden zu sein, ob sie die Polizei verständigt hätte, um den Vergewaltiger aufzuspüren und festnehmen zu lassen. Dass er sich wenige Tage später nach seinem gewaltsamen Akt erhängt hatte, brauchte sie nicht zu wissen, und Valetta wollte nicht darüber sprechen – zu viele Erinnerungen an Grausamkeiten konnte sie in diesem Moment nicht gebrauchen. Sie merkte ohnehin, wie rücksichtslos ihr die Realität der Erinnerung an den sexuellen Missbrauch ihre Kraft zu rauben schien, und erlaubte sich, in ihrem Kopf einen Ohrwurm entstehen zu lassen, der sie ablenken sollte. Manchmal störte es sie immens, dass gewisse Songs in ihr Bewusstsein drangen, aber es geschah meistens dann, wenn sie einen tief sitzenden Schmerz verdrängen wollte, so wie jetzt in diesem Moment. Doch die Lieder trugen Botschaften, die ihr Unterbewusstsein mit der aktuellen Situation verglich. Valys Gedanken wählten „Let it be“ von den Beatles, der Situation nach zu urteilen war das kein Zufall. Ab und zu schien es Valetta, als könnte sie ihre Gedanken und Gefühle nicht kontrollieren, ebenso wie die Ohrwürmer, die einfach aus dem Nichts in ihrem Bewusstsein aufflackerten.
Um 15 Uhr verdunkelten sich langsam die Wolken, und es begann zu regnen und zu donnern. Valetta wurde von kühlen Regentropfen aus ihrer Illusion der beruhigenden Beatles-Melodie gerissen, als auch Casmilda sich schließlich von der Bank erhob und beschloss, das Gedankenspiel über ihre neue Lebensphilosophie zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Valetta fluchte, weil sie sich über derartige Witterungsverhältnisse prinzipiell ärgerte, und sie in ihrer emotional immer noch aufgewühlten Situation das Gefühl hatte, im wahrsten und auch symbolischen Sinne ein begossener Pudel zu sein. Casmy hingegen empfand Gewitter als etwas Interessantes, ja, sie liebte sie, weil sie ihres Erachtens nach zeigten, dass auch die Natur einen Charakter besaß, den diese auslebte. Behände schnappte sie sich ihre Handtasche, nahm Valy intuitiv bei der Hand, was sie noch niemals getan hatte, und so liefen sie gemeinsam zur U-Bahn, bereits ein wenig durchnässt.
Die geplante, gemütliche Shopping – Tour fiel damit ins Wasser, man konnte es nicht treffender ausdrücken. Angesichts des aufwühlenden Gesprächs der letzten halben Stunde war es für Beide jedoch ohnehin das Beste, ruhige Gefilde aufzusuchen. Casmilda wollte für Valy da sein. Langsam und bedächtig stiegen sie die Stufen hinunter, die zur U-Bahn führten. Valetta bemühte sich um einen entwaffnenden Witz, als sie sich auf die Wartebank bei den Gleisen niederließen: „Na, Frau Haargenau, wo ist denn nun Ihr batteriebetriebener Fön und Ihre Rundbürste, um Ihre zerzauste Frisur in Ordnung zu bringen?“ Casmilda lachte laut auf, und warf den Kopf in den Nacken, doch ihr Lachen galt mehr der Freude, die sie empfand, weil Valy zumindest versuchte, für ein bisschen heitere Stimmung zu sorgen. Valetta lächelte kurz zurück. Casmy versuchte es zu verbergen, aber das Gespräch von vorhin wühlte sie immer noch sehr auf. Obwohl sie sich zwischenzeitlich abgegrenzt hatte, spürte sie in diesem Moment eine nachhaltige Wirkung der tiefen Besorgnis um Valetta in ihrem Herzen. Außerdem nahm sie sich für ihr eigenes Leben fest vor, Männer in Zukunft sehr genau zu beobachten und kennenzulernen, bevor sie mit ihnen den sexuellen Akt praktizierte. Als sie sich mit diesen Gedanken des Selbstschutzes auseinandersetzte, ließen langsam auch die roten Flecken auf der Stirn nach, die sich aufgrund ihrer emotionalen Befindlichkeit gebildet hatten. Trotz aller gut gemeinten Empathie, die sie für ihr Gegenüber aufgebracht hatte, musste sie sich eingestehen, dieses Abebben der Flecken der Konzentration auf ihre eigenen Bedürfnisse zuschreiben zu müssen.
„Wie geht es dir ?“, fragte Valetta, als sie auf die U-Bahn warteten. „Bei aller Aufmerksamkeit, die ich von dir gefordert habe, fielen mir die roten Flecken auf deiner Stirn kaum auf, aber jetzt sind sie beinahe verschwunden.“
„Mach' dir um mich keine Sorgen, mir geht es gut, und vor allen Dingen gut genug, um für dich da zu sein. Danke für dein Vertrauen, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben“, sagte Casmilda lächelnd, während sie ihrer Freundin mit einem wohlgemeinten Augenzwinkern sanft eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Das ist nett von dir“, erwiderte Valy kurz und blickte mit starren Augen in die andere Richtung. Casmy wusste jedoch, wie sehr sie sich über diese kleine Geste des Zusammenhalts freute, dies jedoch nach außen hin nicht zeigen wollte.
Die U-Bahn rollte eine Minute später in der Station ein. Die jungen Damen wählten einen Platz in der Mitte des Waggons, wobei Casmilda ihre Überraschung kaum zu verbergen wusste, als Valy sich direkt neben sie setzte. Ein wenig verwirrt hob Casmy daher die Augenbrauen, als Valy sie verzweifelt ansah und kaum hörbar flüsterte: „ Ich brauche jetzt Nähe, und kann mir denken, wie seltsam dieser Wunsch wohl auf dich wirken muss, da ich in typischen Situationen ein kühles, abweisendes Verhalten an den Tag lege, aber glaube mir, das hier ist keine typische Situation.“ Ihr kühler Blick ruhte traurig auf Casmildas Augen, die am liebsten den Kopf geschüttelt hätte, um sich selbst innerlich aufzuwecken und daran zu erinnern, wie deutlich sich die Verhaltensweise ihrer Freundin von ihren sonstigen unterschied, bis ihr einfiel, dass Valy dieses Kopfschütteln vielleicht als Zurückweisung empfinden würde. Einfühlsam erwiderte Casmy den Blick ihres Gegenübers. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen. Schließlich öffnete Casmilda diese intuitiv ein wenig. Valetta tat es ihr gleich, als sie mit heftiger Wucht das Angebot der Geborgenheit entgegennahm, und sich einfach fallen ließ. Casmy beruhigte ihren Schrecken über das Ausmaß des festen Druckes, das sich in Valys haltsuchenden Fingern, die sich in Casmildas Fleisch der Oberarme gruben, ausdrückte, mit dem Gedanken, Valy würde den Druck verringern, sobald sie merkte, dass ihr Gegenüber sie nicht verletzte, so wie damals ihr sexueller Peiniger, sondern ihr einfach nur bedingungslosen Trost spenden. Wenige Augenblicke später lockerte Valetta tatsächlich ihre Finger. Casmy spürte die heißen Tränen an ihrem Hals, doch sie wischte sie nicht hinfort, sondern hielt vertraulich die Stellung, die ihrer Freundin nun gut tat. Casmy drückte sie fest zu sich und strich ihr über den Kopf, tröstete sie mit beschwichtigenden Worten, darauf bedacht, die neugierigen und missbilligenden Blicke der anderen Fahrgäste zu ignorieren. Auch für sie bedeutete es ein gewisses Maß an Überwindung, so viel Kraft für ihre Freundin aufzuwenden, da sie eine solch immense Forderung der Geborgenheit von Valetta ausgehend noch nie zuvor erlebt hatte. Und es überraschte sie immer noch ein wenig, dass Valys ach so harte Schale einen weichen Kern in sich trug.
Es hatte aufgehört zu regnen, und den Rest des Nachmittags blitzten ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen vom Himmel herab, die die jungen Damen dazu einluden, die Restwärme des Tages bei einer Tasse Kakao im JWH auf der Terrasse zu genießen. Sie saßen einander auf einer großen, hölzernen Bank gegenüber. Casmilda begann zu träumen, als sie die rote Rosenhecke erblickte, die sich aus dem nahe gelegenen Garten des Nachbargrundstückes erstreckte. Marco würde mich niemals zum Sex zwingen, dachte sie bei sich.
„Manchmal trieb mich dieses Schwein zu den grausamsten Selbstmordfantasien!“
Valettas laute Stimme der Entrüstung riss Casmilda aus ihren Gedanken, die sie mit einem Kopfschütteln hinwegfegte, um Valy erneut ihr Ohr zu leihen. Doch sie wollte und konnte sich mit diesem Kapitel aus dem Leben ihrer Freundin nicht mehr auseinandersetzen, weil es ihre innerste Substanz auslaugte. Also wechselte sie das Thema.
„Darf ich dich noch etwas fragen?“
„Ja, okay“, brachte Valetta mit runzelnder Stirn und aggressiver Stimme hervor.
„Wer ist diese komische Rothaarige bei Junk Food Mood gewesen?“
Valetta verschränkte entschieden die Arme vor ihrer Brust und verdrehte die Augen bei der Erinnerung an die Person, die sie als primitiv und asozial empfand, und dennoch ihre Ex-Freundin verkörperte.
„Ach so, die meinst du, dieses Drogenwrack. Sie heißt Tatjana, wir waren kurz zusammen, das ist aber schon ein halbes Jahr her. In ihrem Delirium redet sie ständig von irgendwelchem Kauderwelsch, den sie wohl nicht einmal selbst versteht. Wer drogenabhängig ist, kann sich aus seiner Sucht nur schwer befreien. In der Zeit, als wir eine Beziehung führten, habe ich auch ab und zu ein paar Pillen eingeworfen. Aber ich bin froh, diese Phase hinter mich gebracht zu haben.“
„Du meinst, die ,Tatjana-Phase'?“, witzelte Casmilda und grinste.
„Ja genau, wenn du so willst!“
Sie lachten. Dann wurde Valetta wieder ernst.
„Es ist wirklich schlimm, was passiert ist, aber ich muss damit leben, Tag für Tag. Doch die Frage, ob ich aus tiefster Überzeugung an Frauen interessiert bin, kann ich mir nicht beantworten. Ich lernte Tatti kennen, als ich kurz nach der Vergewaltigung neue Wege für mich finden wollte, die mich leider zu der abtrünnigen Persönlichkeit führten, die sie darstellt. Sie ist ein schlechter Umgang für mich. Aber jetzt empfinde ich nichts mehr für sie, außer vielleicht ein wenig Ekel und trotz ihrem provokanten Charakter und Auftreten ein Quäntchen Mitleid.“
Casmilda nickte stumm. Der Themenwechsel schien keine goldenen Früchte zu tragen, sodass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Also zündete sie sich mit flinken Handbewegungen eine Zigarette an, um zumindest irgendetwas zu tun, das ihr ein bisschen Sicherheit vermittelte.