Читать книгу Casmilda's Gewinn durch Verlust - Gery Wolfsjäger - Страница 8

Kapitel 5 Frau liebt Frau

Оглавление

An einem kalten Apriltag stand Valetta vor ihrem Fenster und beobachtete den Regen. Die dicken Tropfen fielen laut hörbar auf die Straßen, die Dächer, schienen sogar ihr Herz zu berühren. Das Radio gab Musik von sich, die einen klar unterstreichenden Hintergrund zum Wetter und ihrer emotionalen Lage darstellte.

Sie hatte an diesem Dienstag ihren freien Tag und war am gestrigen Abend in einer Lesben- Diskothek namens Women’s Secret gewesen, und erst um vier Uhr morgens mit dem Taxi nachhause gefahren .Sie dachte an Casmy, während sie ihre Aufmerksamkeit nicht vom Regen abwenden konnte . Und sie musste sich eingestehen, dass ihr gemeinsames sexuelles Ereignis die platonischen Gefühle zu ihr verändert hatte. Sie war verliebt. Valy blickte kurz gen Himmel, um in den dunklen Wolken eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sie ihr dies schonend beibringen könnte. Darüber hinaus hoffte sie verzweifelt auf eine Erwiderung ihrer Gefühle. Dieses innere Chaos hatte sie dazu veranlasst, sich seit dem letzten Treffen bei Casmy nicht mehr zu melden. Auch diese wahrte die Distanz zwischen ihnen. Jene Haltung konnte Valy ihrer Freundin jedoch nicht verübeln, nachdem sie sie das letzte Mal mit solch scharfen Worten der Aggression konfrontiert hatte. Sie möge sich bloß nicht einbilden, aus diesem Techtelmechtel würde sich eine Liebesbeziehung entwickeln, hatte sie ihr zugeraunt, doch sie spürte ironischerweise in diesem Moment bereits ihre eigenen herzenswarmen Gefühle für Casmilda aufkeimen.

Ihre Freundinnen Sharna und Mel‘, 2 gebürtige Engländerinnen, die seit geraumer Zeit ein Liebespaar waren, hatten ihr im Woman's Secret geholfen, ihren Frust bezüglich Casmy in Wodka Orange oder Bacardi Cola zu ertränken. Inwiefern dieser Zug hilfreich war, sei dahingestellt, dachte Valetta im Nachhinein bitter. Sie setzte sich auf ihr Bett und raufte sich die Haare, während sie den Kater ihres Alkoholkonsums wahrnahm und versuchte, die Erinnerungsstücke des Vorabends zusammenzuflicken.

Sie hatte sich mit Sharna und Mel um 23 Uhr in der Bar verabredet und ihnen nach dem Ritual der Begrüßungsküsschen bei einigen Drinks ihr Herz ausgeschüttet. Sie saßen an einem Ecktisch. Als sie von der Freundschaft zwischen ihr und Casmy sowie dem sexuellen Erlebnis berichtet hatte, machte sie eine Atempause, wobei sie bemerkte, dass ihr Herzschlag in die Höhe geschnellt war und der Alkohol seine Wirkung tat.

„Du solltest ihr wirklich sagen, was du für sie feelst!“, hatte Sharna angemerkt, die es witzig fand, die englische mit der deutschen Sprache zu mischen. Mehr fiel ihr dazu vorerst nicht ein.

Valy geduldete sich und blickte abwartend in das lächelnde Gesicht ihrer Freundin, weil sie glaubte, noch ein paar Ratschläge zu erhalten. Nachdem sich diese Erwartung als Zeitverschwendung herausstellte, ergriff sie selbst wieder das Wort. „Und wie wird sie darauf wohl reagieren?“, fragte sie verärgert und zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe Angst, dass sie sich nach diesem Geständnis von mir abwenden wird. Warum habe ich mich eigentlich so plötzlich von einem Tag auf den anderen in sie verliebt, kann mir das bitte jemand sagen? Wie kann ein sexueller Akt die Gefühle eines Menschen nur derart verändern? Ich verstehe mich selbst nicht mehr,“ meinte Valy, und klopfte fest mit der Faust auf den Tisch. Sie zündete sich eine Zigarette an, leerte ihr Getränk in einem Zug und bestellte ein neues. Wieder verhielten sich Sharna und Mel äußerst wortkarg. Valys Wut über die Situation, in die sie sich selbst gebracht hatte, trug nicht unbedingt zu deren Kommunikationsbereitschaft bei. Sharna und Mel nippten an ihren Drinks und beobachteten die hübschen Exemplare der weiblichen Gattung an der Bar. Somit erhob Valetta die Stimme, um die Aufmerksamkeit der beiden erneut auf sich zu ziehen. Und es funktionierte.

„Hört mir bitte einen Moment lang aufmerksam zu. Seitdem ich mit Casmilda geschlafen habe, sind meine Gefühle für sie viel intensiver als vor dem sexuellen Akt. Bin ich vielleicht oberflächlich und nur in ihren Körper verliebt? Nein, das kann nicht sein, es scheint mir eher so, als würde ich sie nun viel besser kennen.“ Ihr Blick wanderte fragend zu ihren Freundinnen, die jedoch nur mit großen Augen ihre gänzliche Aufmerksamkeit ausdrückten. „Wir haben schon so vieles miteinander geteilt, was unseren emotionalen und geistigen Ausdruck anbelangt, und uns nun auch sexuell ausgetauscht“, fuhr sie fort. Selbstzufrieden mit dieser Analyse ihrer Gefühle stand sie auf und stemmte die Hände in die Hüften. Durch ihre Selbstsicherheit, die ihr der Alkohol und das Wissen über ihre Empfindungen vermittelten, wurde ihr erneut die Eindeutigkeit der Konzentration ihrer Freundinnen auf Valys Worte bewusst. Überrascht blickten sie sie an, erwartungsvoll, so als wollten sie wissen, was als nächstes käme. Valetta genoss sichtlich ihren Mittelpunkt, was sich in ihrer glatten Stirnpartie ausdrückte, die normalerweise des Öfteren in Falten gelegt war, und sagte: “Als wir uns leidenschaftlich unserer Ekstase hingaben, erlebten wir auch intensive Augenblicke der Zärtlichkeit, und ihr wisst ja, wie wichtig ich prinzipiell eine gewisse Grobheit und Dominanz bei meinen sexuellen Akten definiere. Umso überraschender empfand ich das plötzliche Interesse meinerseits, ihr meine sanfte Seite zu zeigen, die ich selbst noch nicht sonderlich genau kenne.“ Sie hielt inne und dämpfte ihre Zigarette aus. Dann sprach sie weiter: „Mir erscheint unser gemeinsamer Sex wie eine Vervollkommnung unserer platonischen Liebe, die sich dadurch in Richtung Partnerschaft bewegt. Aber wenn sie das anders, sich diesem eventuellen Geständnis nicht gewachsen sieht, wird sie mich möglicherweise ablehnen, vielleicht sogar den Kontakt zu mir generell meiden wollen, und das wäre sehr traurig.“

Sie setzte sich wieder, um Sharna und Mel nicht ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln, die während ihres Gespräches die ganze Zeit sitzen geblieben waren. Schließlich meldete sich Mel zu Wort. „Wie steht es eigentlich um ihre Gefühle zu ihrem Arbeitskollegen, von dem du uns neulich erzählt hast? Sie scheint nicht genau zu wissen, was sie will“, bemerkte sie mit ernster, und leicht abfälliger Miene. „Einerseits schwärmt sie für Marco, andererseits genießt sie den Sex mit dir und sorgt damit für vergebliche Hoffnungen in deinem Herzen. Gut, sie konnte ja nicht wissen, was die Konsequenz dieser Liebelei sein würde. Vielleicht hat sie es einfach nur aus Neugierde getan“, beendete sie ihren Kommentar, und lehnte sich gemütlich in ihrem Sessel zurück, so als hätten diese Worte ihren Sprachwerkzeugen eine enorme Anstrengung abverlangt. Valetta verdrehte genervt die Augen, weil sie den Aspekt, ein Objekt der Neugierde für Casmilda zu sein, nicht so gerne in Anbetracht ziehen wollte. Bei der Vorstellung, Marco und Casmilda könnten sich zu einem glücklichen Liebespaar vereinen, nahm sie einen weiteren großen Schluck ihres hochprozentigen Gesöffs, wobei sie darauf achten musste, mit ihren wutentbrannten Fingern das dünnwandige Glas nicht zu zerdrücken. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Dann kam ihr ein Geistesblitz.

„Wisst ihr, ich glaube, das Beste ist, wenn ich ihr einfach klar und deutlich sage, was ich für sie empfinde, deinem Ratschlag folgend, Sharna“, erwiderte sie. „ Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin. Habt ihr schon einmal daran gedacht, dass sie vielleicht auch in mich verliebt sein könnte? Vielleicht hat sie sich nicht mehr bei mir gemeldet, weil ihr gerade klar wird, was sie für mich empfindet, und diese Neuartigkeit ihrer Gefühle erschreckt sie ein wenig. Sie ist außerdem nicht der Typ Mensch, der sich einfach nur aus Neugierde einem sexuellen Akt hingibt. So gut glaube ich sie zu kennen“, sagte sie mit Nachdruck.

„Ich empfinde ihr gegenüber eine tiefe Zuneigung“, fügte sie hinzu. Dabei lächelte sie verträumt und nahm einen großen Schluck Bacardi Cola, um ihre Glückshormone um ein weiteres anzuregen, da sie die Vorstellung der Verliebtheit und auch deren Erwiderung in euphorische Sphären verleitete.

Sharna und Mel blickten einander verdattert an. Was hatte Valetta gerade gesagt? Hatte sie über Gefühle gesprochen? Die drei Frauen kannten einander bereits zwei Jahre, jedoch hatte Valy das Wort Gefühle oder Empfindungen noch nie zuvor im Zusammenhang mit einem verträumten Augenaufschlag oder sanften Lächeln erwähnt, wenn sie über ihre Beziehungen sprach. Sie meinte es scheinbar wirklich ernst. Sharna und Mel warfen einander ein wissendes Augenzwinkern zu. Falls Casmy und Valy tatsächlich ein Paar würden, müssten sie sich warm anziehen, da Valetta bis jetzt gegenüber ihren Partnerinnen meist heftige Aggressionen empfand, weil sie mit wahren, aufrichtigen Gefühlen nicht gut umgehen konnte. Die aufrichtigen Empfindungen für Casmy würden dementsprechend wahre Vulkane der Wut in ihr auslösen. Ihre beiden englischen Freundinnen waren in solchen Fällen immer diejenigen gewesen, die Valettas heftige Gefühlsausbrüche beruhigen sollten. Doch solange das Beziehungsglück ihrer Freundin bestärkt würde, sollten sie sich nicht allzu viele Sorgen machen. Sie meinten, Valetta würde als Partnerin in gewisser Weise sehr gute Beziehungsqualitäten aufweisen, wenn man ihre raue Art außer Acht ließ. Sie war hübsch mit ihren blauen großen Augen und den naturblonden Haaren, dem schlanken Körper, sowie den vollen Brüsten. Außerdem sorgte ihre direkte Art in der Kommunikation für Klarheit. Sharna und Mel pflegten des Öfteren oberflächliche Konversation mit lesbischen Frauen, daher wussten sie auch um deren typische, sich selbst bestätigende Klischees Bescheid, die sich anhand eines Kurzhaarschnitts, typisch männlichen Gesten sowie einer verstellten, tiefen Stimme darstellten. Valetta dagegen wirkte wie eine klassifizierte, natürliche Frau, da ihre betont feminine Gangart, bei der ihre sexy Hüften geschmeidig hin - und herwippten, sowie ihre langen Wimpern und der sinnliche Mund sich als klares Zeichen reiner Weiblichkeit ausdrückten, die sie in keinster Weise zu kaschieren versuchte. Einzig und allein ihr zwischenzeitlich aggressives Verhalten könnte manch böse Zunge dazu verleiten, ihr Verhalten als das einer dominanten, typischen Lesbierin einzustufen. Sharna und Mel wussten jedoch genau, wie wichtig es war, äußeres Auftreten nicht unbedingt mit einer sexuellen Ausrichtung in einen Topf zu werfen.

Nach ihrem vierten Glas Wodka Orange blickte Valetta mit einer Mischung aus Verzweiflung und Verwirrtheit zu ihren beiden Freundinnen hinüber. Scheinbar fehlt ihr der Mut für das Geständnis, das sie Casmy überbringen möchte, dachte Mel und streckte den Arm aus, um ihn Valy auf die Schulter zu legen. Da zupfte sie Sharna am Ärmel ihres knielangen Kleides, um ihr zu verstehen zu geben, Valetta nun bestenfalls in Ruhe zu lassen. Schließlich erinnerte sich Mel an eine Situation, in der sie Valetta tatsächlich ihren Arm um die Schulter gelegt hatte, um sie zu trösten. Die Reaktion ihres Gegenübers darauf zeigte sich in einem eisigen Blick, danach schob Valy Mel grob zur Seite und sagte kein Wort. Diese Erinnerung und die Wirkung des Alkohols motivierten Mel dazu, sich folgende Bemerkung zu erlauben: „Ich und Sharna wissen genau, dass du jetzt nicht angefasst und getröstet werden willst, obwohl es dir offensichtlich nicht gut geht. Wir wollen dich dazu auch nicht zwingen. Aber soweit ich von deinem Gespräch mitbekommen habe, ist diese Casmy ein sehr sensibler Mensch. Wenn eure Beziehung tatsächlich emotionale Tiefen erreichen sollte, möchte sie bestimmt körperliche, zärtliche Nähe mit dir erleben, hast du schon einmal darüber nachgedacht?“ Mit besserwisserischem Gesichtsausdruck lächelte sie Valetta an. Dieser fehlten die Worte.

„Abgesehen davon“, fuhr nun Sharna fort „hat sie dich während eures Sexualaktes ebenfalls gestreichelt. Was ist also so schlimm daran, wenn du dich generell ein wenig mehr deiner Sanftheit hingibst, in platonischen wie auch in sexuellen Angelegenheiten? Ich glaube, tief in deinem Inneren wünschst du dir doch einen zärtlichen Umgang mit deinen Mitmenschen, nicht wahr? Oder hat Casmy noch niemals deine Tränen gesehen, um dich daraufhin zu trösten?“ Valetta verspürte Zorn in sich aufsteigen, als sie diese Worte vernahm. Sie erinnerte sich an die Situation, als sie Casmilda von ihrer Vergewaltigung erzählt hatte, und danach in ihrem Arm gelegen und sich ausgeweint hatte. Doch davon wussten Sharna und Mel nichts. Sie wussten auch nichts von der Vergewaltigung an sich. Dabei wollte sie es auch bleiben lassen.

Valettas Augen vergrößerten sich, ihre Mundwinkel zuckten. „Was soll das?“, schrie sie hemmungslos in Mels Richtung. „Verschone mich gefälligst mit deinem Helfersyndrom. Wie du schon gesagt hast, Mel, man kann mich nicht zum Körperkontakt zwingen. Es geht euch übrigens beide nichts an, ob Casmy mich in den Armen hielt oder halten möchte, aus welchen Beweggründen auch immer. Falls ihr jedoch die Vermutung habt, es sei so, und deshalb eifersüchtig seid, weil ihr noch nie das Privileg hattet, mich körperlich zu trösten, so ist das euer Problem.“ Die drei erhaschten einige erschrockene Blicke der Kellner sowie der umliegenden Gäste. „Schon gut, schon gut“, erwiderte Sharna lässig und gefasst, weil sie mit solch einem Ausbruch gerechnet hatte, „sei es drum.“ Mit diesen Worten stießen sie an. Valy leerte ihr Glas erneut in einem Zug. Trotz ihrer Trunkenheit hatten die beiden Engländerinnen bemerkt, dass Valetta sich verraten hatte, als sie sagte, es ginge Sharna und Mel nichts an, ob Valys Kopf bereits auf Casmys Schulter geruht hatte. Wenigstens hatten sie jetzt eine ungefähre Gewissheit - Valetta hatte sich Casmilda gegenüber scheinbar bereits in großem Vertrauen geöffnet. Valys aggressive Abwehr bei diesem Thema sprach Bände. Somit vergaßen sie ihre Sorgen über die Harmonie der vermeintlichen Liebesbeziehung ihrer Freundin zu Casmy, die scheinbar an körperlichem und geistigem Vertrauen keine Mängel aufwies. Der restliche Abend verlief friedlich. Die drei Freundinnen tanzten vergnügt im Diskobereich und beschränkten sich auf Smalltalk und Witze.

Nun saß Valetta in ihrer kleinen Wohnung, die ihr Selbst widerspiegelte : sie fühlte sich klein. Sie strich sich durch das blonde Haar. Es fühlte sich angenehm weich an, doch diesen Gedanken schob sie sofort wieder beiseite, sie wollte jetzt nichts Weiches oder Kuscheliges auf ihrer Haut spüren. Dieses kurze Ritual der Nervosität erinnerte sie nur an ihr schönes Abenteuer mit Casmilda, was ihr in der Seele wehtat.

Was war zwischen ihr und Casmy geschehen?, fragte sie sich zum zigsten Mal. Weise Menschen sagten, man solle mit seinen Freunden keine sexuellen Gelüste austauschen, da diese Praktik die Freundschaft im Keim ersticke. Valetta konnte sich ungefähr denken, was dieser Ratschlag bezweckte. Der Sex stellte den Status zwischen den beiden platonisch Liebenden infrage. Sexuelle Erregung war keine Entschuldigung dafür, ihn dennoch auszuüben. Doch dieser Ratschlag half ihr nun auch nicht weiter. Ich hätte mich lieber selbst befriedigen sollen, anstatt mit meiner Freundin zu schlafen, dachte sie frustriert . Sie wusste allerdings zu Beginn nicht, wie intensiv dieser Akt von Vertraulichkeit und Intimität geprägt sein und ihre gierigen Gelüste in den Hintergrund drängen würde.

Der Abend im Woman's Secret hatte ein Nachspiel. Valetta fühlte sich fiebrig. Sie konnte jedoch getrost der Arbeit fernbleiben, da sie in diesem und auch im vorigen Jahr keinen einzigen Tag gefehlt hatte, außer, sie war im Urlaub gewesen. An ihre Türe hatte Valy ein selbst gemachtes Schild gehängt, auf dem in großen Lettern „Bitte nicht stören!“ stand. Sie vermisste Casmilda zwar, an die das Schild indirekt gerichtet war, wollte aber erst wieder Kontakt mit ihr aufnehmen, wenn sie sich sicher war, welche Worte sie wählen würde, um ihr ihre Gefühle zu verdeutlichen. Sie stand auf und ging ins Bad. Ihr Spiegelbild zeigte ihr eine blasse, verzweifelte Frau. Sie fragte sich in diesem Moment, ob ihre blonden Haare sich wirklich mit ihrem inneren Befinden vereinbaren ließen. Sie hielt ihre Naturhaarfarbe für aufgesetzt und künstlich, auch, wenn sich dieser Gedanke teilweise wie ein Widerspruch anfühlte, da ihre Haarfarbe von Natur aus blond war. Doch ihre Einstellung ließ sich in ihrem Äußeren nicht mit blondem Haar vereinbaren, nicht mit heller euphorischer Stimmung oder reinem Gewissen, das sie mit dieser Nuance in Verbindung brachte. Ihr kam ein Geistesblitz, den sie schnell wieder verwarf. Sie schüttelte den Kopf, wollte das Badezimmer verlassen, als er sich erneut in ihr Bewusstsein bohrte. Sie hielt inne, den Rücken bereits zum Spiegel gewandt. Langsam drehte sie sich um und starrte in das klare Glas, ging ein paar Schritte vorwärts, bis ihre Nasenspitze die Platte berührte. Sie stellte sich die Frau im Spiegel mit pechschwarzen Haaren vor, die ihren Typ niemals optisch beleben, sondern eher verdecken würden. Damit hätte sie den Vorteil, ihre inneren Gefühle im Außen ausdrücken zu können. Sie würde sich selbst daran erinnern, dass ihre helle Natur von einem Schleier der Traurigkeit und des Zorns verdeckt wurde, und sich erst wieder erlauben, die Haare blond zu tragen, wenn diese Phase vorüber war. Valy zog ihren Kopf zurück und wiegte ihn zweifelnd hin und her, von links nach rechts, von rechts nach links. Ihr war bewusst, wie sehr dieser Plan mit einer Selbstbestrafung einherging, die ihr erst wieder Harmonie gestattete, wenn sie ihre Verzweiflung bezüglich der Vergewaltigung sowie die Aufruhr bezüglich der Beziehung zu Casmilda verarbeitet hatte. In ihrer emotionalen Verwirrung gefangen dachte sie nicht daran, wie schwierig es war, schwarz gefärbte Haare aufzuhellen, falls sie ihre Entscheidung bereuen sollte. Doch was würde ihr Chef zu ihrer Typveränderung sagen? Er liebte Valetta als die attraktive Blondine, die sie war, und mit deren Charme sie die Gäste in ihren Bann zog, wobei dieser Charme nicht nur mit inneren Werten zu tun hatte. Ohne sich diese Frage zu beantworten, zog sie ihre Schuhe an, schnappte ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Drogerie Feistenberg, um sich eine schwarze Haarfarbe zu besorgen. Bei der Vorstellung, ihre Haare tatsächlich derart dunkel zu colorieren, überkam sie ein gewisser Selbsthass. Als sie sich jedoch an die Zeiten erinnerte, in denen sie sich körperliche Verletzungen zuführte, wenn sie sich selbst ablehnte, erschien ihr diese Variante als harmlos. Casmilda würde zwar schimpfen, weil diese Farben viele haarschädigende Metallsalze enthielten, Friseurfarben seien viel pflegender, sagte sie immer. Doch das war Valetta egal, als sie wenige Minuten später an der Kasse stand. Als sie das Geld aus ihrer kleinen Börse fischte, wurde ihr zum ersten Mal vollkommen bewusst, was sie vorhatte: sie wollte sich selbst verunstalten, weil sie keine blonde Unschuld mehr ausstrahlte. Sie hatte ihre platonische Beziehung zu Casmilda gefährdet. Das war der Hauptgrund für ihr Vorhaben. Diese selbstauferlegte Strafe sollte ihr eine Lehre sein: wer blond sein wollte, musste auch die innere Unschuld dafür aufweisen.

Zuhause angekommen las sie sich die Gebrauchsanweisung durch. Davor hatte sie das hübsche Mädchen auf der Packung bemerkt: eine schlanke Gestalt, etwa 26 Jahre alt mit kantigen Wangen, schmalen Lippen und einem frechen Kurzhaarschnitt. Dieses Mädchen wirkte so freudig, so natürlich. Es ist egal, welche Haarfarbe ich trage, dachte sie, inspiriert durch das Bild auf der Verpackung, ich brauche innere Freude. Doch dieser Gedanke brachte sie nicht davon ab, sich der Typveränderung zu unterziehen.

Ein Hautverträglichkeitstest? Nein, dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Die Durchführung des Tests dauerte laut Anweisung immerhin 48 Stunden. Schnurstracks ging sie ins Badezimmer, um ein altes Handtuch aus dem Kasten zu kramen, um wenige Minuten später fündig zu werden.

Sie legte es sich um die Schultern, drückte dann den Inhalt der Cremetube in die Flasche mit der weißen, dicklichen Flüssigkeit und schüttelte kräftig, als ihr erneut ein Gedanke kam: ich laufe mit dieser bequemen Aktion der Tatsache davon, Casmilda die Wahrheit über meine Gefühle sagen zu wollen, ohne zu wissen, ob ich unsere Freundschaft tatsächlich gefährdet habe, dachte sie, während sie wütend die Plastikflasche mit der Farbe darin fest drückte. Doch diese erneute Wut gegen sich selbst, weil sie ihre Angst vor dem Geständnis nicht leiden konnte, bestärkte sie noch einmal mehr, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, da sie mit der Farbe schwarz sehr viele „dunkle“ Emotionen verband: Wut, Hass, Trauer, Schmerz, und so weiter. Diese heftigen Ausdrücke ihres inneren Befindens kannte sie nur allzu gut. Also, warum soll ich mein Inneres nicht im Außen tragen?, fragte sie sich erneut, und beschloss nun definitiv, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Sie hatte mit dem Haarefärben keinerlei Erfahrung, somit würde sie sich damit abfinden müssen, dieses Erlebnis als einen Versuch zu definieren, bei dem das Ergebnis eventuell unliebsame Überraschungen bereithielt. Doch sie ging das Risiko ein. Wie in der Gebrauchsanweisung beschrieben drückte sie ein wenig auf die Plastikflasche, um sich langsam mit der Konsistenz der Haarfarbe vertraut zu machen.

Die Masse war dünnflüssig, somit tropfte Valetta ein wenig davon auf ihre weiße Hose . Sie wusste jedoch, wie sie diesen Fleck mit Danclorix wieder entfernen konnte.

Als sie dann aber aus unvorsichtigen Gründen der Handhabung einen Spritzer im Auge abbekam, wurde sie wütend, und ließ einen lauten Schrei vernehmen. Sie dachte darüber nach, die Behandlung abzubrechen, weil sie mit der Ungeduld kämpfte, besann sich dann aber und wusch sich die Augen mit klarem Wasser aus .Dann verteilte sie weiterhin die Farbe in ihrer noch blonden Wuschelmähne.

Als sie sich mehr und mehr auf ihr Werk konzentrierte, fielen ihr Casmildas Worte über „Gewinn durch Verlust“ ein. Obwohl Valy diese Aussage als philosophisch abtat, und sie Philosophie hasste, weil sie ihrer Meinung nach so realitätsfern war, wollte sie sie jetzt definieren.

Gewinn durch Verlust, dachte sie, ich gewinne durch den Abschied meiner blonden Haare eine Typveränderung, die kaum zu übersehen sein wird. Sie brach in schallendes, ironisches Gelächter aus. Was für ein Gewinn, binnen einer halben Stunde würde sie eine rabenschwarze Haarpracht ihr eigen nennen!

Von einer Sekunde auf die andere wurde sie ruhig. Sie arbeitete weiter an ihrer Behandlung, verspürte dabei jedoch eher einen gewissen Ernst anstelle des ironischen Humors. Was sich vor wenigen Momenten noch wie ein Witz anfühlte, schien eine tiefgründige Wahrheit zu offenbaren. Welchen Gewinn erreiche ich gerade durch welchen Verlust?, fragte sie sich, und kratzte mit einem behandschuhten Finger ihren Hinterkopf, da die Farbe zu jucken begann. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, als ihr die Antwort dazu einfiel, an der sie nicht unbedingt Gefallen fand. Durch den Verlust ihrer hellen Haarfarbe konnte sie nur die Erkenntnis gewinnen, einen fatalen Fehler zu begehen, den sie vor wenigen Momenten noch als Lappalie abgetan hatte. Was würde sich ändern, wenn sie ihre Haare schwarz trug? All ihre inneren Einstellungen würden bleiben, wie sie waren. Zwar konnte sie sich künftig anhand ihrer dunklen Mähne daran erinnern, wie wichtig es für sie war, ihr Gefühlsleben in Einklang zu bringen, eine symbolische Helligkeit im Innen wie im Außen anzustreben, andererseits bestand auch die Möglichkeit, sich die Haare nur deshalb zu färben, um von der Lehre, die sie zu bewältigen hatte, abzulenken. „Es liegt nun an mir“, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild, „entweder, ich halte mich an meinen Vorsatz, mein Leben zu behelligen, oder ich habe mir diese unnatürliche Farbe umsonst zugelegt.“ Wenn sie die Colorationscreme in diesem Moment abgespült hätte, wären Flecken in ihrem Haar die Folge gewesen, außerdem wollte sie grundsätzlich eine Sache beenden, sobald sie mit ihrer Durchführung begonnen hatte. Verunsichert blickte Valetta in den Spiegel, als sie merkte, wie dunkel das Ergebnis bereits nach zehn Minuten aussah. Dann fasste sie wieder Mut . Sie drückte eine große Portion der Farbcreme in ihre linke Hand, und massierte sie einfach in ihr Haar ein. Diesen Vorgang wiederholte sie, bis alle Haare bedeckt waren. Mit einem grobzinkigen Kamm verteilte sie das Produkt gleichmäßig und reinigte ihre Haut mir einem Watte-Pad, den sie zuvor mit Essig getränkt, sowie mit Zigarettenasche bestäubt hatte, um Farbränder auf der Haut zu entfernen. Diese Tricks hatte ihr Casmy beigebracht. Während der 30 Minuten Einwirkzeit löste sie eine Kopfschmerztablette in Wasser auf und trank in gierigen Schlucken, um ihre Migräne zu beruhigen. Ich werde aussehen wie der lebendige Tod, dachte sie, als sie sich eine Zigarette anzündete. Fühle ich mich denn nicht auch manchmal so?, sinnierte sie weiter. Die klare Antwort auf diese Frage schockierte Valetta nicht mehr, sie war ihr nicht unbekannt. So oft es ihre psychische Stabilität erlaubte, ging sie in Gedanken zu der schrecklichen Erinnerung ihrer Vergewaltigung zurück. Diesen Tipp hatte ihr eine Therapeutin gegeben. „Ich verstehe, was Sie meinen, wenn Sie sagen, sie fühlen sich nicht mehr richtig lebendig, seitdem Ihnen dieser Gewaltakt widerfahren ist“, hatte Frau Mag. Bogschlew zu ihr gesagt. „Aber Sie müssen diesen Schmerz in Ihrer Erinnerung an das Geschehene zulassen. Ansonsten verdrängen Sie ihn, und er wird Herr über die Sichtweise ihrer Außenwelt. Dieses Stück Leben, in dem sich der Missbrauch abspielte, war für Sie erschütternd. Tasten Sie sich dennoch Schritt für Schritt an den Schmerz heran. Er ist ein Teil von Ihnen, leben Sie ihn aus, ohne ihre Außenwelt für ihn verantwortlich zu machen.“

Sie blickte auf die Uhr: noch fünfzehn Minuten, dann würde sie die Farbe abwaschen können. Sie wollte die letzten Minuten nutzen, um ihre Meditation durchzuführen. Mit langsamen, ängstlichen Schritten bewegte sie sich auf ihr Bett zu. „Ruhig, ruhig, es wird nur eine Erinnerung sein“, flüsterte sie sich leise zu, wobei sie mit ihren Worten die Tränen nicht aufhalten konnte, die ihr die Wangen hinunterliefen. Sie nahm ein Taschentuch und schnäuzte sich. Es hatte keinen Sinn, in der Vergangenheit zu schwelgen. Dennoch erschien es ihr in diesem heftigen Moment des Schocks, der ihr den Schweiß auf die Stirn trieb, angenehm und beruhigend, sich an die junge Frau zu erinnern, die sie vor dem sexuellen Missbrauch war. Valy begab sich mit schweren Gliedern auf ihr Bett, den Kopf mit der dunklen Farbe auf ein altes Handtuch stützend, und schloss die Augen. Sie entsann sich ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem selbstlosen Wesen anderen gegenüber, ihrem blonden, langen Haar, das ihr bis über die Schultern reichte. Sie sah ein Bild der Vollkommenheit, dachte an die vielen Abende mit ihren tiefgründig gesinnten Freundinnen, mit denen sie Pech und Schwefel überstand und jederzeit ein offenes Ohr für sie hatte; harmonisches Geben und Nehmen unter jungen Damen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das von innen kam. Doch dann zerplatzte ihre Imagination wie eine Seifenblase. Sie sah sich selbst in der Toilette, den Mann mit dem grässlichen Mundgeruch über ihr. „Es ist vorbei, du bist nur eine Illusion!“, rief sie ihm zu, und bemerkte in ihrem Tagtraum, wie ihr Herz zu schlagen begann und die Bildung der Schweißperlen erneut einsetzte. „Ich bin nicht echt?“, raunte die grässliche Stimme des Mannes in ihrer Erinnerung. „Deine Angst ist jedenfalls real, darauf kannst du Gift nehmen, Süße. Und jetzt zieh' dich aus!“ Valetta riss die Augen auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie für einen Moment eingedöst war und geträumt hatte, oder ob sie in der Meditation unbewusst ihrer eigenen Angst die Gestalt und Stimme des Mannes gegeben hatte. Sie wollte es auch gar nicht mehr wissen. Sie atmete tief durch und ließ die Tränen zu. Es hätte jetzt keinen Sinn, sie zu trocknen. Doch wann würde sie aufhören zu weinen? Wann würde sie den Schmerz verarbeitet haben? Frau Mag. Bogschlew sagte, das sei abhängig davon, wie oft sie ihre meditativen Übungen machte. Es gab in ihrem psychologischen Repertoire jedoch nicht nur die Übung der Erinnerung an schreckliche Erlebnisse, sondern auch die Meditation von Kraftbildern. Vor drei Jahren hatte sich das schreckliche Ereignis zugetragen. Valetta war bei der Arbeit mit sich selbst ein kleines Stück weitergekommen, aber es sollte wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis sie verkraftet hatte, was geschehen war. „Nur Geduld“, sprach sie sich selbst Mut zu und ging ins Badezimmer. Die Einwirkzeit war vorüber.

Sie brauchte jetzt im wahrsten Sinne des Wortes einen kühlen Kopf, somit ließ sie eiskaltes Wasser über ihr Haupt laufen. Sie empfand den Strahl angenehm und beruhigend. Gab es auch für ihren inneren Rebell Ruhe und Frieden? Seit der Vergewaltigung ließ sie kaum jemanden an sich heran, rebellierte gegen ziemlich jeden Menschen, der ihre Meinung nicht teilte. Ich brauche Sicherheit, dachte sie bei sich. Sicherheit würde bedeuten, zu akzeptieren, dass es Kritik für sie gäbe, die es anzunehmen statt abzuwehren galt, oder ruhig und geduldig zu bleiben, wenn ihr jemand widersprach. Traurig und demütig empfand sie die Tatsache, froh und dankbar sein zu müssen, Freunde wie Sharna, Mel und vor allen Dingen Casmy an ihrer Seite zu haben. Wie kommen diese nur mit meinem aggressivem Umgangston zurecht?, wollte sie wissen. Sie hatte einen guten Kern in sich, den ihre Freundinnen aufgrund deren Neutralität klar sehen konnten, Valetta jedoch blieb diese Sichtweise verborgen.

Sie verteilte ein wenig Shampoo auf ihrem Haar, auch wenn diese Information nicht in der Gebrauchsanweisung enthalten war, aber sie wollte den intensiven Geruchs des Ammoniaks loswerden. Danach trug sie die die beiliegende Kurpackung auf das handtuchtrockene Haar auf, ließ sie kurz einwirken und spülte sie wieder aus. Sie betrachtete sich im Spiegel. Valetta empfand keine Reue oder Angst vor den Reaktionen ihrer Mitmenschen auf die radikale Veränderung, sondern eher eine innere, selbst auferlegte Disziplin. Für einen Moment lang blickte sie konzentriert auf ihre Handgelenke. Die Narben ihrer Schnitte würden sie immer an die seelischen Wunden erinnern, die ihr angetan worden waren. Doch sie schob den Gedanken beiseite, die schwarzen Haare mit den Narben zu vergleichen, da die Haarfarbe keine Selbstverstümmelung für sie darstellen sollte. „Mit diesem Look erinnere ich mich von nun an tagtäglich, dass ich eine tiefe Verzweiflung in mir trage, die es mehr und mehr aufzuarbeiten gilt“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und lächelte. „Dass mir die Farbe nicht steht, war mit ohnehin von Anfang an klar.“ Mit dieser Einstellung empfand sie ihren neuen Look als ziemlich tragbar, wenn man die optische Vertuschung ihrer schönen blauen Augen aufgrund der Schwärze außer Acht ließ. Die Hände in die Hüften gestemmt betrachtete sie sich neugierig. Nun hatte sie also doch die Möglichkeit, einen Gewinn durch Verlust geschehen zu lassen, indem sie sich mithilfe der schwarzhaarigen Symbolik von ihrer dunklen Vergangenheit mehr und mehr verabschiedete, und daraus neues Leben in ihrem Inneren entstehen ließ.

Ihr Magen knurrte, als sie beim Verlassen des Badezimmers die Kochnische mit ihren Augen streifte. Frische Zutaten hatte sie nicht im Haus. Ein Fertiggericht sollte es auch tun, also stellte sie einen Topf mit Wasser zu, und streute den Inhalt einer Instant-Packung „Nudeln in Brokkoli - Knoblauchsauce“ hinein, sobald dieses zu kochen begonnen hatte. Das sind Casmys Lieblingsnudeln, dachte sie verträumt. Normalerweise teilte sie die Portion immer mit ihr. Aber nun war sie nicht hier. Auch, wenn sie nicht zur Arbeit gegangen wäre, was die pflichtbewusste Friseuse natürlich aus Gewohnheit unterließ, wäre es keine gute Idee gewesen, an ihre Tür zu klopfen, solange Valetta nicht wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht bildete sich Valy ihre Verliebtheit nur ein. Es konnte sich genauso um eine Schwärmerei handeln, weil sie die Erinnerung an den Sexualakt sehr genoss. Als sie langsam mit einem Holzlöffel im Topf zu rühren begann, stellte sie sich Casmy erneut vor.

Sie dachte an ihre wunderschönen Schenkel. Dann diese glattrasierte Vagina, die Art, wie sie mit gekonnten Bewegungen ihren Körper zur Geltung brachte. Der Geschmack ihrer Zunge, dieser endlos langen, erregenden Zunge. Sie dachte an ihr aubergine getöntes Haar, wie es sich um ihre prallen Brüste geschmiegt hatte. Valy hatte eigentlich ein Faible für kurzhaarige Frauen, aber bei Casmy machte sie eine Ausnahme. Sie war der weibliche Typ, für den Valetta all ihre Aggressionen fallen ließ, zumindest wirkte es so, als sie sich mehr und mehr den Gedanken an ihr sexuelles Abenteuer hingab. Sie brauchte jetzt keine dominante Lesbierin mehr, die ihr die Herausforderung ihres Lebens bot, geschweige denn Dominanz oder Kampfgeist. Was sie für eine erfülltes Leben benötigte, war Ruhe. Das Gleich – und Gleich gesellt sich gern – Prinzip hatte sie in homosexuellen Beziehungen bereits erlebt. Momentan jedoch fühlte sie sich offen für das natürliche Gesetz von Gegensätze ziehen sich an . Sie würde dabei viel von Casmy lernen können, ihre gesamte Sturheit ablegen und sich dessen ruhiger, und doch temperamentvollen Art widmen. Im Gegenzug würde sie sie lehren, belastende Dinge, die schon lange mit sich herumgetragen wurden, herauszuschreien, falls sie diese Lehre benötigte. Ein wahres Geben und Nehmen. Valetta schüttelte den Kopf. „Genug geträumt“, sagte sie in tadelndem Ton zu sich selbst, als sie die Nudeln auf einem Teller drapierte. Sie konnte heißes Essen nicht ausstehen, und wartete ungeduldig mit auf dem Platz tretenden Fuß auf die Abkühlung. Schließlich platzierte sie ein Handtuch auf ihrem Kopf und begann zu essen. Doch die Erinnerung an Casmy und deren sexuelle Hingabe hielten sie davon ab. Dabei wehrte sie sich mit aller Kraft gegen diese Bilder in ihrem Kopf, um zu verhindern, sehnsüchtige Gefühle aufkommen zu lassen. Es erschien ihr außerdem so, als würde eine Mahnung aus ihrer Kindheit seine Fühler nach ihr ausstrecken: der Reiz des Verbotenen war das Endergebnis dieser Mahnung. Alle Dinge, die sie nicht tun durfte, hatten einen gewissen Reiz, sie doch zu tun. Und nun verbot sie als Erwachsene ihrem eigenen inneren Kind, von Casmilda zu träumen, mit wenig Erfolg.

Mit einem Mal verließ sie der Appetit, weil sie sich nicht auf das Hier und Jetzt konzentrieren konnte. Casmys Körper begleitete sie in ihren Gedanken auch, als sie die Nudeln mit ein wenig Ketchup krönte, um den Geschmack zu verbessern, in der Hoffnung, einen Grund zu haben, mit vollkommenem Gusto zu essen. Sie schmeckte kaum einen Unterschied, versah ihre Nudeln noch mit ein wenig Sauce Hollandaise aus der Packung, aber die gewünschte Veränderung für den Gaumen blieb aus. Den Gedanken, ein wenig Staubzucker zu verwenden, verwarf sie wieder. „Nein, ich bin nicht schwanger“, sagte sie mit einem Lächeln zu sich selbst und bemühte sich, Bissen für Bissen hinunterzuwürgen.

Nach diesem seltsam gewürzten Essen verspürte sie Magenschmerzen, was sie nicht überraschte.

Im fiebrigen Zustand sollte sie allerdings auch auf ihren Körper hören, anstatt ihre Aufmerksamkeit auf Tagträumereien zu lenken, die sie seltsame Speisen zu sich nehmen ließen, und sich lieber auf die Genesung ihrer restalkoholischen Disharmonie konzentrieren. Um sich von den Magenschmerzen zu erholen, die starken Brechreiz in ihr auslösten, begab sie sich mit eiligen Schritten zur Toilette und steckte sich den Finger in den Hals. Sie würgte und würgte, bis die gesamte bunte Kreation ihres Mittagessens in der Toilette schwamm, die sie schnell hinfort spülte. Sie putzte sich die Zähne und verwendete Mundwasser. Einem Gefühl der Schläfrigkeit nachgebend gähnte sie laut, wenige Minuten später legte sie sich in ihr Bett, fühlte ihre schweren Beine. Erschöpft von ihrem Brechreiz atmete sie langsam ein und aus. Nun gab sie sich den Tagträumen von Casmilda vollkommen hin. Vielleicht würde sie ja im Schlaf ebenfalls von ihr träumen, wenn sie nun langsam einnickte. Sie drehte sich auf die Seite, den Kopf in Richtung der Wand gerichtet, winkelte die Beine an, um die Embryostellung einzunehmen, die sie zum Schlafen immer bevorzugte, als sie fühlte, wie ihre Augenlider schwerer und schwerer wurden. Gerade, als sie sich in ihrem Körper fallen lassen wollte, erschreckte sie ein Gedanke, der sich als beängstigendes Gefühl in ihrer Herzgegend ausbreitete :sie verurteilte sich selbst als oberflächlich. Warum empfinde ich diese starken Gefühle für Casmilda erst seit unserem gemeinsamen sexuellen Akt? Natürlich konnte die Theorie stimmen, dieser Akt sei die Vervollkommnung ihres platonischen Verständnisses gewesen. Vielleicht aber täuschte sie sich auch. Dies würde sie wissen, wenn ihr Bestreben in nächster Zeit darin lag, mehr und mehr sexuellen Austausch mit ihrer Freundin erleben zu wollen. Andererseits fand sie diesen Wunsch nicht sonderlich verwerflich, weil sie wusste, nicht von einer sexuellen Sucht ergriffen worden zu sein. Dennoch überwog das schlechte Gewissen gegenüber dem vermeintlichen Vorhaben, Casmilda – wenn auch unabsichtlich - auf ein Objekt der Begierde zu degradieren. Das Gespräch über diese eventuelle Oberflächlichkeit mit Sharna und Mel hatte sie am Vortag auch nicht sonderlich weitergebracht. Vielleicht hätte sie aber mehr Kritik erfahren, wenn sie konkret danach gefragt hätte. Valetta massierte ihre Schläfen und drehte ihren Körper Richtung Zimmerdecke. All ihre Spekulationen erschienen ihr bei dieser kurzen Entspannung wiederum als überflüssig. Sie musste mit Casmy über ihre Gefühle sprechen. Andernfalls würde sie niemals herausfinden, was diese über den gemeinsamen sexuellen Akt dachte, ob sie sich eine Beziehung mit ihr vorstellen könnte, oder ob sie diesen Sexualakt jemals wieder praktizieren wollen würde, und wenn ja, war das Warum eine entscheidende Frage. Sie konnte jedoch eine Sache für sich selbst beschließen: sie wollte Casmilda als platonische Freundin nicht verlieren, und würde sie ihre intensiven Gefühle nicht erwidern, würde sie die Tiefe ihrer platonischen Freundschaft weiterhin als das akzeptieren, was sie war: ein wertvolles Geschenk überwältigenden Vertrauens, ohne Sex. „Du kannst niemanden verlieren, den du niemals besessen hast“, meldete sich eine innere Stimme in ihrem Kopf. Valetta nickte, um diese Erkenntnis zu bestätigen. Also hing es von der beiderseitigen Freiwilligkeit der jungen Frauen ab, inwiefern sich die Beziehung zueinander aufgrund ihres Sexualaktes veränderte.

Ihr wurde langsam bewusst, dass ihre aufgeregten Gedanken keine Ruhe finden würden, als sie sich nervös in ihrem Bett hin und her wälzte, also kapitulierte sie und verzichtete auf den Schlaf, der ihr sicherlich gut getan hätte. Von Neugierde ergriffen stellte sie sich noch einmal ins Badezimmer und betrachtete sich einen Moment lang, das Handtuch fest um ihre Haare geschlungen. „Spieglein, Spieglein an der Wand, ist mein Haar zurecht galant?“, witzelte sie mit breitem Lächeln, als sie das Handtuch abnahm. „Galant ist euer Busen hier, schwarz wie die Nacht das Hauptquartier!“ Bei der „Antwort“ des Spiegels hatte Valy die Stimme verstellt und einen tiefen Ton gewählt. Jetzt inspizierte sie die Farbe genau. Trotz allem Humor, inspiriert von Schneewittchen oder sonstigen Fantasievorstellungen, musste sie zugeben, ihren natürlichen Typ in den Schatten gestellt zu haben. Und dieser Schatten drückte sich wortwörtlich auf ihrem Kopf aus. Valetta schlug die Hände vors Gesicht und bereute ihr Werk, als sie die Augen aufriss und immer noch nicht glauben konnte, wie kontrastreich die dunkle Mähne zu ihrer Haut und den Augen wirkte. Dennoch hatte sie sich schnell wieder gefangen, weil sie keine Reue zulassen wollte. Es wäre gelogen gewesen, zu behaupten, die Färbung könnte nicht rückgängig gemacht werden, aber sie wusste von Casmilda , wie schwierig sich diese Prozedur darstellte. Also versuchte sie sich, damit abzufinden und erinnerte sich gleichzeitig an ihr Vorhaben, den Gewinn durch Verlust auszuleben.

Einige Stunden später kamen Casmilda und Conny von der Arbeit nachhause. Casmy sah das Schild und grübelte darüber nach, was es wohl zu bedeuten hatte. Auch für sie war es nicht einfach, ihre liebe Freundin Valetta seit zwei Wochen nicht mehr gesehen zu haben. Cornelia wohnte einen Häuserblock weiter und hatte ein richtiges Problem mit Lesbismus. Im Allgemeinen konnte sie der Homosexualität nichts abgewinnen, sondern verabscheute sie. Ihre Mutter und ihr Vater hatten ihr eingebläut, Menschen, die die Form der gleichgeschlechtlichen Liebe auslebten seien des Teufels Sünder. Conny hatte diesen Glauben übernommen, ohne ihn großartig zu hinterfragen. Eines Tages hatte Cornelia Casmilda von dieser Überzeugung erzählt. Aber diese konnte solch lächerlichen Einstellungen nichts abgewinnen, und lachte nur.

Sie klopfte um halb 8 Uhr abends fest an Valettas Tür, weil sie das „Bitte nicht stören“-Schild irritierte, außerdem musste einer von den beiden das Schweigen brechen. Hätte sie der Sex mit Valetta nicht so durcheinandergebracht, wäre sie schon viel früher auf sie zugegangen. „Lass' mich in Ruhe, ich bin krank, tut mir leid!“, ertönte Valys heißere Stimme von drinnen. Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, es ging ihr körperlich wieder ein wenig besser, doch Casmys Klopfen erinnerte sie daran, ein sich selbst auferlegtes Liebesgeständnis ablegen zu wollen, was Valetta nervös und verlegen machte. Aber Casmilda ließ sich nicht abwimmeln. Valy verhielt sich in ihren Augen ziemlich seltsam.

Also versuchte sie es erneut: „Lass’ mich bitte rein, Süße!“

Da vernahm sie laute Schritte innerhalb der Wohnung. Plötzlich sprang die Tür auf. Casmilda wich erschrocken einen Schritt zurück, als sie mitten im Satz innehielt. Valetta wirkte ziemlich wütend, als sie die Türe nur einen Spalt offen hielt und ihre zornigen Augen, sowie ein Teil ihres schwarzen Haarschopfes hervorlugten. Casmilda rieb sich die Augen, um glauben zu können, was sie da sah. Valy hatte tatsächlich schwarzes Haar. Um sie nicht noch mehr zu verärgern, ersparte sie sich den Kommentar, Valetta würde wie eine Leiche aussehen. Diese bedeutete der Besucherin, hereinzukommen und knallte die Tür hinter ihnen zu. Als sie sich gesetzt hatten, schrie Valy Casmy ins Gesicht: „Pass’ auf, wen du hier Süße nennst, wir sind kein Paar!“ Dabei fuchtelte sie mit starr ausgestrecktem Zeigefinger vor Casmildas Gesicht herum, die erschrocken ihren Kopf einzog. Ihre Blicke funkelten böse, ihr Mund war zu einer schmalen Linie verzogen, und die schwarze Mähne unterstrich die Dominanz ihrer Worte. Verwirrt saß Casmilda da, und starrte Valetta in die Augen. Sie schwieg einfach, und schob sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Als sie sie früher Süße genannt hatte, war das vollkommen in Ordnung gewesen. Aber „früher“ bezeichnete die Zeitspanne vor dem sexuellen Ereignis der beiden jungen Frauen. Sollte ein Zusammenhang bestehen? Schließlich schob sie ihre Nervosität beiseite, weil sie ihrem Erachten nach keinen Grund hatte, aufgeregt zu sein, nur weil Valy schlecht gelaunt war. „Was soll das Schild an der Tür ?“, fragte Casmy in ein wenig gereizt.

„Ich bin krank, das kannst du glauben oder auch nicht.“ Casmilda entschied sich für die Fifty-Fifty-Variante, weil Valetta abgesehen von ihrer heißeren Stimme keine Krankheitsanzeichen aufzuweisen schien. Aber Casmy war keine Ärztin . „Gut, dann hole ich dir mal einen Fiebermesser und lasse dich danach wieder alleine.“ Valetta reagierte mit einem leisen “gut, mach' das!“, sagte jedoch ansonsten kein Wort.

Casmilda erhob sich seufzend mit schüttelndem Kopf, holte das Thermometer aus ihrer Wohnung und gab es Valy. Diese bedankte sich nur mit einem stummen Nicken. Der Messpegel zeigte 39,2 Grad, und Casmy wollte ihre Freundin nicht länger stören. Offensichtlich wollte Valetta nur ihre kurierende Ruhe haben, und mit niemandem sprechen. Welche Laus ihr über die Leber gelaufen war, konnte die Friseuse beim besten Willen nicht erahnen. Valetta hatte ihre speziellen Tage, an denen sie in ihrer Freizeit absolut keinen Kontakt zur Außenwelt pflegen wollte , egal ob sie Fieber hatte oder nicht. Nach einer Ruhepause würde sie sich schon bei Casmilda melden. Obwohl sie versuchte, die Situation hinzunehmen, wie sie beschaffen war, weil sie wusste, dass gewisse Dinge Akzeptanz verdienten, auch wenn ihr Verständnis hierfür ausblieb, fügte sie in verärgertem Ton hinzu: „Wir haben uns zwei Wochen lang nicht gesehen. Ich bin schon sehr gespannt, wie du mir erklären wirst, warum du mich nach diesen 14 Tagen bei einem Wiedersehen derart hartherzig entgegenkommst. Und erzähle mir bitte nicht, es lege an deiner erhöhten Temperatur“, sagte Casmy und verdrehte genervt die Augen. Valetta schwieg und hielt die Arme um ihren Körper geschlungen. Sie erwiderte Casmildas starren Blick nicht, als sie sie zur Rede stellte. Casmy nahm ihre Handtasche und ging schnellen Schrittes zur Tür, die sie wütend mit voller Wucht zuknallte. Als sie den Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnung steckte, kam es ihr so vor, als würde sie aus Valys Wohnung klagende Geräusche wahrnehmen. Doch das war vollkommen unmöglich. Valetta schluchzte prinzipiell nicht in höchsten Tönen, und abgesehen davon sehr selten. Deswegen hatte es sie umso mehr überrascht, als sie vor kurzem Valys Kopf an ihrer Schulter bettete, und sie sich ausweinte. Nur das darauffolgende Sexspiel hatte sie verdrängt. Leise schlich sie vor die Tür ihrer Freundin zurück und lauschte aufmerksam.

Casmildas Gehör war vollkommen in Ordnung. Valetta weinte, doch das Geräusch ließ annehmen, dass die Tränen in ihre Kissen tropften, weil ihr Schluchzen einen verhaltenen Unterton mitschwingen ließ. Hilflos wandte sich Casmy ab und ging in ihre Wohnung.

Valy versank in Selbstmitleid und Selbstvorwürfen, als sie sich ihren Tränen hingab. Casmilda hatte keinen Ton zu Valys neuer Haarfarbe gesagt. War ihr das Leben ihrer Freundin egal? Was war los? Wenigstens irgendeinen Kommentar hätte sie abgeben können. Und sie hatte ursprünglich vorgehabt, Casmy ihre Gefühle zu offenbaren. Andererseits waren Casmilda nicht viele Möglichkeiten offen geblieben, irgendetwas zu sagen, weil Valy sie mit ihrer aggressiven Art zurückgewiesen hatte. Und das nur aus Angst, Casmilda könnte ihre Gefühle nicht erwidern. Es tat ihr nun von Herzen leid. Casmy konnte davon nichts wissen. Sie würde glauben, Valy hätte, wie sonst auch, ihre typischen Wutanfälle, die dann wieder vorübergingen. Aber jeder Anfall hatte seinen Grund. Die Frage ihrer beiden englischen Freundinnen tauchte erneut als Erinnerung in ihrem Bewusstsein auf: „Wie reagierst du, wenn sie dich des Öfteren umarmen möchte, falls ihr euch für eine Partnerschaft entscheidet?“ Valetta überkam eine erneute Welle von Schuldgefühlen: sie hatte die Person, die sie von Herzen gern hatte, vor wenigen Minuten vollkommen respektlos behandelt, obwohl sie sich ihr gegenüber zu tiefstem Dank für ihre Treue in ihrer Freundschaft verpflichtet fühlte. Mit diesen destruktiven Gefühlen im Herzen sank sie erneut in einen tiefen Schlaf.

Casmilda's Gewinn durch Verlust

Подняться наверх