Читать книгу G.F. Barner 1 – Western - G.F. Barner - Страница 33
ОглавлениеDavid Jericho setzte seine Perinet-Posaune an die Lippen. Dabei blickte er über die Menge in der kleinen Kirche von Jerome in Arizona hinweg und sah die Bewohner dieser Stadt, soweit sie an diesem Sonntag zur Kirche gekommen waren. Er sah Ben Ritchie, den Schnapshersteller, und Alan Price, der den Fusel dann in seinem Saloon verkaufte. Er sah Josh Granger, den Kirchenvorsteher, Adam Harris, den Fleischer, den Sattler Hank Davis und dessen hübsche Frau Eve, und er sah schließlich die ehrbare Witwe Amy Carlton, Vorsitzende der Anti-Alkohol-Union von Jerome. Danach glitt David Jerichos Blick über die erste Bank, in der Masterson Douglas saß, vormals Major, dann Lehrer und nun Pensionär.
Der Mann David Jericho, den sie Jericho nannten, weil irgendwer einmal gesagt hatte, er könne mit seiner Posaune Mauern umblasen wie jene einstmals in Jericho, lächelte dünn. Dann sah er sich nach dem Harmonium um, an dem in aller Lieblichkeit und Anmut Masterson Douglas’ Tochter Ireen blond und schlank saß, um den Einsatz zu geben, damit Jericho in seine Posaune blasen konnte.
Schließlich entdeckte er Mary Maloney, die rundliche, gemütliche Witwe, die ihm seinen Haushalt besorgte. Sie hatte den Sonntagsbraten im Stich gelassen, um ihren Mister David Posaune blasen zu hören. Sie stand an der Tür und nickte ihm zu.
Es war schön still in der Kirche. Die Leute hielten den Atem an wie dieses ganze Nest Jerome an diesem schönen Frühlingstag.
David Jerichos letzter Blick ging zum Fenster hinaus, ehe er Ireen ansah, die er liebte und die wahrscheinlich auch eine ganze Menge Gefühl für ihn übrig hatte. Er sah aus dem Fenster und dachte, daß heute ein wirklich schöner Tag sei.
Es war kein schöner Tag, nur wußte er das noch nicht. Er hatte keine Ahnung, daß in genau zehn Minuten die Hölle los sein und ausgerechnet er inmitten dieser Hölle stecken sollte.
Der friedliche, harmlose David Jericho Graves, Undertaker, Sargmacher, Posaunenspieler und Townmarshal von Jerome, sah die Ecke des Hauses hinten, aber die drei Männer sah er nicht.
Die drei Männer hielten auf ihren Gäulen und wunderten sich, warum es so still in dieser Stadt Jerome war. Sie waren nie hier gewesen, sie wußten nichts von Jerome und erst recht nichts von David Jericho Graves. Sie hielten und saßen irgendwie abgeschlafft und ausgelaugt in den Sätteln.
Der Mann rechts außen hieß Neil Ferguson und hatte rasende Kopfschmerzen. Zudem tat ihm auch noch der Magen weh. Er wußte jetzt, daß es keinen Sinn hatte, wenn er trank, denn danach fühlte er sich zwei Tage hundeelend.
Der Mann in der Mitte war Moss Shaggers, ein großer, breitschultriger Mann, schnell mit dem Colt und manchmal noch schneller mit den Lippen. Er war tödlich gefährlich und hatte viele Dinge in seinem Leben getan, die ihn ins Jail gebracht hätten, wenn man ihn jemals erwischt hätte.
Links neben ihm hielt sein Vetter Eddie Shaggers. Er war mittelgroß, ein Giftpilz, der nie einem Streit aus dem Wege ging und von sich einmal behauptet hatte, er hätte seinen eigenen Vater erschlagen. Er war sogar felsenfest überzeugt gewesen, daß er ihn umgebracht hatte.
Die drei Mann hielten und starrten stumm auf das Hotel von Price. Eddie Shaggers hatte die letzte Flasche zur Hälfte geleert, ehe sie in die Stadt eingeritten waren. Er hatte einen »Nachtrunk« genommen, denn gestern war er vollständig betrunken gewesen, und darum sollte dieser Nachtrunk helfen.
Moss wollte gerade sagen, daß sie noch mindestens eine Stunde warten mußten, bis sie im Hotel etwas für den Bauch bekämen, als es passierte.
In der Kirche, von der sie nur den Turm sehen konnten, trat Ireen Douglas die Blasebalgwippen des Harmoniums und legte dann die Finger auf die Tasten zum Einsatzakkord.
Gleichzeitig holte David Jericho, der harmloseste, sanftmütigste Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, tief Luft.
Ireen Douglas sah ihn nun an und nickte kaum merklich. Und dann blies David Jericho in seine Posaune. Die ersten Töne des schönen, frommen Liedes »In your hands, my Lord«, hallten durch die kleine Kirche und hinaus über Jerome in Arizona. Als die Töne die drei Reiter erreichten, passierte es: Moss Shaggers fuhr zusammen, als hätte jemand durch den Bauch seines Gaules unter seinen Sattel getreten. Dann wandte Moss jäh den Kopf und sah seinen Giftpilzvetter Eddie an. Und plötzlich packte Moss eine abgrundtiefe und nagende Angst.
Eddie Shaggers, der Giftpilz, riß jäh die Lider auf. Danach erstarrte sein Gesicht für zwei Sekunden, bis Leben in es kam. Zuerst verzerrte sich Eddies Mund, dann quollen Eddie langsam die Augen aus dem Kopf. Und endlich stieß der Giftpilz einen Laut aus, der jenem Fauchen ähnelte, das ein Kater von sich gab, wenn ihm jemand auf den Schwanz getreten hatte. Es war eine Art Fauchen aus blinder Wut und wildem Haß, wie es Neil Ferguson, der stets geglaubt hatte Eddie zu kennen, nie zuvor vernommen hatte. Neil wandte erschrocken den Kopf, sah Eddies völlig verzerrtes Gesicht, die zuckenden Lippen und hervorquellenden Augen und glaubte, Eddie verlöre den Verstand. Doch dann kamen einige Worte über jene zuckenden Lippen: »Ei… eine Posaune! Alle Teufel der Hölle, da spielt einer auf einer verfluchten Tröte! Ein Posaunentröter, ein dreimal verdammter Posaunentröter! Aufhören, aufhören, oder ich bringe den Kerl um!«
Eddie Shaggers zitterte jetzt am ganzen Körper. Neil Ferguson hatte Eddie nur einmal zittern sehen: vorgestern in Perkinsville, nachdem ihn der Vormann der riesigen Ranch des alten Bill Regan verdroschen hatte. Da hatte Eddie vor rasender Wut zum Colt greifen und den Vormann hinterrücks über den Haufen knallen wollen. Und wenn Moss nicht gewesen wäre, der den Irren festgehalten hätte, wäre es soweit gekommen.
Eddie Shaggers verstummte nun, schloß die Augen und hielt sich plötzlich die Ohren zu.
Moss, sein älterer Vetter, sah ihn bestürzt, aber wachsam an. Er wußte genau, woran Eddie jetzt dachte: an den Tag, an dem er seinen Vater »erschlagen hatte…«
*
Er wollte die Finger ja noch blitzschnell wegziehen, der arme Eddie Shaggers, aber der Stock des Alten war noch schneller und traf sie, knallte über die Fingerknöchel Eddies. Der Taktstock war schon da, der Schmerz schoß durch Eddies Knabenhand, die er wegziehen wollte und nicht konnte, weil sie sich verkrampft hatte. Ein Angstkrampf ließ die Finger die Ventile niederdrücken.
Angst, das war es immer gewesen, denn er würde es nie lernen, obgleich er es nach dem Willen des Alten sollte. Die Angst war immer in Eddie, sobald er die Übungsstunde vor sich hatte. Sie fraß sich in ihn, ehe die Stunde begann, sie trieb ihm den Schweiß aus allen Poren, sobald er die Posaune anfassen mußte.
Die Angst vor der Posaune, die vor dem unerbittlichen Alten, der für seinen einzigen Sohn die Stelle des Chorleiters und Küsters sichern wollte, wenn er einmal zu alt für diesen Beruf wurde.
»Das nennst du das hohe C, du Unglücksmensch?« schrie der Alte mit überkippender Stimme los. »Ein
gottsjämmerliches Gejaule nenne ich das! Dir werde ich helfen, dich will ich lehren, endlich den richtigen Ton zu treffen. Ich schlage dich windelweich, du Herumtreiber, du Tunichtgut, du Langfinger! Da hast du…«
Der Taktstock traf erneut, aber diesmal spritzte etwas nach dem Hieb rot über die Posaune: Blut von Eddies aufgeplatzten Fingern.
Eddie starrte auf seine Finger, sah das Blut auf der Posaune, diesem verhaßten Ding, das er immer nur verächtlich eine verfluchte Tröte nannte. Und dann passierte es, kam es über den knapp Fünfzehnjährigen, der jäh ausholte, die Posaune schwang.
Da war das Gesicht des Alten, das sich vor Schreck verzog, die Augen, in denen ungläubiges Staunen sich mit Schrecken paarte.
»Da hast du die verfluchte Tröte, da hast du sie!«
Er schrie und schlug zu, schlug und schlug, daß das Messingblech zu kreischen schien – oder kreischte er, Eddie?
Er wußte es nicht, er sah den Alten fallen, sah das Blut an dessen Kopf und die Reglosigkeit, mit der der Alte am Boden liegenblieb.
Plötzlich warf er entsetzt die Posaune fort, rannte zur Tür, stürzte an seinen fünf älteren Schwestern vorbei, die das Geschrei angelockt hatte.
Fort, nur fort, denn der Alte war tot, der ehrbare Küster und Chorleiter Edward Shaggers lag dort tot in seinem Blut, erschlagen von dem eigenen Fleisch und Blut. Fort, nur fort!
Vielleicht wäre es nie soweit gekommen, wenn die Mutter noch gelebt hätte. Aber fünf Mädchen und ein kleiner Bruder? Wie grausam konnten fünf Frauenzimmer zu einem kleinen Bruder sein, den der Alte verwöhnt und ihnen vorgezogen hatte, weil er nun mal ein Sohn war?
Fünf Mädchen, kräftige, gesunde Frauenzimmer. Und er, der Kleine, der immer schwach auf der Brust gewesen war. Ein Diener war er geworden, der Knecht dieser Weibsteufel, die ihn geschurigelt hatten, für die er Holz holen, manchmal abwaschen und Wasser schleppen mußte, er, der Kleine.
Tot, hatte er gedacht, du hast den Alten erschlagen, du mußt fort, sonst sperren sie dich ein und hängen dich als Vatermörder auf. Gehört hatte er es noch, als die fünf Weibsteufel hinter ihm gekreischt hatten wie die Furien: »Hilfe – Hilfe, unser Vater ist tot, der Teufelsjunge hat ihn erschlagen – zu Hilfe!«
Fortgerannt, sich am Fluß versteckt, bis es dunkel geworden war. Und dann gelaufen, meilenweit bis zu jener Ranch, auf der Moss, sein von ihm vergötterter Vetter, als Cowboy gearbeitet hatte. Moss mußte ihm helfen, mußte ihm raten. Moss, das war seine einzige und letzte Hoffnung gewesen. Moss hatte sich die Geschichte angehört und dann seinen Gaul genommen, war losgeritten, um sich den »Toten« anzusehen. Der hatte im Bett gelegen, ein paar Beulen am Kopf und eine aufgeplatzte Hautstelle.
»Das hat sich der Teufelsbraten und Tunichtgut so gedacht, he? Ich und tot, was? Sehe ich vielleicht tot aus, Moss?« hatte der Alte giftig geknurrt. »Wer seine Hand gegen den eigenen Vater erhebt, der sei verflucht bis an den Jüngsten Tag, dem verdorre diese Hand auf ewig! Das kannst du diesem Ausbund an Schlechtigkeit bestellen. Der soll sich hier nie mehr blicken lassen, der ist für mich gestorben, verstanden? In der Gosse soll er verrecken, der Teufelsbraten, bestelle ihm das. Er hat keinen Vater und keine Geschwister mehr, hörst du?«
Habe ich nicht mehr, dachte Eddie Shaggers und hörte die verfluchten Töne immer noch, obgleich er sich die Ohren zuhielt, nein, ich bin nie mehr in Kansas gewesen. Der Alte starb vor fünf Jahren, und sie legten ihn in seinem guten schwarzen Anzug in den Sarg. Meine lieben Geschwister, für die ich wirklich gestorben bin, seit der Sache mit den Burschen aus Texas, die uns in Abilene passierte. Was fingen die auch Krach an, die Narren? Es waren sechs – und Moss und ich allein. Zwei gegen sechs, da haben wir gezogen und geschossen, nun gut, zuerst geschossen. Deshalb suchen sie uns in Kansas…, verfluchtes Getröte!
Eddie sperrte die Augen auf, lugte um die Ecke, sah die Kirche jetzt, als er sich weit genug vorbeugte.
»Mach keinen Blödsinn!« hörte er Moss finster sagen. »Eddie, der hört auch wieder auf zu spielen.«
»Ich kann es nicht hören!« giftete Eddie. »Verfluchte Pest, verdammte Tat – wenn der nicht gleich still ist, dann reite ich mitten in die elende Salbaderhalle und stoße ihm die verfluchte Tröte in den Hals, bis er erstickt, das schwöre ich dir, Moss!«
»Und ich schwöre dir, daß ich dir vorher eins über den Schädel ziehe, daß du vom Gaul kippst!« drohte ihm Moss finster. »Reiß dich zusammen, das ist nicht dein Alter, der da bläst, verstanden?«
»Ob der Alte oder nicht«, knirschte Eddie. »Da spielt einer die verfluchte Tröte. Und er spielt nicht mal schlecht, der spielt dreimal besser als es mein Alter jemals gekonnt hat. Die Hölle, das halte ich nicht aus!«
Er griff in die Satteltasche, fischte die Flasche heraus und setzte sie an den Hals.
»Hör auf zu saufen!« fauchte Moss wütend. »Zwei Tage kein warmes Essen, und du säufst wie ein Loch. Das haut den stärksten Neger von den Beinen, erst recht dich, du halbe Portion!«
»Was bin ich?«
Eddie hatte die Flasche leer, holte aus und feuerte sie über den nächsten Zaun auf den Misthaufen, den er vom Sattel aus sehen konnte.
»Du hast sie manchmal nicht alle«, knurrte Moss. »Das ist doch glatt verrückt, was du da machst, Mensch! Hier stellst du mir nichts an, verstanden? Wir essen etwas, dann reiten wir weiter. Ich sage dir, die Herde ist unterwegs nach Fort Verde und vielleicht schon dort. Danach zieht sie weiter bis Fort Reno, dann verkauft der alte Regan die letzten Viecher und fährt weiter nach Tucson. Wir müssen vor ihm dort sein und Alec warnen – ist das klar?«
»Klar – was ist schon klar?« maulte Eddie, wieder zur Kirche starrend und dabei die Zähne fletschend, so daß er Neil Ferguson an einen tollwütigen Hund erinnerte. »Klar ist, daß ich die verdammte Tröte hören muß, und ich hasse nichts auf der Welt mehr als so eine verdammte Tröte. In den Hals sollte man sie dem Kerl stoßen – oder ihn in den Trichter stecken. Hahähä, das müßte aussehen!«
»Du bist verrückt!« fluchte Moss unterdrückt. »Deine blöden Ideen bringen dich noch eines Tages um, das sehe ich kommen, wenn du so weitermachst. Hör zu, Junge, bis jetzt haben wir alles geschafft, was wir tun sollten. Wir haben dem alten Regan beim Auftrieb geholfen und sind dann rechtzeitig von der Herde abgehauen. Danach…«
»Danach ist uns der Alte mit zwei Mann gefolgt – geritten ist er sogar in seiner Wut«, unterbrach ihn Eddie giftig. »Und ich habe mich schlagen lassen müssen, verdammt noch mal, immer ich!«
»Weil du nie die Klappe halten kannst«, stellte Moss bissig fest. »Hättest du getan, was ich gesagt hatte, wäre gar nichts passiert. Der Alte hätte gedacht, daß wir schlicht und einfach versackt wären, statt wie befohlen vorauszureiten und die Furt zu erkunden. Er kochte zwar, aber wenn du ihn nicht ausgerechnet einen alten Idioten genannt hättest, der dich sonstwo könnte, hättest du keine Prügel bezogen. Du machst dauernd Mist, wenn du den Kanal zu voll hast. Es wird immer schlimmer mit dir, Mann.«
»Hat er uns zuerst beschimpft, oder hat er nicht?« giftete Eddie. »Ich schlucke nichts mehr, ich nicht, verstanden? Du hast gekniffen, Moss, mich im Stich gelassen und…«
»Halt das Maul!« fauchte Moss grimmig. »Was hätte ich denn sonst tun sollen, he? Es vielleicht auf eine Schießerei ankommen lassen sollen? Und dann, was dann, du Narr? Wir haben einen Auftrag, daran habe ich zuerst zu denken. Gut, ich hätte den Vormann niederschießen können, aber dann, he? Eingelocht hätte man uns. Hier kennt jeder den alten Bill Regan, dessen Einfluß reicht bis Tucson, Mensch. Du kannst einfach nicht denken, du Narr!«
»Geh zur Hölle!« schnappte Eddie zurück. »Uns wäre schon nichts passiert, sage ich dir.«
»Der Alte hätte uns einlochen lassen«, meldete sich Neil Ferguson düster. »Eddie, stell dir doch mal vor, was passiert wäre, wenn wir im Jail gehockt hätten? Mann, der Alte wäre dort unten unangemeldet aufgetaucht. Und danach hätten sie uns gesucht, im Jail gefunden und uns nach Tucson geschafft, wo sie uns gemeinsam mit Alec wegen der verschwundenen Rinder vor eine Jury gestellt hätten. Wenn wir Alec nicht warnen, hängen wir mit ihm drin.«
»Das weiß ich selbst«, maulte
Eddie. »Teufel noch mal, der hört wohl nie auf zu tröten, was? Ich brauche so ein Ding nur zu hören,
dann sehe ich rot. Man sollte alle Posaunen nehmen und plattwalzen oder zulöten. Mir wird schlecht vor Wut, wenn ich die Tröterei vernehmen muß.«
»Besser dir wird schlecht, als daß du Ärger machst«, knurrte ihn Moss an. »Halte an dich, es muß gleich vorbei sein. He, tatsächlich – er spielt nicht mehr!«
»Das denkst du«, keuchte Eddie und hatte das Flackern im Blick. »Sie spielen mindestens noch ein Lied. Das ist immer so in der Kirche. Mein Gott, ich werde wahnsinnig!«
Er fuhr zusammen und hielt sich wieder die Ohren zu. Die Posaunentöne kamen erneut bis zu ihnen, aber jetzt sangen die Leute dazu.
Eddie ist verrückt, dachte Neil Ferguson beklommen. Hoffentlich stellt der Narr nichts an. Hoffentlich nicht…
*
Der Mann Jericho sollte noch dreißig Schritte gehen, bevor es passierte. Er ahnte nichts von den drei Männern hinter der Schuppenecke, er hatte sie nie gesehen und wußte nichts von Eddie Shaggers und dessen Vater Edward, dem Küster und Kantor.
Jericho hatte gespielt, das Schulterklopfen der Leute hingenommen und dabei schon wieder an den Sarg für Norman Godfrey aus Tucson gedacht.
Der Sarg war beinahe fertig, nur die Endpolitur und das Anbringen der echt silbernen Beschläge lagen noch vor Jericho. Es hatte noch keinen Sarg wie diesen in Arizona gegeben, wahrscheinlich auch keinen in den ganzen Staaten. Und es gab auch nur einen Mann, der diesen Sarg nachbauen konnte. Jedenfalls war das Norman Godfreys Überzeugung gewesen, als er höchst persönlich nach Jerome gekommen war, um David Jericho die Bilder dieses Prachtsarges vorzulegen. Es waren die Bilder vom Begräbnis, das Queen Victoria ihrem Prince Albert ausgerichtet hatte. Wahrscheinlich hatte es bis dahin auch jenseits des Ozeans keinen solchen Sarg gegeben. Und wahrscheinlich mußte man so verrückt wie Norman Godfrey sein, daß man sich diesen Super-Prachtsarg nachbauen und dann in seinem Beerdigungsinstitut ausstellen wollte.
Verrückt, dachte Jericho und schulterte seufzend seine blitzblanke Posaune, an der er genau eine Stunde in seinem Office herumpoliert hatte, glatt verrückt, dieser Norman Godfrey, wie? Haargenau den gleichen Sarg muß der Verrückte bei mir bestellen, sogar die Beschläge müssen exakt stimmen. Und dann darf ich ihm das sündhaft teure Ding nach Tucson bringen, damit er es bei sich ausstellt und ein großes Schild draußen anbringt: »Besichtigen Sie den herrlichen Prachtsarg, in dem Prinz Albert zur letzten Ruhe gebettet wurde! Einmalig komfortabel und von höchster Eleganz! Probeliegen gegen geringe Gebühr. Sie werden sich bereits auf Erden wie im Himmel fühlen!«
Du großer Geist, dachte Jericho, während er sich nach Ireen Douglas, seiner Miß Lehrerin, umblickte, verrückte Leute gibt es – nicht zu glauben! Ich wette, die Interessenten werden vor Godfreys Institut Schlange stehen, um das angeblich direkt aus Old England importierte Prachtstück bestaunen zu wollen. Kein Mensch wird auf die Idee kommen, daß ich den Sarg gebaut haben könnte. Nun gut, es kann mir gleich sein. Godfrey zahlt mir für mein absolutes Stillschweigen extra hundert Dollar. Was habe ich damit zu tun, wenn er die Leute belügt? Diese Welt will betrogen werden, so ist das – und wenn es mit einem falschen Sarg ist.
Er grinste dünn, der seltsame David Jericho, dann hob er knapp die Hand, um Ireen zuzuwinken. Ireen, das schönste Mädchen von ganz Arizona, lächelte zurück.
Schön, dachte Jericho, wirklich ein schöner Sonntag heute. Wir haben zusammen für die Gemeinde gespielt, und der alte Masterson Douglas hat sich sogar herabgelassen, mich zum Kaffee einzuladen. Er ist zwar immer dabei, der Alte, aber das stört uns wenig. Es wird noch ein schöner Tag…
Als er das dachte, war er schon halb über die Straße gegangen. Rechts von Jericho erreichten Hank und Eve Davis gerade den Gehsteig vor ihrem Haus. Der ehemalige Sergeant der U.S.-Kavallerie, der hier eine Sattlerei betrieb, legte den Arm um Eves runde Hüfte und sagte irgend etwas. Dann lenkte die Bewegung in der Gasse, die zwischen der Sattlerei und dem Generalstore von Andrew Talbot nach Süden führte, Jerichos Aufmerksamkeit auf sich.
David Jericho sah dort Angela Davis, die älteste Tochter des Sattlers, im Hoftor erscheinen. Die knapp zwölfjährige Angela winkte heftig zum Fenster des etwas zurückliegenden Wohnhauses der Talbots empor. Und dann sagte das Kind laut genug, so daß Jericho jedes Wort verstehen konnte, während Hank und Eve sicherlich nichts hinter der Hausecke hörten: »Ich komme nachher hinüber, Jolantha, ich muß jetzt schnell in die Küche – meine Eltern sind zurück.«
»Vergiß auch deinen Puppenwagen und Miß Elly nicht«, kam Jolantha Talbots Antwort vom Giebelfenster aus in die Gasse hinunter. »Wir dürfen hier oben spielen, wenn wir ganz leise sind, hat meine Mutter gesagt. Ich habe eine neue Puppenbadewanne…«
In diesem Augenblick machte David Jericho, Undertaker, Sargmacher, Posaunenbläser und Marshal von Jerome, den dreißigsten Schritt. Er befand sich sieben Schritte vor der Einmündung der Gasse in die Mainstreet, als der schrille Indianerschrei die friedliche Stille über Jerome zerriß und gleichzeitig Hufschlag lostrommelte. Zudem wieherte jetzt ein Pferd grell. Und dann brüllte jemand lauthals: »Eddie, halt an! Du verdammter Narr, halt an, tue es nicht! Eddie!«
David Jericho Graves fuhr auf der Stelle herum. Das Gebrüll des Mannes übertönte den Hufschlag und das Wiehern des Pferdes. Jemand trieb sein Pferd westlich von Jericho hinter dem Schuppen heraus und kam rasend schnell näher. Der Mann hing auf dem Hals des Gaules, schrie wie ein wilder Apache und war nicht mehr als vierzig Schritte von Jericho entfernt. Er hatte schon vier oder fünf Pferdelängen hinter sich gebracht, als der zweite Reiter auf
einem nervös steigenden und auskeilenden Gaul um die Ecke von
Ben Ritchies Schnapsbrennereischuppen kam. Der Mann brüllte nochmals: »Eddie, du Idiot, halte an!«
David Jericho sah im Herumfahren, daß drüben auf dem Vorbau von Price’ Saloon ein halbes Dutzend Männer wie erstarrt zu dem wie irr heulenden Reiter blickte. Daneben blieb Mrs. Amely Carlton stehen und schien in all ihrer Hagerkeit zur Salzsäule zu werden. Ireen Douglas und der alte Masterson blickten wie gelähmt zu dem Reiter, und der bewegte in diesem Moment den linken Arm.
In der Mittagssonne blinkte der Colt in der Linken des Reiters.
»Du verfluchter Posaunentröter, dir werde ich…«
Das war alles, was David Jericho noch hörte.
Du großer Gott, der meint ja mich, durchfuhr es Jericho erschrocken. Himmel, der wird doch nicht etwa – der schießt, der Narr, der schießt!
David Jericho zauderte keine Sekunde länger. Er flog mit einem Riesensatz los. Dabei riß er die Posaune von der Schulter. Es waren sieben Schritte bis in die Gasse, doch Jericho wußte plötzlich, daß der Mann Eddie, dessen Namen der zweite Reiter ununterbrochen brüllte, schießen würde, ehe er sich in die Gasse retten konnte. Ob der augenscheinlich Verrückte Jericho jedoch aus vollem Galopp treffen konnte, war nicht sicher.
In die Gasse und dann nichts wie über den Bretterzaun von Talbots Hof, dachte Jericho entsetzt. Mein Gott, der schießt, aber warum?
David Jericho kam genau drei Schritte weit. Dann raste das Brüllen des Revolvers auch schon über die Straße.
*
Das Krachen des Schusses hallte wie Kanonendonner über die Main Street. Zugleich packte das Geschoß Jerichos teure Perinet-Posaune und irrte heulend ab. Aus den Augenwinkeln sah Jericho noch, daß Hank Davis seine Eve ins Haus stieß. Durch die Posaune fuhr ein so heftiger Ruck, daß sie Jericho beinahe aus der Hand geschleudert wurde. Jericho wurde etwas nach rechts gerissen, konnte die Posaune jedoch festhalten und schnellte dann dem Eckpfosten des Gehsteigdaches vor dem Generalstore entgegen. Er war knapp an ihm vorbei, als der zweite Schuß krachte.
Die Kugel fetzte einen handlangen Splitter aus dem Pfosten. Danach klatschte sie in die Giebelwand von Davis’ Sattlerei. Keine acht Schritte von der einschlagenden Kugel entfernt stand Angela Davis im schmalen Tor des Hofzaunes. Das Kind schien vor Schreck erstarrt zu sein.
Während Jericho mit einem verzweifelten Satz um Talbots Generalstoreecke fegte, krachte der dritte Schuß. Das Geschoß irrte jaulend als Querschläger an der Ecke ab und klatschte erneut in den Hausgiebel von Davis. Auch diese Kugel hatte Jericho verfehlt. Jericho raste weiter, sah die zu Tode erschrockene Angela Davis und schrie sie an. »Zurück, Angela, hinter das Tor! Mach das Tor zu, Kind, schnell, schnell!«
Der scharfe Anruf löste endlich Angelas Starre.
»Oh, mein Gott!« stammelte Angela verstört, wandte sich um und hastete hinter das Tor. Gleichzeitig sauste Jericho am Storegiebel vorbei. Er erreichte den hohen Bretterzaun von Talbots Hof, griff mit der Linken auf die angespitzten Bretter und warf sich dann aus vollem Lauf hoch. Dabei preßte Jericho seine Posaune mit der Rechten an sich. Wie er über den Zaun kam, wußte er nicht. Er landete einknickend in Talbots Hof. Zugleich steigerte sich das Getrommel der Hufe, und der Widerhall des Hufschlages fing sich an Davis’ Hausgiebel.
Allmächtiger, der Kerl kommt mir nach, dachte Jericho entsetzt. Wer ist der Bursche, warum hat er auf mich gefeuert? Himmel, der Narr kommt und…
In dieser Sekunde ließ Jericho seine Posaune fallen. Und dann flog er mit zwei Sätzen an das breite Tor, sah den Riegel, hob ihn blitzschnell aus und lugte knapp über das Tor hinweg. Zu seinem Schreck sah er, daß Angela die schmale Tür im Zaun drüben noch immer nicht geschlossen hatte.
»Die Tür zu, Angela!«
Es war das letzte, was Jericho noch rufen konnte. Jericho mußte handeln, ehe der Verrückte ihn entdecken und noch einmal auf ihn schießen konnte. Der Irre raste jetzt im vollen Galopp in die Gasse, und er würde sein Pferd kaum vor diesem breiten Einfahrtstor stoppen können.
David Jericho sah eine Chance, und er war nicht der Mann, der auch nur eine Sekunde zauderte, um diese Chance zu nutzen. Jericho hörte am Hufschlag, daß der Mann in die Gasse raste. Im selben Moment klappte drüben die Tür im Bretterzaun zu.
»Du verfluchter…«
Das war alles, was Jericho den Kerl noch schreien hörte. Das Brüllen des nächsten Schusses raste durch die Gasse. Drüben schrie Angela Davis durchdringend.
Du verdammter Kerl, wenn du das Mädchen getroffen hast, passiert dir etwas, dachte Jericho wütend. Du schießwütiger Narr, zur Hölle mit dir!
David Jericho warf sich mit aller Kraft gegen den schweren Torflügel. Der mächtige Flügel schwang sofort in die Gasse hinein, und indem ihm Jericho losrennend immer mehr Schwung gab, näherte sich das Pferd von rechts. Wenn Jericho etwas wußte, dann war es der Weg, den ein Pferd brauchte, ehe es angehalten werden konnte. Es war ausgeschlossen, daß es jemand schaffen konnte, seinen Gaul jetzt noch zur Seite zu reißen oder ihn zum Sprung über das Tor hochzuziehen. Das Tor kam viel zu schnell. Der Reiter mußte voll gegen diese schweren Bohlen jagen.
Wenn Jericho auch weder den Mann noch den Gaul sah, so hörte er doch durch den Hufschlag genug. Erst in jenem Moment, in dem Jericho dem Tor einen letzten gewaltigen Stoß verpaßte, hörte er den schrillen Entsetzensschrei des Verrückten, dem das trompetenhafte Wiehern des Pferdes folgte.
David Jericho warf sich rasend schnell zur Seite, landete am Boden und schaffte es gerade noch, sich erneut abzustoßen und hinter den Torpfosten zu kommen.
Und dann gab es einen so fürchterlichen Krach, als hätte ein Riese mit seiner Keule gegen das schwere Tor geschlagen. Keine vier Schritte von Jericho entfernt erschien etwas über dem Tor. Eine Riesenfledermaus tauchte jäh über den dicken Bohlen auf, und Jericho kam es vor, als zeichnete sich nichts als das blanke Entsetzen auf ihrem Gesicht ab. Die Riesenfledermaus war jener schießwütige Kerl, der wie aus einer himmelwärts gerichteten Kanone geschossen über das Tor hinwegflog.
Zuerst glaubte Jericho, vor Staunen Mund und Augen aufreißend, daß der Bursche immer weiter fliegen und über den Fellschuppen von Hank Davids hinwegsegeln wollte. Es war der ungeheuerste Flugversuch, den Jericho jemals hatte einen Mann unternehmen sehen. Anscheinend war genau das passiert, was sich David Jericho binnen zwei Sekunden ausgerechnet hatte. Der Gaul mußte voll vor den Torflügel gerast sein. Sein Reiter hatte es nicht einmal mehr geschafft, das Tier hochzuziehen. So mußte ihn der fürchterliche Anprall glatt aus den Steigbügel gefegt haben, und er flog nun wieder dem Boden entgegen. Warum er sich ausgerechnet die Regentonne an der zurückspringenden Ecke von Hanks Fellschuppen als Landeplatz aussuchte, blieb Jericho ein Rätsel.
David Jericho sah den Mann, aus dessen Linker der Colt verschwunden war, wie eine flügellahme Krähe herabkommen. Und dann erst entdeckte Jericho das Wollknäuel hinter der großen Regentonne. Das Wollknäuel wurde »Hunter« genannt, hatte vier zottelhaarige Beine und überhaupt so viel Fell, daß man manchmal nicht wußte, wo sich Kopf und Schwanz dieses riesigen Mischmaschhundes befanden.
Hunter war annähernd zehn Jahre alt, gehörte Hank Davids oder mehr noch Angela und deren Geschwister, und er war so faul wie alle Hunde in seinem Großvateralter geworden. Hunter hatte sich zum Bettelkönig von Jerome entwickelt, der bis zur Mittagszeit irgendwo sein Schläfchen hielt. Danach trottete er, mehr einer zottigen Fellkugel als einem echten Hund gleichend, gemächlich von Haus zu Haus. Jeder Mensch in Jerome mochte Hunter und fütterte das Vielfraß.
Hunter hatte hinter der Regentonne gelegen, weil es dort schön schattig war. Er hatte dort gedöst und sich auch durch die Schüsse nicht stören lassen. Als Hunter noch klein und wahrhaft niedlich gewesen war, hatte man in Jericho dauernd geschossen, so daß ihn eine Knallerei nicht aufregen konnte. Der zottige Riesenhund war erst richtig munter geworden, als Angela jenseits des Zaunes aufgeschrien hatte. Hunter erhob sich bei dem Schrei und lugte durch seine Zottelhaare verstört um die vom Regen der letzten Tage gut gefüllte Tonne.
Was dann geschah, passierte einfach zu schnell für einen alten, müden Zottelpelzträger.
Jericho, der bereits errechnet hatte, wo der schießwütige Kerl landen mußte, blieb verstört stehen und fing nur den zurückschwingenden Torflügel auf.
Du großer Moses, was wird das, dachte Jericho neugierig. Der Kerl wird doch nicht so gegen die Tonne kommen, daß Hunter naß wird. Nichts kann Hunter mehr in Panik versetzen als kaltes Wasser. Gerechter – der fliegt gegen die Tonne, der fliegt wirklich…
Und dann machte David Jericho für einen Moment die Augen zu.
*
Hunter, der Mischlingshund, starrte jenem Riesenvogel, der dort mit einem geradezu infernalischem Gekreische angeflogen kam, mit schiefgelegtem Schädel verwirrt entgegen. Nie zuvor hatte Hunter einen derart häßlich kreischenden Vogel dieser Größe gesehen. Erst im Näherkommen erkannte Hunter, daß es doch kein häßlicher Vogel war, der mit federlosen Schwingen über ihn hinwegflattern wollte. Es war tatsächlich einer dieser verrückten Vierbeiner, die vier Beine besaßen, jedoch nur auf zwei Beinen und dazu auch noch aufrecht liefen.
Wie jemand, der vier Beine hatte, nur deren zwei benutzen konnte, hatte Hunter immer schon absonderlich gefunden. Hunter hatte das zu Anfang seines Lebens auch versucht und es völlig albern gefunden. Da sich aber diese seltsamen Gestalten zu freuen schienen, wenn er auch auf zwei Beinen lief, weshalb sie ihm dann irgend etwas zu fressen gaben, bettelte Hunter nun seit Jahren auf zweibeinige Art und hatte Erfolg damit.
Hunter staunte nicht schlecht, daß einer dieser zweibeinig marschierenden Vierbeiner nun sogar einen Vogel nachzuahmen versuchte. Er mußte völlig verrückt geworden sein.
Noch glaubte Hunter, daß der verrückte Vierbeiner über ihn hinwegflattern würde, doch dann neigte sich die Flugbahn jählings. Für Hunter sah es aus, als wollte sich der Kreischende auf ihn stürzen. Hunter duckte sich erschrocken und suchte dort Deckung, wo er gerade gelegen hatte – flach am Boden und hinter der Tonne.
Jericho, der nur sieben Schritt von der Tonne entfernt war, traute seinen Augen nicht. Hunter schien die Gefahr zu ahnen, plumpste hinter der Tonne in Deckung und legte einen Vorderlauf beschützend über seinen Wollschädel. Es sah so aus, als wollte sich der Hund wahrhaftig die Augen zuhalten, um die Landung des Schießwütigen nicht mit ansehen zu müssen.
Beinahe nahm jetzt Eddies wieder auf die Hufe gekommener Gaul Jericho alle Sicht. Das Tier war mit gesenktem Hals gegen das Tor gekracht, und es war schwankend und prustend hochgekommen. Der Gaul verdrehte derart die Augen, daß er sich ins Gehirn zu schielen schien. Dann torkelte er vorwärts, als hätte man ihm einen Tränkeimer voll Bier gefüllt und er den bis auf den letzten Tropfen geleert. Nach drei, vier taumelnden Schritten war das Pferd am Tor vorbei. Sein Schwanz schlug buchstäblich Rad, so daß es aussah, als trüge der Gaul hinten einen Propeller. Danach streckte sich das Tier jäh, stieß ein markerschütterndes Wiehern aus und raste davon.
David Jericho starrte dem davonsausenden Gaul sprachlos hinterher und wandte den Kopf, weil Eddie landete. Der schießwütige Halunke krachte gegen die Tonne und riß sie um.
Hunter, das Riesenwollknäuel, wurde von dem Schwall Wasser voll erwischt. Über den aufspringenden und entsetzt aufheulenden Hunter hinweg schoß Eddie in die Wasserlache. Der Hund jedoch, der alles, nur kein Wasser mochte, raste protestierend blaffend in Richtung Main Street durch die Gasse. Der Wasserguß war für Hunter zuviel gewesen.
Im gleichen Moment sprang Jericho vorwärts, bückte sich nach dem Colt Eddies, der mitten in der Gasse lag und flog mit einem Riesensatz um den Torflügel zurück. Er hatte jetzt wenigstens eine Waffe, wenn in ihr auch nur noch zwei Patronen waren. Jerichos letzter Blick flog zu Eddie, der reglos am Boden in der Wasserlache lag. An Eddies Kopf schien eine Beule gleich einem Kaktus zu wachsen.
Mehr Zeit blieb David Jericho nicht. Hinter dem Torflügel in Deckung gehend, riß er ihn rückwärtsspringend zurück. Er war bereit, auch den zweiten Mann auf die gleiche Art wie Eddie zu empfangen. Und dann raste der nach Eddie brüllende Bursche auch schon mit dem Gaul um die Storeecke. Im selben Augenblick kam Hunter, das Riesenknäuel, aus der Gasse geschossen und sauste dem Gaul zwischen die Vorderhufe. Was dann passierte, spielte sich in einer Sekunde ab.
*
Hunter stieß ein markerschütterndes Geheul aus, als er zwischen die Vorderhufe des Pferdes geriet. Dann überschlug sich der Gaul auch schon, und der Reiter flog zu Jerichos Entsetzen gegen den Eckpfosten von Hank Davids Sattlerei. Ehe das gestürzte Pferd, das bis an die Gehsteigkante gerutscht war, auf die Hufe kommen konnte, sackte der Reiter an der Hausecke zusammen.
David Jericho sah noch, daß der Kopf des Mannes seltsam verdreht zur Seite sank, und er wußte im gleichen Moment, was passiert war. Der Bursche hatte sich das Genick gebrochen.
Während der Gaul aufsprang und die Main Street hochstürmte, hörte Jericho die Hintertür von Hanks Haus klappen und Angela verstört schreien: »Daddy, Daddy, der Mann hat auf mich geschossen und mein Kleid getroffen, aber ich bin unverletzt. Daddy, Daddy…«
»Die Hölle!« knurrte Hank Davids. Er hatte seine Frau in den sicheren Hausflur geschoben, war in das Wohnzimmer gesprungen und hatte seinen Spencer aus der Wand gerissen. Der ehemalige First Sergeant war damals, als Lombards Banditen Jerome in ihre Gewalt gebracht hatten, niedergeschossen worden. Seitdem haßte Davis alles Gesindel wie die Pest. »Wer wagt es, auf mein Kind zu schießen?«
»Hank – Hank!«
Eve, die durch den Flur ihrer Tochter entgegengelaufen war, blieb erschrocken stehen. Sie wußte zu gut, daß Hank, wenn ihn die Wut packte, nicht mehr aufzuhalten war. Hank Davis sprang aus der Haustür, sah noch das vorbeirasende Pferd und wandte sich sofort nach rechts.
Davis sah den dritten Reiter heranjagen, und als der Mann sich beim Anblick des Bewaffneten hinter den Hals des Pferdes duckte, riß Hank den Spencer hoch. Davis schoß augenblicklich.
Das Brüllen des Karabiners hallte über die Main Street. Drüben stieß Missis Amely einen schrillen Sirenenschrei aus. Die hagere Vorsitzende der Liga gegen den Alkoholmißbrauch, die vorn und hinten platt wie ein Brett war, kreischte vor Entsetzen, als die Kugel Hanks das Pferd in die Brust traf und der Gaul über den Hals gegen die Fahrbahn raste. Der Reiter sauste wie abkatapultiert aus dem Sattel, schlug auf und blieb liegen. Als er sich stöhnend aufstemmen wollte, brüllte Hank wütend: »Bleib liegen, oder die nächste Kugel erwischt dich, Halunke!«
Währenddessen rannte Jericho zur Gasseneinmündung, war klug genug Hank anzurufen, ehe er an dem Toten vorbei war und blieb dann mit dem Colt in der Faust stehen.
»Sie schießen am heiligen Sonntag!« knurrte Hank Davis wutentbrannt. »Davis, was ist mit dem Kerl, der auf dich gefeuert hat – und was hat der an der Hausecke?«
»Der erste Narr ist gegen die Tonne gesaust und rührt sich nicht«, erwiderte Jericho gelassen. »Und der hier hat sich das Genick gebrochen, fürchte ich. Hank, nicht schießen, wenn der dritte Narr sich nicht rührt!«
Er ging los, hob Moss Shaggers an und wußte, daß dem Mann, den er so wenig wie jemals einen der anderen beiden gesehen hatte, nicht mehr zu helfen war.
»Du großer Gott, Marshal, warum sind sie auf dich losgegangen?« rief in diesem Augenblick Finnegan, der Schmied, vom Vorbau von Price und rannte mit einigen anderen Männern los. »Weshalb haben die geschossen, Marshal?«
»Ich weiß es nicht, Finnegan«, antwortete Jericho düster. »Ich bin sicher, ich habe die Burschen nie im Leben gesehen. Finnegan, packt euch den Kerl in der Gasse und schafft ihn ins Jail.«
Er ging mit langen Schritten auf den am Boden liegenden Neil Ferguson zu, der sich nicht zu rühren wagte.
Gerechter Gott, dachte Neil Ferguson angstvoll, der Posaunentröter ist hier der Marshal? Moss ist tot – Moss? Alle Teufel, was wird das, wenn Eddie es erfährt? Er hat an Moss mehr als ein Bruder am anderen gehangen. Eddie wird völlig durchdrehen, sobald er wieder bei Verstand ist. Verstand – der hat doch keinen Verstand, der Giftzwerg, dieser rachsüchtige, hinterhältige Bursche. Sieht den Posaunentröter aus der Kirche kommen und gurgelt plötzlich, der sähe genauso aus wie sein verdammter Alter. Und dann jagt er los, rammt den Gaul von Moss, als Moss ihm in den Weg reiten will und schießt…, schießt auf den Townmarshal.
Neil Ferguson spürte, wie ihm der kalte Angstschweiß ausbrach. Er ahnte nur zu gut, was die Folgen von Eddies Narrheit sein würden. Eddie hätte auf alle möglichen Leute, nur nicht ausgerechnet auf den Marshal von Jerome schießen dürfen.
Der Mann mit dem Zylinder auf dem Kopf und der Nickelbrille auf der Nase kam auf Neil Ferguson zu. Der seltsame Posaunentröter, der wie ein Hase in die Gasse gerannt war, schien Neil durch die Brillengläser mit funkelnden Augen zu fixieren. Dennoch wirkte er auf Neil Ferguson irgendwie leicht vertrottelt und geistesabwesend.
Das also war der Marshal von Jerome – und er würde sie ins Jail einsperren, bis sie lange Bärte hatten!
*
Eddie Shaggers Gesicht hatte jetzt die Farbe von wochenalter Asche angenommen. Ein stumpfer Glanz ließ seine Augen ganz dunkel erscheinen. Seine zitternden Lippen öffneten sich, und Ferguson, der ahnte, daß Eddie gleich losbrüllen würde, hielt ihm blitzschnell den Mund zu. Zugleich setzte er ihm das Knie auf die Brust und drückte ihn mit aller Kraft auf die Pritsche des Jails herunter.
»Um Gottes willen, hast du immer noch nicht genug?« keuchte Ferguson abgerissen. »Reiß dich zusammen, Mann, oder du machst alles noch viel schlimmer. Moss ist tot, er liegt in der Leichenhalle, und nichts und niemand macht ihn wieder lebendig. Eddie, um Gottes willen, schweig still, sonst erlebst du noch mal die Hölle. Ich habe noch nie einen Mann so schnell den Colt in der Faust halten sehen, als du ihn angesprungen hast.«
Eddie bäumte sich wie ein Tier auf, krallte seine Finger in Fergusons Unterarm und sank dann jäh zurück. Er schien sich an irgend etwas zu erinnern.
»Na, weißt du es wieder?« ächzte Neil. »Fang an zu toben, und ich drehe dir die Luft ab, du Unglücksvogel, du verdammter. Ich lasse dich jetzt los, aber machst du noch mehr Ärger, erlebst du was, das verspreche ich dir. Jetzt ist kein Moss mehr da, der mich zwischen die Schenkel tritt, wenn ich dir für deine Frechheiten die Ohren besäumen will. Weißt du jetzt, was du angestellt hast?«
Ferguson war bedeutend kräftiger als Eddie. Und wahrscheinlich hätte er Eddie längst grün und blau geprügelt, wenn Moss nicht gewesen wäre. Moss hatte Eddie immer beschützt.
»Du… du verfluchter Schuft!« stieß Eddie durch die Zähne, als ihn Neil losließ, jedoch drohend die Faust hob. »Jetzt kannst du ja über mich herfallen, was? Moss, mein armer, guter Vetter Moss – das Genick gebrochen, gleich tot? Und was… was habe ich angestellt, wen habe ich angesprungen?«
»Den Posaunentröter, den Townmarshal«, knirschte Neil bissig. »Du bist zu dir gekommen, als er dich ins Jail bringen wollte. Du hast ihm die Gittertür vor den Schädel schlagen wollen, aber er ist blitzschnell zur Seite und der Tür ausgewichen. Dafür bist du mit den Händen zwischen die Türkante und die Stäbe geraten. Du hast gebrüllt wie ein Irrer, hast ihn anspringen wollen, und er hat dir den Colt über den Schädel gezogen. Weißt du es nicht mehr?«
»Oh, mein Kopf, mein armer Kopf«, lallte Eddie. »Nicht so laut reden, mir platzt der Schädel, Neil. Moss, der arme, gute Junge – das Genick gebrochen, mausetot, wirklich?«
Eddie schielte Neil heimtückisch und rachsüchtig an. Anscheinend erinnerte er sich ganz genau an alles, denn er blickte verstohlen zur Jailtür. Zu Neils Überraschung tobte er nicht los, sondern blieb liegen und hielt sich seinen Kopf. Entweder fühlte er sich ohne seinen Vetter verloren, oder die eiserne Härte und Kaltblütigkeit des Marshals beeindruckte ihn zu sehr.
»Ein Straßenköter rannte seinem Gaul zwischen die Vorderhufe«, brummte Ferguson düster. »Es ging alles viel zu schnell. Wenn du Narr nicht losgeritten wärest, wäre gar nichts passiert. Du kannst dich mal fragen, für was Moss gestorben ist, wenn du wieder richtig denken kannst.«
»Sei ruhig!« knirschte Eddie Shaggers giftig. »Wo ist er, der verfluchte Posaunentröter, der mir beinahe den Schädel eingeschlagen hätte? Oh, mein Gott, schmerzen meine Finger – mir tun alle Knochen weh. Wo ist der Hundesohn?«
»Ich weiß nicht, er ist weggegangen«, schnaufte Neil. »Mann, sei bloß jetzt friedlich und endlich klug, sonst kommen wir hier nicht mehr heraus. Er will Moss morgen gegen Mittag begraben, hat er gesagt. Undertaker in diesem Nest ist der auch noch.«
»Undertaker, Posaunentröter und Townmarshal«, giftete Eddie, der nun völlig bei Verstand zu sein schien. »Das Tor – wie der mir das Tor entgegengefegt hat! Wie kann einer so harmlos aussehen und es doch so faustdick hinter den Löffeln haben? Das ist der gerissenste, listigste Schweinehund, dem ich jemals begegnet bin. Was hast du ihm erzählt, he? Oh, mein Gott, was fangen wir ohne Moss an, was sollen wir denn jetzt machen, Neil?«
Das ist es also, dachte Neil, ohne Moss fühlt sich der Giftpilz verloren. Nur deshalb ist er jetzt friedlich – was man bei dem niederträchtigen Burschen schon friedlich nennen kann. Wenn es wahr ist, was Moss einmal erzählte, hätte Jake Higgins, der Grenzbandit, Eddie schon vor drei Jahren über den Haufen geknallt, wenn Moss nicht gewesen wäre. Gerechter, Moss und Eddie ritten einige Zeit mit Higgins und dessen Horde, aber davon weiß niemand etwas. Sieh einer an, jetzt hat Eddie ziemlich die Hosen voll, aber wie ich den kenne, hat er sofort wieder das große Maul, sobald er hier heraus ist.
»Was meinst du, was ich ihm erzählt habe?« knurrte Neil Ferguson, der zwar bis in die Knochen rauh, aber noch nie mit jenen Leuten umgegangen war, mit denen es die Shaggers zu tun gehabt hatten. »Daß du gesoffen hattest, Mann, konnte man auf zehn Schritt riechen. Ich habe ihm die Story von deinem Alten erzählt und gesagt, du wärest durchgedreht, als du die Posaune gehört hättest. Übrigens hast du mit dem ersten Schuß eins der Ventile seiner Posaune verbeult. Er sagt, es gäbe nur einen Instrumentenmacher in ganz Arizona, der das wieder hinbekommen könnte. Keine Sorge, ich habe dich als völlig besoffen hingestellt.«
»Das ist gut«, schnaufte Eddie Shaggers erleichtert. »Dabei müssen wir bleiben, hörst du? Ich war völlig besoffen, total verrückt, meinetwegen. Und – und was hast du ihm noch erzählt?«
»Er wollte wissen, woher wir gekommen und wohin wir unterwegs sind«, brummte Neil mißmutig. »Die Hölle, er kennt den alten Bill Regan ziemlich gut. Er sagte, es wäre kein Wunder gewesen, daß uns der Alte gefeuert hätte. Dabei schien er zu grinsen, der seltsame Kerl. So einer wie der ist mir noch nicht begegnet. Ich sage dir, er ist höllisch gefährlich, auch wenn er wie ein Trottel aussieht.«
»Wenn er mir jemals begegnet, bezahlt er für alles!« giftete Eddie zischend. »Läßt mich vor das verfluchte Tor reiten und schlägt mich beinahe tot. Und Moss hat er auch auf dem Gewissen, der verdammte Satan. Dem werde ich…«
»Du wirst gar nichts!« fauchte ihn Neil Ferguson scharf an. »Wehe dir, du riskierst eine dicke Lippe, so daß wir nicht aus dem verdammten Jail kommen. Ich schwöre dir, ich breche dir alle Knochen, Eddie. Denke gefälligst an Alec und Bill Regan, vergiß keine Minute, daß wir fertig sind, wenn wir nicht vor dem Alten zu Alec kommen können. Bill Regan läßt Alec und uns einlochen, bis wir schwarz sind. Wir müssen nach Tucson, ehe der Alte hinkommen kann. Und darum spielst du den Frommen und Entsetzten, der nicht begreifen kann, warum er auf den Marshal geschossen hat, ist das klar, Mensch?«
Eddie Shaggers hielt sich stöhnend den Kopf. So sehr er auch jenen Posaunentröter haßte, er wußte nur zu gut, daß sie nur eine Chance hatten, wenn er sich jetzt friedlich und zerknirscht gab. Eddie, der Giftzwerg, fühlte sich wie erschlagen, ausgehöhlt und leergebrannt. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte sein Vetter Moss für ihn gedacht und gesorgt. Moss war tot, und nie zuvor war sich Eddie Shaggers so einsam und verlassen vorgekommen.
»Ich tue es«, sagte Eddie dumpf. »Neil, wir müssen hier heraus, und wenn es mit Gewalt sein sollte. Läuft für den alten Regan alles glatt, ist er in sechs Tagen in Fort Reno und seine Rinder bei der Armee losgeworden. Danach fährt er mit der Geldanweisung der Armee nach Tucson. Er muß fahren, denn reiten kann er nicht wegen seiner gebrochenen Hüfte und dem Girl – er muß fahren. Stimmt die Rechnung von Moss, müßte er in vier Tagen von Fort Reno nach Tucson gefahren sein. Zehn Tage, Mann, nur zehn Tage von heute an. Danach läßt der Alte die Hölle los. Großer Gott, wir müssen hier raus, oder wir sind verloren.«
Das wußte niemand besser als Neil Ferguson. Er steckte bis an den Hals in dieser Sache und verdammte den Tag, an dem er bereit gewesen war, sich in sie einzulassen, seitdem er hier im Jail steckte. Noch hatte der alte Bill Regan keine blasse Ahnung von der Riesenschweinerei, die sich auf seiner zweiten Ranch südöstlich von Tucson am Cienega Wash zugetragen hatte. Erfuhr der knorrige Alte jedoch davon, war todsicher die Hölle los. Bill Regan würde das abgekartete Spiel, das Alec mit ihm getrieben hatte, als er ihm die Shaggers und Neil zur Aushilfe geschickt hatte, sofort durchschauen. Bill Regan gehörte noch zu jener Sorte, die dieses Land wild, rauh und unbarmherzig vorgefunden hatte. Und genauso war der Alte auch geblieben: wild, rauh und unbarmherzig. Er würde sie in die Hölle jagen lassen!
Eddie Shaggers, der Giftpilz, lag auf seiner Pritsche und hatte nichts als würgende Angst in sich. Ohne Moss, der immer einen Ausweg gewußt hatte, kam sich Eddie, das Großmaul, wie ein Tier hinter Gittern vor. Moss war bereit gewesen, den alten Regan, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, aus dem Hinterhalt zu erschießen, um seinen und Eddies Kopf zu retten.
Mord, dachte Eddie verzweifelt, Moss hätte ihn auf dem Weg von Tucson zur Ranch abgeknallt, aber ich – ich kann es nicht, ich habe Angst, ich habe Angst! Neil wird erst recht keinen Mord begehen, und Alec? Alec ist ein stinkender Feigling, der hat die Hosen voll und dreht durch, wenn er hört, daß der Alte nach zwei Jahren zur ersten Inspektion kommt. Wenn mir doch etwas einfiele, einen Ausweg, irgendeine Chance!
Ihm fiel nichts ein, so sehr er sich auch seinen Kopf zermarterte. Daß es noch schlimmer kommen sollte, ahnte er nicht…
*
Eddie Shaggers hatte das Gefühl, daß ihm der Verstand stehenblieb und das letzte bißchen Blut aus seinem Kopf strömte. Dazu krampfte sich sein Magen zusammen, als hätte er Rattengift geschluckt. Unfähig für Sekunden, auch nur Atem zu holen, starrte Shaggers zur Jailtür und den Mann, der breitbeinig dort stand.
Es war Big Bill Regan, der Alte, und Eddie starrte ihn an, als sähe er den Satan vor sich.
»Sieh einer an«, sagte Big Bill Regan finster. Er war nicht sehr groß, dafür aber breit gebaut – ein Klotz von Mann trotz seines Alters und der gebrochenen, schlecht verheilten Hüfte, die es nicht zuließ, daß er länger als eine Stunde im Sattel blieb. »Wen haben wir denn da, he? Na, ihr Galgenvögel?«
Er weiß es – um Gottes willen, er weiß alles, dachte Eddie und fühlte, wie ihm hundeschlecht wurde. Wie kann er es erfahren haben, woher denn?
Eddies hilfloser Blick flog zur anderen Pritsche hinüber. Dort lag Neil Ferguson aufgestützt, und sein Gesicht hatte die schmutziggraue Farbe trockenen Lehmes angenommen. Auch Ferguson starrte den Alten wie einen Höllengeist an und rührte sich nicht.
Neil begriff nicht, woher der Alte kam. Er hatte sie in Perkinsville erwischt und Eddie dort durch seinen Vormann verprügeln lassen. Die Herde Regans mußte jedoch kurz vor Fort Verde sein, wo der erste Schub Rinder der Armee übergeben werden sollte, damit für die Indianerreservation genügend Fleisch vorhanden war. Wie, zum Teufel, kam Bill Regan hierher?
»Ich glaube, ihnen fehlt etwas – sie sehen verdammt krank und elend aus, Jericho«, sagte der Alte im nächsten Moment spöttisch. »Sieh dir dieses Gelichter an – das verkörperte schlechte Gewissen.«
Ferguson konnte von seiner Pritsche aus an Bill Regan vorbei ins Office blicken. Er sah, daß David Jericho Graves, der Posaunentröter und Undertaker, schräg hinter dem Alten stand. Im Hintergrund hatte sich Mabel Regan, die Nichte des Alten, an den Tisch gelehnt. Das schwarzhaarige, hübsche Mädchen, das Regan den Haushalt führte und wahrscheinlich die große Ranch am Cataract Creek erben würde, sah aus dem Fenster, als wollte es keinen Blick ins Jail werfen müssen.
Das Girl, schoß es Ferguson durch den Kopf, das Girl ist hier? Dann ist der Alte mit dem Wagen gekommen, während seine Leute die Herde nach Fort Verde treiben. Warum kommt er her, was weiß er?
Im nächsten Augenblick atmete Ferguson erleichtert auf, denn der Alte polterte: »Geschieht euch recht! Wer seine Herde verläßt und sich lieber besäuft, statt seine verdammte Pflicht zu tun, der hat es nicht besser verdient. So, hat es deinen Vetter Moss erwischt, Eddie, hat es endlich? Der hatte einen genauso schlechten Charakter wie du, Bursche. Na, wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag – einer von euch Shaggers ist in der Hölle gelandet. Das nennt man Gerechtigkeit!«
Er weiß nichts, schoß es Ferguson durch den Kopf, er ist aus einem anderen Grund hergekommen, es hat nichts mit uns zu tun. Himmel, Eddie, mach keinen Blödsinn, reiß dich zusammen!
Es war bereits zu spät. Eddie, der genauso schnell begriffen hatte, daß Regan nicht ihretwegen gekommen war, fuhr von der Pritsche hoch. Nach dem ersten Schock packte ihn jetzt die wilde Wut.
»Du alter, hinkender Satan, wie redest du über meinen toten, guten Vetter?« schrie Eddie und sprang los. »Dir werde ich – mich verprügeln lassen und schlecht über meinen toten Vetter…«
Regan schien alles, nur nicht diese Reaktion erwartet zu haben. Zwar wich er, als Eddie wie ein fauchender Tiger auf das Gitter zusprang, erschrocken zurück, stieß dann aber gegen die aufstehende Jailtür und kam nicht mehr davon. Eddie Shaggers zeigte jetzt, zu welcher Gewalttätigkeit er neigte. Ehe der bärtige Alte ausweichen konnte, schossen Eddies Hände durch die Gitter und packten Regans Bart.
»Du redest nie mehr schlecht über meinen guten Vetter!«
Und dann geschah das, was Neil Ferguson gefürchtet hatte. Als Eddie versuchte, den alten Regan am Bart an die Gitter zu ziehen, schnellte
der verdammte Posaunentröter und Townmarshal David Jericho neben dem Alten her.
»Eddie, zurück, Eddie!«
Ferguson, der die Katastrophe kommen sah, versuchte vergebens, Eddie, den Giftpilz, zurückzuhalten. Ehe Eddie, der in seiner besinnungslosen Wut noch niemals einen Funken Verstand bewiesen hatte, den Bart des Oldtimers loslassen konnte, zuckte David Jerichos Rechte empor. Wiederum sah Ferguson nicht, woher die Waffe kam. Sie lag so urplötzlich in der Faust dieses höchst seltsamen Undertakers, daß es an Zauberei zu grenzen schien. Und dann knallte der Colt auch schon herunter.
»Habe ich dich gewarnt?« zischte David Jericho. »Das machst du nie wieder, Halunke!«
Der Hieb mit den Coltlauf erwischte Eddies Fingerknöchel, und Eddie schrie heulend auf. Es war, als hätte ihm sein Alter den verfluchten Taktstock über die Finger geschlagen. Ehe Eddie jedoch loslassen und seine höllisch schmerzende Hand in die Zelle zurückreißen konnte, schoß Jerichos Linke durch die Stäbe und erwischte Eddies rechtes Ohr. Es war ein großes, abstehendes Ohr, das unter dem Drehgriff dieses dreimal verfluchten Posaunentröters Korkenzieherformen anzunehmen schien.
Ferguson, der die Szene stumm und entsetzt beobachtete, sah nicht mal, daß Jerichos Colt wieder verschwand. Dafür sauste Jerichos Rechte nun auch noch in die Zelle und packte Eddies linkes Ohr. Während Eddie seine Hände brüllend in Sicherheit brachte und sie ausschlenkerte vor Schmerz, wurde auch sein linkes Ohr zum Korkenzieher. Aus Eddies Gebrüll wurde ein entsetzliches Geheul. Tränen schossen ihm aus den Augen, er erhob sich vor Schmerz auf die Zehenspitzen – und dann knallte er zwei-, dreimal mit dem Schädel gegen den einen Jailgitterstab.
»Dich werde ich lehren, dich an einem alten Mann zu vergreifen!« donnerte Jericho. »Ab mit dir, du Posaunenventilentzweischießer!«
Ferguson riß verstört die Augen auf. Er begriff nicht, woher dieser nun wahrhaftig nicht riesige und besonders gewaltige Undertaker die Kräfte nahm. Eddie schoß, als hätte ihn ein Riese fortgeschleudert, quer durch die Zelle, knallte mit dem Hinterkopf an die Gegenwand und sackte an ihr zusammen. Er blieb augenrollend sitzen und röchelte nur noch.
»Nun, nun«, sagte David Jericho – und Ferguson lief es eiskalt über den Rücken, weil der Undertaker schon wieder völlig gelassen und direkt müde wirkte. »Da sitzt der Halunke und ruht sich von seinen Schandtaten aus. Ferguson, du kannst ihm bestellen, daß er nur noch einmal wild zu werden braucht, und er wird dann nicht mal mit zur Beerdigung seines Vetters dürfen, sondern hier im Loch stecken bleiben, verstanden? Ist was, Bill?«
»Dieser Wahnsinnige!« ächzte Old Regan und rieb seinen Bart. »Teufel auch, er hat mir beinahe den Bart ausgerissen, der Satansbraten. Loche ihn ein, bis er zahm ist, Jericho.«
Jericho zuckte nur die Schultern, schob Old Regan aus dem Jail und schloß die Tür hinter sich. Er hörte noch, wie Ferguson fluchte: »Du verdammter Vollidiot, wann lernst du endlich Beherrschung? Ich sollte dir alle Knochen brechen, Mensch!«
»Mein Gott, Onkel Bill«, stammelte Mabel Regan erschrocken. »Sie waren doch auf der Ranch beim Auftrieb ganz friedlich. Was ist nur in diese Burschen gefahren?«
»Das frage ich mich auch«, knirschte Bill Regan. »Es war nichts gegen ihre Arbeit zu sagen, wenngleich dieser Eddie immer ein großes Maul hatte, aber mit Rindern konnten sie bestens umgehen. Der verfluchte Fusel muß sie so verändert haben. Gib mir einen Drink, wenn du einen hast, Jericho – Teufel, du hast ja keinen Whisky hier, was?«
»Habe ich nicht«, bestätigte Jericho. »Tut mir leid, Bill, wenn ich wirklich mal einen Bitters für meinen Magen brauche, hole ich mir den bei Alan Price. Was ist, willst du hier übernachten, soll ich Price Bescheid geben?«
»Übernachten?« brummte der Oldtimer unwirsch. »Mann, ich habe zwei Tage in Perkinsville liegen müssen. Kann mir keinen Tag mehr leisten und muß zur Herde. Daß diese Kerle einfach davonritten – beim Treiben die Herde im Stich ließen –, regte mich doch verdammt so auf, daß ich ihnen nachritt. Hätte verdammt nicht reiten sollen. Dachte, meine Hüfte zerbräche bei der Stuckerei im Sattel. Ich war halbtot nach dem Ritt und mußte wirklich liegen. So weit ist es mit mir gekommen – ich kann nur noch fahren.«
»Na, na«, murmelte Jericho. »Immerhin hätte dein rechtes Bein samt der Hüftknochen völlig steif werden können. Du kannst fahren, aber andere, die ein wilder Bulle auf die Hörner nahm, liegen längst unter der Erde, also beklage dich nicht. Miß Mabel, er vergißt immer, daß er keine dreißig Jahre mehr ist.«
»Ja, Marshal, er mutet sich zuviel zu«, nickte Mabel Regan, Jericho leicht errötend anblickend. »Es ist schlimm mit ihm, er läßt sich von niemand etwas sagen und muß immer mit seinem Kopf durch die Wand.«
»Nun höre sich einer das Kücken an«, grollte der Oldtimer. »Sie ist wie meine gute Schwester – kommandiert mich herum wie… Na, schon gut, schon gut, Kind. Ich meine es nicht so. Dieser Eddie Shaggers! Und so einen Kerl schickt mir dein Vetter Alec zur Aushilfe, nicht zu glauben. Was hat sich der Junge nur dabei gedacht? Ferguson geht ja, aber die Shaggers – so ein verdammt pflichtvergessenes Gesindel! Na, ich werde Alex was erzählen, daß ihm die Löffel klingen, Jericho. Wie lange willst du Eddie und Ferguson einlochen?«
»Ich denke, ich jage sie morgen aus dem Jail«, meinte Jericho achselzuckend. »Shaggers war stockbetrunken, als er auf mich lospreschte. Ich bin sicher, er hat wirklich auf meine gute Posaune und nicht auf mich schießen wollen, Bill. Es ist ein Jammer – trifft dieser Verrückte das Ventil so, daß ich das hohe C und F nicht mehr spielen kann. Ich habe alles versucht, den Tubus auszubeulen, aber es ist nicht zu schaffen. Nun muß ich die Posaune zu Wagner nach Tucson mitnehmen. Das ist der einzige Instrumentenmacher in ganz Arizona, der sie reparieren kann.«
»Du mußt nach Tucson, Jericho?«
»Ja, aber nicht wegen der Posaune – wegen Norman Godfreys Prince-Albert-Coffin. Godfrey hat mir einen Haufen Bilder von Prince Alberts Beerdigungszeromonie gebracht. Ich habe ihm den Sarg genau nachbauen müssen.«
»Hä?« staunte Old Bill mit offenem Mund. »Den Sarg muß ich sehen! Wo hast du ihn?«
»Na, wo schon – in der Werkstatt«, murrte Jericho. »In drei Tagen müßte ich mit der letzten Politur fertig sein. Dann werde ich fahren. Habe keine Lust, am Agua Fria herunter zu zockeln, werde wohl die Tonto Route über Globe City nehmen. Die Strecke ist abwechslungsreicher. Könnte sein, ich hole dich noch ein, Bill.«
»Das ist die zweite gute Nachricht an diesem Tag«, freute sich der Alte. »Wahrhaftig, du könntest unseren Wagen etwa an den Santa Catalinas vor dir sehen, wenn du dich ein wenig beeilst. Sonst treffen wir uns sicher in Tucson. Ich werde ein paar Tage zu tun haben. Muß mich endlich mal um die Cienega Ranch kümmern. Alec scheint ganz gut zurechtzukommen, hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Der Junge hat wohl doch mehr von uns Regans als von seinem Alten, diesem Leichtfuß McLoud. Dieser Schottenbursche taugte keinen Schuß Pulver, aber meine arme Schwester wollte ja nicht auf mich hören, sage ich dir. Jedenfalls vermehrt Alec das Geld, das ich in die Ranch gesteckt habe. Die Bankberichte über das Guthaben klingen vielversprechend. Ich fürchtete heimlich, er würde nicht zurechtkommen und Schulden machen.«
Drüben im Jail starrte Eddie zu Ferguson, der an die Zellentür geschlichen war und lauschte. Über Fergusons Gesicht glitt ein spöttisches Lächeln, denn Ferguson verstand fast jedes Wort des Alten, da Regan laut und polternd sprach.
»Was ist – was ist, Neil?« stöhnte Eddie, sich die Ohren massierend. »Was sagt er – was?«
»Er glaubt, Alec hat keine Schulden gemacht, weil sein Konto auf der Bank in Ordnung ist«, hechelte Ferguson spöttisch. »Stell dir das mal vor!«
»Der glaubt…, hähähä!« legte Eddie los und vergaß das Zwicken seiner Ohrmuscheln. »Hähähä, ich werde verrückt, ich werde…«
»Halt’s Maul!« zischte Neil Ferguson. »Ich kann ja nichts verstehen, wenn du dummer Hund wie eine verdammte Hyäne lachst. Die haben was von Tucson geredet, das habe ich auch schon nicht verstehen können, weil du über deine Löffel gejammert hast. Sei still, Mensch!«
Eddie schwieg und schnitt eine Grimasse, während Ferguson wieder lauschte. Er hörte jedoch nur noch, daß Regan auf die Armee schimpfte: »Das ist das sturste Volk in diesem Land, sage ich dir, Jericho. Du bringst ihnen deine guten Rinder, aber sie geben dir nichts als ein schäbiges Stück Papier, das sie Anweisung nennen und für das du dann erst bares Geld bei der State Bank in Tucson siehst, aber erst nach Tagen, wenn du Pech hast. Geschäfte macht man gegen Bargeld, sonst gar nicht, hol’s der Geier! Was soll ich mit einer Anweisung über zehntausend Dollar, he? Bargeld lacht, so ist das!«
»Immerhin kann niemand außer dir mit der Anweisung etwas anfangen«, bemerkte Jericho trocken und ging zur Tür. »Na, dann kommt – ich bin bei Masterson Douglas zum Kaffee eingeladen, und es wird höchste Zeit, daß ich dort erscheine.«
Gleich darauf klappte die Tür des Office, und die Schritte entfernten sich.
Neil Ferguson wandte sich um, hockte sich auf die Pritsche und starrte vor sich nieder.
Hätte David Jericho gewußt, was Ferguson dachte und was er wenig später Eddie zu erzählen hatte, hätte er sie todsicher nicht am morgigen Nachmittag aus dem Jail gejagt.
In Gedanken war David Jericho, der seltsame Townmarshal, Undertaker, Sargmacher und Posaunentröter, schon bei jenem Prachtsarg, den er nach Tucson bringen mußte. Er dachte auch an das demolierte Perinet-Ventil und daran, daß Mabel Regan ein verdammt hübsches Girl war, wenngleich Ireen Douglas, seine Miß Lehrerin, bestimmt hübscher war.
David Jericho ahnte nichts von dem, was auf ihn wartete. Er hatte sich vorgenommen, Moss Shaggers morgen gegen elf Uhr zu beerdigen und danach dessen Vetter Eddie, den Giftzwerg, davonzujagen. Zwei Tage später – und da Jericho es so geplant hatte, würde es so geschehen! – würde er seine Posaune in den Posaunenkoffer packen, den Sarg in Decken und Überzug hüllen und über die Verde River- und Tonto Route nach Tucson fahren.
David Jerichos Plan war fertig. Er sollte auch losfahren und sogar bis an die Santa Catalina Mountains kommen. Aber dann…
*
Die Sonne schien auf Jerichos gekrümmten Rücken, aber Jericho fror wie ein Hund. Es war ein anderes Frieren als jenes, das ihm heute früh zwischen den Schulterblättern gesessen hatte, denn am Morgen hatte es noch geregnet.
Mein Gott, dachte David Jericho und starrte die Hufspur an, das vierte Pferd – vier Männer: einer kurz vor der Steigung hinter den Felsen, der zweite drüben zwischen den Büschen, der dritte Mann hat hinter der Ecke rechts gesteckt, der vierte hier. Und dann sind sie heraus, als der Wagen genau zwischen ihnen war…
Jericho rannte los, kam keuchend über das Geröll, starrte es an, aber er sah nichts – absolut keine Schrämmspuren von Radreifen.
Geglättet, schoß es Jericho durch den Kopf, hinterher jede verräterische Spur beseitigt. Mein Gott, es wäre mir nicht aufgefallen, ich war ja schon eine halbe Meile weiter gefahren, als diese Sandsenke kam und die Wagenspur nicht mehr da war. Da bin ich erst aufmerksam geworden und habe den Wagen gewendet. Hier oben also! Auf Geröll sieht man keine Spur, das haben die vier Kerle sich auch ausgerechnet. Wohin sind sie mit dem Wagen?
Plötzlich überkam ihn die Angst, denn acht Stunden mußte der Überfall her sein. Es gab keinen Zweifel, dies war ein Überfall gewesen, der Big Bill Regan und Mabel gegolten hatte. Selbst wenn der Alte, der wegen des Regens sicherlich den Regenumhang getragen hatte, noch zum Colt gegriffen hätte – eine Chance hatte er gegen die vier Kerle nie gehabt. Die waren wie der Blitz aus den Deckungen gejagt und hatten ihm die Revolver vorgehalten!
Jericho rannte zu den Felsen, stieg auf sie, sah das Geröllfeld jenseits nach Südosten hin in die Senke abfallen. Jetzt wußte er, wohin der Wagen gerollt war, nachdem die Burschen den alten Bill und seine blutjunge Nichte gehabt hatten: Südosten!
Herr im Himmel, dachte Jericho beklommen, warum mußte ich bei Trasher in Globe City bleiben, warum den halben Tag damit vertrödeln, mit ihm ein Geschäft über ein Dutzend Särge abzuschließen? Seine Frau ist so nett, sie backt zu gute Kuchen. Wäre ich doch nicht geblieben, sondern weiter gefahren – ich hätte sie nachts in der Winkelmann Station angetroffen, aber es regnete, die Trashers ließen mich nicht fort. Oh, ich elender Narr, ich hatte doch so ein blödes Gefühl wegen der Anweisung über zehntausend Dollar in Big Bills Tasche.
Er hatte das Gefühl hinter Fort Reno bekommen, es war plötzlich in ihm gewesen, aber er hatte darüber zunächst gelacht. Zuviel Phantasie, was? Shaggers und Ferguson konnten ja nichts mit der Anweisung anfangen – hatte er sich getröstet. Und nun?
»Hölle und Teufel!« stieß Jericho durch die Zähne, warf noch einen Blick auf die wolkenverhangenen Berggipfel der Santa Catalinas, ahnte den Regen, der dort fiel. »Das Girl – Mabel! Der Alte hängt an dem Mädchen. Und die Kerle haben jetzt das Girl, konnten den Alten mit der Anweisung nach Tucson begleiten. Zwei bleiben bei Bill, zwei bei dem Mädchen. Und holt der Alte das Geld nicht aus der Bank, passiert seiner Nichte etwas. Verfluchte Idee!«
Er rannte schon wieder, schwang sich auf den Bock, riß an den Leinen und nahm, was er selten tat, die Peitsche.
Fahren, dachte Jericho, ich kann mit meinem Leichenwagen zweimal dort fahren, wo sie mit dem Jump-seat-Wagen Big Bills gefahren sind, ich komme leichter über Stock und Stein hinweg. Sie müssen gefahren sein, denn Big Bill kann nicht reiten, hält es nicht lange im Sattel aus. Alle Wetter, in den Bergen regnet es und hängen die Wolken tief, da wird Nebel sein. Wie weit können die Kerle mit Old Regan und Mabel sein?
Der Leichenwagen rumpelte los, schaukelte in die Senke hinein, die zu den Bergtälern führte. Der Prachtsarg, die Doublette von Prince Alberts Coffin, stand fest verzurrt im Kasten und rührte sich nicht.
»Der verdammte Nebel«, fluchte Jericho verbissen, »nimmt mir jede Sicht, wenn es dunkel wird und sie länger als sechs Stunden mit dem Wagen unterwegs gewesen sind. Ich muß schnell sein, sonst ist es hell, noch muß die Spur zu sehen sein. Was wird dort hinten?«
Er fuhr schneller, folgte der Senke, kam um die Biegung und sah das Tal vor sich, das nach Südwesten lief. Und dann sah er noch etwas – die Spuren der Räder, daneben die der Reitpferde. Die Kerle hatten es hier nicht mehr nötig gehabt, die Spuren zu löschen. Sie wußten zu genau, daß niemand die plötzlich nicht mehr vorhandene Wagenspur auffallen konnte. Bill Regan hätte ja abbiegen, vielleicht nach Alder Grove fahren können. Am Morgen waren Jericho drei Frachtwagen entgegengekommen, und der eine Fahrer hatte ihm gesagt, sie wären Big Bill begegnet. Sonst kein Wagen, kein Reiter, auch die Stagecoach fuhr erst in zwei Tagen wieder.
»Kein Mensch wird ihn vermissen«, schnaufte Jericho. »Alle Teufel, die vier Burschen hatten es gar nicht nötig, sich hier noch Arbeit mit den Spuren zu machen. Wo sind sie hin?«
Er wußte es nicht, aber eins wußte er genau: er würde diese Spur nicht verlieren, solange es hell war. Vier Reiter und der Wagen, der hinterließ überall seine Spur für einen Tag bei diesem Wetter. Erst morgen würde sich die Spur verlieren, weil der Regen sie fortwusch.
Shaggers, dachte Jericho, Ferguson und noch zwei Kerle. Eddie ist also zu Alec gekommen, hat dort bestimmt alles hingeworfen und Alec vielleicht gar nichts vom bevorstehenden Besuch des Alten erzählt. Dann hat er sich ein paar Freunde gesucht und dieses verdammte Ding geplant. Na, warte, Eddie, du Giftpilz, ich finde dich. Und dann erlebst du was!
»Wenn es nur nicht dunkel wird«, knurrte Jericho. »Ich kenne den Nebel in den Bergtälern, da sieht man keine dreißig Schritt weit. Und dann noch Dunkelheit dazu? Gute Nacht, Mary!«
Alles durfte passieren, nur dunkel durfte es nicht werden, ehe er das Ende der Wagenspur gefunden hatte. Wohin konnten die Kerle sein – wie weit entfernt?
*
Herr im Himmel, dachte Jericho, ist das eine graue Suppe. Und dazu wird es auch noch in knapp zwanzig Minuten dunkel. Der Bach links, der über die Felsen herunterkommt, den sind sie entlanggefahren und hier abgebogen. Dies ist ein Seitental voller Nebel, hier wächst Gras, sind Büsche wie dort hinten am Bach. Ich lasse den Wagen stehen, ich nehme mein Reitpferd und sehe mich dort oben am Wasserfall um. Mit dem Pferd kommt man zwischen den Felsen durch, mit dem Wagen nicht. Die Kerle sind im Bogen gefahren. Es waren nur noch zwei Mann am Wagen, die anderen beiden sind am Wasserfall zu Pferd herauf, also muß das Versteck dort irgendwo sein.
Jericho zog an den Leinen, brachte den Wagen jäh zum Stehen. Er roch die Nähe des Verstecks sozusagen, das hier hoch oben in den Bergen lag. Das letzte Huftacken hallte von der Talwand zurück, kam wieder und…
»Mensch!«
Das war das einzige Wort, das Jericho hervorstieß und jäh herumfuhr.
Das war nicht sein Echo, das kam von hinten aus dem verdammten grauen Dunst, das kam vom Wasserfall, dessen Rauschen er gerade noch hören konnte.
Hufetacke auf Felsen!
»Du großer Geist!« ächzte Jericho. »Reiter – das sind Reiter. Die haben noch knapp hunderfünfzig Schritt zu reiten, dann stoßen sie auf die frische Spur meiner Wagenräder. Allmächtiger, sie sehen sie sofort, das sind keine Idioten. Oh, verdammt, verdammt, weiter, bloß langsam weiter mit dem Wagen, und dann auf den Gaul reiten. Die habe ich gleich am Hals, wetten?«
Angst hatte er nicht, aber unheimlich war es schon. Man sah nichts, hörte jedoch alles. Und der verdammte Nebel verzerrte alle Geräusche.
Jericho fuhr sacht an, brachte den Wagen hinter Büsche, flog in den klatschnassen Sattel seines Pferdes und hörte den dumpf trommelnden Hufschlag hinter sich leiser werden. Während er anritt, rechnete er sich die Sekunden aus, die es noch dauern konnte, bis die beiden Reiter – es mußten nur zwei sein dem Hufschlag nach – auf die Wagenspur jagen würden. Und dann?
Irgendwo in Jericho meldete sich das elende Gefühl ein Pechvogel zu sein. Er hatte anscheinend kein Glück heute, obwohl er immerhin die Wagenspur des Jump-seat-Wagens gefunden hatte.
Weiter, dachte er, so viel Vorsprung wie nur möglich gewinnen. Was kommt denn dort vorn?
Er sah den Felsen aus dem Dunst wachsen, kreuzte die Spur des Jumpseat, sah sie nach links abbiegen, während er rechts in ein anderes Tal ging. Jericho ritt nach rechts, kam genau fünfzig Schritt weit, als…
Das Huftacken verstummte jäh, lähmende Stille breitete sich aus.
Gerechter Gott, jetzt hielten die Kerle, starrten die Spur an, erschraken sicher und sahen den Furchen nach, glotzten wie verstört in den Nebel, oder?
Weiter, dachte Jericho, bloß nicht anhalten, die kommen gleich, wetten?
Er lauschte nach hinten, ließ das Pferd traben, erschrak nun selbst, weil das Tal steinig wurde, kaum noch Graswuchs am Boden war und die Hufe klopften. Und dann kam es weit hinten, jagten die Gäule an, hallte der Hufschlag durch den Nebel.
»Los!« zischte Jericho. »Vorwärts, Brauner, die denken sicher, daß ich stur der Wagenspur nachgefahren bin. Vielleicht merken sie zu spät, wohin ich mit dir bin und jagen auf der Spur des Jump-seat weiter. Das würde noch etwas Vorsprung sein.«
Er ritt, sah rechts und links steile Wände und zerklüftete Felsblöcke in Massen. Die Wände kam man höchstens kletternd hinauf, aber zwischen den Blöcken konnte man sich im Notfall verstecken und bei dem Nebel ein halbes Hundert Leute narren, wenn man sich darauf verstand.
Jericho ritt etwa sechzig Schritt, dann brüllte jemand keine hundertachtzig Schritt hinter ihm los: »Vorsicht, da steht der Wagen! Links herum, Neil, links!«
Neil, dachte Jericho, Neil Ferguson – und das ist Eddies Stimme. Der Giftpilz ist da hinten, verdammt, verdammt!
Hufe polterten, das Echo kam von rechts und links hinten. Und dann…
»Gott ver…, das ist ja der Leichenwagen, Neil! Vorsicht, Mensch, langsam, der könnte in der Nähe sein. Paß auf, Mann, paß auf!«
Die Stimme des Giftpilzes schrillte durch den Nebel, überschlug sich beinahe.
Weiter, dachte Jericho kaltblütig, im Schritt weiter. Jeder Schritt kann jetzt wichtig sein. Mal sehen, was das wird und ob sie es entdecken.
Er ritt vielleicht fünfzehn Sekunden, dann kam der heulende Schrei zu ihm: »Der hat seinen Reitgaul genommen, Neil. Die Spur ist ganz frisch – vorwärts, du links, ich rechts!«
Sie hatten die Hufspur, sie jagten an.
David Jericho schlug dem Braunen die Hacken ein und preschte vorwärts. Das Tal stieg an, es führte nach Südosten, aber wie weit?
*
Die Welt war zu Ende. Vor Jericho wuchs die Steilwand zerklüftet hoch. Ein Sacktal, eine Mausefalle, in der er festsaß und nicht mehr herauskommen konnte.
»Deshalb haben die geschossen vorhin«, zischte Jericho und raste schon nach links auf die Felsblöcke unterhalb der Wand zu. »Drei Schüsse blindlings hinter mir hergeknallt, ein Signal für die anderen beiden Halunken, die nicht weit sein dürften. Einer wird bei den Gefangenen bleiben, der andere kommt, hat bestimmt gehört, aus welcher Richtung die Schüsse gefallen sind. Noch habt ihr mich nicht, Eddie, du Giftzwerg. Das wird hart für euch!«
Er brachte den Braunen hinter den Blöcken zum Stehen, hörte den herantrommelnden Hufschlag und dann durch den Nebel Eddies Schrei: »Stop, weit genug – der steckt in der Falle, der Idiot! He, Idiot, gleich haben wir dich!«
Idiot, dachte Jericho und grinste kalt, mal sehen, wer ein Idiot sein wird, Junge. Schön still jetzt, aber ich wette, ihr bleibt zusammen. Bei dem Nebel und der immer mehr fallenden Dunkelheit könnt ihr euch nicht trennen. Ich könnte euch sonst einzeln erwischen. Habt ihr gehört, wohin ich geritten bin, daß ich hier links stecke?
Jericho packte sein Gewehr, rannte los und jener drohenden Stille entgegen. Er wußte, daß sie kamen, daß sie ihn jedoch noch lange nicht sehen konnten. Er packte einen Stein, holte aus und warf ihn der anderen Talwand, die dreißig Schritt entfernt war und im Dunst verschwamm entgegen.
»Klick-klick-klick!«
Der Stein prallte drüben auf, hüpfte über irgendwelche Felsen.
Gut, dachte Jericho, jetzt denkst du, daß ich dich tricksen will und doch hier bin, was? Paß mal auf, Eddie, du Giftpilz, was ich mache!
Er rannte geduckt los, feuerte einen zweiten Stein ab, der im weiten Bogen nach rechts sauste. Der Stein prallte auf.
»Klick-klack-klack!«
Dann war Jericho drüben und verschwand zwischen den Felsen. Er hockte sich einen Moment nieder, ehe er loskroch. Jetzt schlich er ihnen auf der Gegenseite, statt drüben, wo sie ihn vermuteten, entgegen. Und dann lag er jäh still.
Knapp über den Talboden hinwegspähend, machte er drüben den ersten Schatten aus. Der zweite Schatten kam, verschwand im schon beinahe schwarzen Hintergrund zwischen den Felsblöcken.
Kaltblütig schob sich Jericho weiter, bis er hinter eine Klippe hochkam, den ersten Stein mit aller Kraft in Richtung Sperrwand feuerte und gleich den zweiten auch noch davonsegeln ließ.
Na, dachte er spöttisch, als er das Geklicker an der Wand hörte, was denkt ihr jetzt – daß ich die Wand hochsteigen will, was? Da geht es hinaus, dort klettere ich, oder? Eddie, du elendes Großmaul, gleich drehst du durch, nur noch zehn Sekunden, vielleicht auch zwanzig, aber gleich wirst du verrückt, Mister, oder ich will nicht mehr David Jericho Graves heißen, hihi!
Er kroch jetzt so schnell er konnte quer durch das Tal auf die Seite zurück, von der er gekommen war. Einen Augenblick packte ihn die Furcht, daß sie nicht auf den Trick hereingefallen waren und es gleich krachen würde, doch dann erreichte er die Felsen, rannte los nach Nordwesten zurück. Ihre Pferde standen dort irgendwo!
Stille hinter ihm, Totenstille, während er rannte und an den überhängenden Klippen vorbeikam, sekundenlang zauderte, dann jedoch nach einem scharfen Blick in die Höhe weiterrannte.
Die Gäule, dachte Jericho, ich muß ihre Gäule sehen. Und dann, Amigos…
Keine zehn Sekunden darauf sah er sie vor sich und blieb stehen. Er war nicht sicher, ob sie an irgendeinem Felsblock angebunden waren, packte den nächsten Stein, zielte, holte aus und warf.
Der Stein traf das eine Pferd, das jäh wieherte und stieg, sich aufbäumte, einen Satz machte und…
Eddie, dachte Jericho, du bist ein Narr, du weißt es gleich, Mister, gleich drehst du durch.
Das Pferd stürmte los, das andere raste ihm nach und wurde noch von Jerichos zweiten Wurf getroffen. Der Gaul trompetete wie wild, verschwand im Nebel. Und hinter Jericho…
»Neil, Neil, der Hund, der verfluchte Hund! Er hat sich an uns vorbeigeschlichen. Die Gäule, die Gäule! Auf den Braunen von dem Kerl, auf seinen Gaul – hinterher, schnell, schnell!«
Jericho lief und kicherte, schwang sich auf die überhängende Klippe und warf sich im Hufgetrommel, das durch das Tal dröhnte und sich entfernte, flach hin.
»Siehst du, Eddie«, gluckste Jericho. »Nun hast du mein Pferd und wirst dich mit Neil auf es schwingen. Und dann kommst du angejagt wie ein Verrückter – vielleicht hier durch oder doch zu weit entfernt? Komm, Mister, komm, ich warte schon. Und weißt du, warum ich warte: weil ich ahne, daß dein dritter Partner am Wasserfall herunterreitet und bald die beiden Gäule auf sich zukommen sieht. – Stell dir vor, ich hätte im Sattel eines der Pferde gehockt und er mich vor dem Gewehr gehabt. Es stirbt sich verteufelt schnell, Eddie, Giftpilz…«
»Der verdammte Posaunentröter!« heulte der Giftpilz in höchster Wut. »Den bringe ich um, wenn ich ihn habe. Der Schweinehund, der lästerliche Schweinehund!«
Der Braune wieherte, seine Hufe knallten auf Gestein.
Komm, dachte Jericho, komm, Freundchen. Und wenn ich mein Pferd erschießen müßte – vorbei kommst du nicht!
*
Jericho raste los und stieß sich jäh von der Kante ab, schnellte hoch, streckte die Beine blitzschnell vor. Er sah noch, daß Eddie im Sattel hockte, sich weit nach vorn gebeugt hatte und Ferguson Eddies Hüften umklammerte, hinter dem Sattel saß und nun den Kopf herumriß.
Habe ich doch gewußt, dachte Jericho, hält der sich mit beiden Händen an Eddie fest. Gute Reise, Ferguson!
Das nackte Entsetzen verzerrte Fergusons Gesicht zu einer Fratze, als er die Beine auf sich zuschießen sah. Er schrie gellend auf, kam nicht mehr davon, wurde von Jerichos linkem Stiefel an der rechten Schulter erwischt und flog nach links vom Braunen. Jerichos rechter Stiefel streifte den im Sattel herumfahrenden Eddie Shaggers, riß den Kerl noch nach links hinüber, aber feuerte ihn nicht vom Gaul. Doch dann kam das Gewehr, das Jericho im Absprung geschwungen hatte. Aus den Augenwinkeln sah Jericho noch, wie der Gewehrkolben über Shaggers rechte Schulter hinwegsauste und an Shaggers Hals landete.
Danach war für Jericho die Hölle los. Er prallte mit dem Gesäß auf
die Kruppe des Braunen. Die Kruppe hob sich, der Gaul stieg erschreckt und feuerte Jericho in die Höhe.
Gerechter Moses, nur nicht mit dem Kopf aufkommen, nur nicht mit dem Kopf, dachte Jericho noch verzweifelt, während er sich überschlug und zusammenkrümmte. Er riß das Gewehr vor sich, konnte es gerade noch querdrehen, als er aufprallte und über den Boden kollerte. Die Schulter schmerzte, sein Zylinder war fort, aber er schoß in die Höhe, wirbelte herum und sah Ferguson keine drei Schritt links von sich am Boden liegen. Ferguson stöhnte, wollte sich aufstemmen.
»Hier bin ich!« knurrte Jericho, indem er auf ihn zuflog und das Gewehr wie einen Dreschflegel schwang. »Sieh mal, Ferguson!«
Ferguson starrte ihn an wie ein neugeborenes Kalb. Es war nichts als völlige Verständnislosigkeit in seinem Blick, bevor das Gewehr ihn streichelte und seine Pupillen sich so verdrehten, daß Jericho überzeugt war, Ferguson wollte sich selbst ins Gehirn schielen. Ferguson fiel wieder auf die Brust, aber links ertönte ein Schrei, und der Schrei ließ Jericho blitzschnell zu Boden stürzen.
Rumms!
Das Fauchen der Kugel kam mit dem Knall. Das Geschoß verfehlte
Jericho um nicht mehr als eine Zylinderhöhe. Vielleicht hätte es seinen Zylinder sogar noch erwischt, wenn er ihn auf den Kopf gehabt hätte.
Jericho krachte hin, rollte sich nach rechts und sah den zweiten Feuerstrahl, hörte das Brüllen und das Jaulen der einen halben Schritt neben ihm gegen den Boden schlagenden und absirrenden Kugel. Jetzt sah er Eddie Shaggers, machte nur beide Arme mit dem Gewehr lang und drückte ab.
Rumms!
»Aaaah!«
Der Schrei Shaggers gellte schrill durch den Sackcanyon. Eddie schien eine Faust am rechten Bein zu treffen, eine Riesenfaust, denn es riß ihm das Bein glatt weg. Er krachte hin, verlor seinen Colt beim Aufschlag. Und dann kreischte er wie ein am Marterpfahl Angebundener, unter dessen Füßen man ein freundliches Feuerchen entfacht hatte. Eddie wälzte sich heulend hin und her, sein Bein umklammernd. Es war nicht auszuhalten, wie dieser Giftzwerg kreischte, der zwar vom Gaul gefallen, aber voll bei Bewußtsein geblieben war.
»Hör auf!« fauchte Jericho, als er neben ihm war. »Sei still, Eddie, du sollst den Mund halten, Mensch!«
Er hielt ihn nicht, er heulte wie hundert Sirenen und steckte voller Niedertracht, als er sich jäh herumwälzte und nach dem Colt schnappen wollte. Dann hielt ihn das Gewehr Jerichos auf, und es war plötzlich so still, daß es direkt unheimlich im Canyon wurde.
Jericho blickte seinen Gewehrkolben an und schüttelte wie verwirrt den Kopf, als er sich nach Eddies Colt bückte und das Ding zwischen die Felsen schleuderte.
»Kreischt wie ein Geier und wälzt sich gegen das Gewehr – tsst, tssst!« machte Jericho und sperrte die Augen auf, als er nach Eddies blutendem Bein sah. »Nicht zu glauben – nur ein Kratzer, das Holster getroffen und abgerissen – und der stellt sich so an. Moment, Ferguson, ich bin gleich da!«
Er riß Eddie den Hosenriemen aus den Schlaufen und band ihm die Hände auf dem Rücken. Dann rannte er zu Ferguson, der sich nicht rührte, und band dem Burschen mit dem Halstuch die Hände, mit dem Hosenriemen die Füße. Fergusons Colt flog auch zwischen die Felsen.
Jericho lauschte, hörte nichts – es blieb totenstill. Dennoch fühlte er die drohende Gefahr. Zwei Mann waren noch da – einer todsicher bei den Gefangenen, der andere mußte dort sein, wohin die Pferde gerannt waren, denn es gab nun keinen Hufschlag mehr.
Der dritte Halunke hat sie eingefangen, überlegte Jericho, der schleicht vielleicht schon das Tal herauf. Und wie schnell kann ich die Sackwand hinaufkommen?
Er zauderte nicht länger, er lief los. Zu Fuß konnte der dritte Mann nicht vor drei Minuten hier sein. Und bis dahin mußte Jericho auch über die Wand gestiegen und aus dieser verdammten Mausefalle sein…
*
Geschafft, dachte Jericho zufrieden, als er sich mit einem letzten Schwung hochwarf und bäuchlings auf dem Talrand liegenblieb. Na, wer sagt es denn, daß ich nicht in zwei
Minuten herausklettern kann? Jetzt los, nach Norden rennen. Irgendwo im Norden sind die Burschen geritten, ist die Hufspur, muß das Versteck sein.
Er nahm das Gewehr auf, lauschte noch einmal, aber alles blieb totenstill. Da unten schlich einer, Jericho fühlte es und huschte um den Felsblock. Dann sah er die Lücke im Wirrwarr der hier wie aufgetürmt liegenden Klippen und Blöcke, auf denen die kleinen Krüppelkoniferen wuchsen.
Jericho huschte der Lücke entgegen, blieb stehen, sah sich lauschend um. Immer noch Stille, verdammte Stille!
Los, weiter!
Er duckte sich, kam durch die Lücke und…
Das Kratzen ließ ihn blitzschnell nach vorn hechten. Ein Schnaufen war hinter ihm, und er lag schon, sah den Mann unmittelbar hinter sich landen, holte im Liegen aus und säbelte ihm mit dem Gewehr die Beine weg.
Der vierte Mann hatte hier gelauert!
Eine Viertelsekunde schoß ihm der Gedanke durch den Kopf. Der Mann schrie, kippte um, schlug der Länge nach hin und schien mit seiner Nase den Boden pflügen zu wollen. Doch dann…
Links ein heranfliegender Schatten, der Schrei von rechts: »Packt ihn doch, ihr Narren!«
Was ist, dachte Jericho, und sein Gewehr wurde zur Sense, knallte dem Kerl, der ihn ansprang und sich auf ihn stürzen wollte, vor das Schienbein. Der Bursche schrie wie ein Ochse, dem man eins mit der Ochsentreiberpeitsche über das Fell gezogen hatte, kippte zur Seite um, aber da war der nächste schon über Jericho. Der Kerl umklammerte Jerichos Gewehr im Herabkommen, stieß es schreiend gegen Jerichos Brust. Daß Jericho noch Beine hatte, schien er vergessen zu haben.
David Jericho riß die Knie an, rammte sie dem Burschen in den Leib. Der röchelte und sperrte den Mund so weit auf, daß Jericho beinahe Mitleid mit ihm verspürte. Ehe er auch nur einen bedauernden Gedanken fassen konnte, raste etwas auf seinen Kopf zu. Er sah noch jemand, der einen Dreschflegel zu schwingen schien.
So viele, dachte David Jericho Graves, Townmarshal, Undertaker, Sargmacher und Posaunentröter noch verstört, so viele, nicht nur zwei? Wo kommen die denn alle her?
Dann explodierte eine Bombe. Es hörte sich an, als flöge das komplette Pulvermagazin von Fort Verde in die Luft. Das letzte, was Jericho fühlte, war der Aufprall eines Pulverfasses an seinen Bauch. Danach flog
er mit dem Faß in den Abendhimmel. Er wußte nicht, wohin die Reise ging.
*
Zuerst kreischte nur eine Metallsäge direkt neben Jerichos Kopf. Das Kreischen wollte ihm die Trommelfelle zerfetzen, bis etwas auf ihn herabklatschte. Es war kalt und verdammt naß, also war es Wasser. Durch Jerichos gemartertes Gehirn schien ein Feuerschwert zu fahren und es zu durchtrennen. Danach pochte es nur noch in seinen Schläfen – die Metallsäge kreischte nicht mehr, und die Stimme geiferte schrill: »Gebt mir einen Revolver, gebt ihn mir! Den bringe ich um, den bringe ich auf der Stelle um!«
»Wenn du jetzt nicht das Maul hältst, Eddie, bekommst du was davor!« knirschte jemand links von Jericho, an dessen Lider jemand Bleigewichte angenäht haben mußte, denn sie ließen sich nur schwer öffnen. »Sei still, oder dir passiert was, du verdammter Idiot. Der und ein vertrottelter Undertaker, was? Kein Mensch würde Regan jemals vermissen, alles ginge glatt – ja?«
»Bin ich daran schuld, daß ihr Affen die Spuren nicht gründlich verwischt?« brüllte Eddie Shaggers geifernd. »Darum hat er doch hergefunden, oder? Bringt ihn um, sage ich euch, bringt ihn um, der hat den Teufel im Blut, der Satan steht mit ihm im Bunde. Ich schwöre dir, Jake, ich blase ihn über den Regenbogen. Mein Bein – o Gott, mein armes Bein!«
In Jerichos Augen schoß jetzt das Licht, und dann sah er die Laterne an einem Vorbaudach über sich baumeln, die Wand eines aus dicken Baumstämmen errichteten Blockhauses und in der Tür Shaggers. Rechts und links neben der Tür standen zwei Männer, einer rothaarig, der andere groß, sehnig und breitschultrig, der ein Tuch auf seine Nase preßte.
»Ah, er wird wach«, stellte der Mann links neben ihm kalt fest. »Hallo, Undertaker – du machst uns Ärger.«
Es gelang Jericho nur mühsam den Kopf zu wenden und an dem Mann hochzusehen.
»Jake, blase ihn um!« hechelte Eddie gehässig. »Du machst einen Fehler, wenn du ihn am Leben läßt. Ich sage dir…«
»Mike!« knurrte Jake finster. »Fort mit diesem Giftpilz, oder ich vergesse mich.«
Im nächsten Moment bückte er sich, während Eddie aufschrie und der Mann mit dem Tuch vor der Nase bissig fauchte: »Ab mit dir nach drüben. Und wehe dir, du mischst dich noch mal ein!«
»Ihr seid verrückt!« kreischte Eddie Shaggers, indem er an Jericho vorbeihumpelte. »Das ist purer Aberglaube, nichts als Unsinn, sage ich euch. Und wenn er zehnmal mit Charlie Bowers zusammen war und es miterlebt hat – ich glaube diesen Unsinn nicht. Nichts als blöder Aberglaube, daß man keinen Undertaker umbringen soll. Die Geschichte von Charlie kennt doch jeder, die ist erstunken und erlogen.«
Im gleichen Moment sprang Jake vorwärts. Der große, schwer gebaute Mann flog mit einem Satz vom Vorbau, packte den aufbrüllenden Eddie Shaggers am Kragen und gab ihm dann einen derartigen Stoß, daß Shaggers bis an die Wand des etwa fünfzehn Schritt von Jericho entfernten Steinhauses, eines Flachbaues, schoß.
»Du verdammtes Groß- und Lästermaul!« knirschte Jake, als Eddie wimmernd liegenblieb. »Hinein mit dir, und von nun an geschwiegen, sonst schlage ich dich windelweich. Ich bin damals zu gutmütig gewesen, sonst hätte ich eine Schießerei mit Moss riskiert und dir danach das Maul zugenäht.«
David Jericho Graves hatte nichts als Glück, daß alles auf Eddie Shaggers blickte. Man hätte sonst todsicher bemerkt, wie er zusammengefahren war, als Eddie den großen Burschen mit Charlie Bowers in Zusammenhang brachte.
Jake, dachte Jericho verstört, gerechter Himmel, das ist Jake Higgins! Sein Steckbrief liegt bei mir in der Schublade, wie alle anderen, die ich gar nicht erst anschlagen brauche, weil man die Burschen nie in unserer Gegend sehen wird. Jake Higgins, der Grenzbandit, der Postkutschenräuber und Pferdestehler. Richtig, in seinem Steckbrief steht, daß er damals mit Charlie Bowers für die Rancher in Texas und New Mexico Viehdiebe jagte. Die Story von Charlie Bowers und dessen Ende kennt wirklich jedes Kind. Alle Teufel, Higgins hier? Man vermutet ihn in Mexico drüben, und der Bandit steckt hier in den Santa Catalinas.
David Jericho blieb noch Zeit für einen Blick nach rechts und links. Das Blockhaus, auf dessen Vorbau er lag, befand sich unter einer steilen Felswand. Drüben lag das Steinhaus, das nur eine Tür besaß, dafür jedoch drei Fenster hatte. Linker Hand und etwa dreißig Schritt entfernt stand ein offener Wagenschuppen mit einem stallartigen Anbau. Dort hing eine Laterne und warf ihr Licht über einen langen Corral. Das Licht beschien auch Bill Regans Jump-seat und den vor dem Schuppen stehenden Leichenwagen.
Man schien den Wagen durchsucht zu haben, denn die Sitzbank war aufgedeckt, die Türen des Kastens standen offen. Vom Posaunenkasten, den Jericho auf dem Dach festgeschnallt hatte, war die Schutzplane heruntergezerrt worden.
David Jericho wandte vorsichtig den Kopf und äugte zu dem Rothaarigen. Es mußte Abe Panhurst sein, während der bullige, ungepflegt wirkende Bursche linker Hand, dem das Haar strähnig über die Ohren hing, zweifellos Hank Priestley war. Der hagere, grauhaarige und schon ältere Mann, der mit verschränkten Armen mitten in der Tür des Blockhauses stand, konnte nur James Edson sein. Drüben stieß jetzt jener große, sehnige Mister Eddie in das Steinhaus und fluchte dabei.
Mike Ellery, dachte Jericho bestürzt, der Texaner, der aus derselben Gegend wie Jake Higgins stammen soll. Gerechter, die ganze Bande ist hier versammelt – alle, die auf dem Steckbrief gesucht werden. Was hat ein Bandit wie Higgins mit Shaggers und Ferguson zu schaffen – oder die mit ihm?
In diesem Augenblick wandte sich Jake Higgins mit finsterem Gesicht um. Der Bandit, der noch vor Jahren einen guten Ruf als Weidedetektiv besessen hatte und als eisenhart, unbeugsam und tödlich gefährlich galt, starrte Jericho durchdringend an. Er mußte abergläubisch wie die meisten Banditen sein, sonst hätte er Jericho auf keinen Fall am Leben gelassen. Vielleicht war es Jerichos Glück, daß Higgins einmal mit Charlie Bowers Bügel an Bügel geritten war und dessen schreckliches Sterben aus nächster Nähe miterlebt hatte. Die Geschichte dieses Sterbens hatte längst ihre Runde im ganzen Westen gemacht, und es gab Leute genug, die felsenfest von ihrer Wahrheit überzeugt waren.
Großer Geist, was wird das, dachte Jericho, während er ein gleichmütiges Gesicht machte, sie haben Big Bill und Mabel, aber ich bin nichts wert für sie. Vielleicht bringen sie mich doch um?
*
Der Strick schnitt ein, biß sich förmlich in Jerichos Handgelenke, bis der Schmerz nicht mehr zu ertragen war und er sich ermattet sinken ließ.
»Es hat keinen Sinn«, kam Big Bills knarrende Stimme aus der satten Dunkelheit zu Jericho. »Das habe ich auch schon versucht, Junge. Die Kerle verstehen was von der Fesselei, und die Haken haben sie eingeschraubt. Sie haben nur höhnisch gelacht, als sie sahen, daß ich mir die Handgelenke blutig gerieben hatte. Die Hölle, dieser Alec, dieser Schuft! Ich kann alles vertragen, nur Betrug hinter meinem Rücken – verdammt, verdammt! Der und ein Regan, was? Ein McLoud, ein verdammter McLoud – das Ebenbild seines Vater, den meine Schwester unbedingt heiraten mußte, obgleich ich sie vor dem Kerl warnte. Der Kerl ließ sie und den Jungen im Stich, verschwand nach Virginia Cit, wo man ihn eines Tages tot in der Gosse fand. Da habe ich sie unterstützt, Alec ausbilden lassen, sie schließlich auf die Ranch geholt, als sie krank wurde. Und jetzt das – verspielt ein Vermögen, der Lump!«
»Onkel«, wisperte Mabel bedrückt. »Nicht so laut, der Rothaarige ist drüben geblieben, er könnte dich hören.«
»Ist mir auch egal«, grimmte der Alte bissig. »Wenn du nicht bei mir gewesen wärest, die hätten sich an mir die Zähne ausgebissen. Eher wäre ich gestorben, als diesem Lumpenkerl McLoud noch die Vollmacht für die Bank auszustellen. Diese Banditen, Jericho, diese Schweinehunde, dieser Eddie Shaggers ist der schlimmste gewesen. Nach drüben hat er Mabel geschleift und viehisch gegrinst, ich könnte sie gleich schreien hören. Der Kerl wollte sie…«
Der Alte schwieg, knirschte vor Grimm mit den Zähnen.
»Onkel Bill…«
»Verfluchte Tat!« ächzte Big Bill. »Schon gut, Kind, ich rege mich ja nicht auf, ich muß nur meine Wut loslassen, sonst ersticke ich noch an ihr. Jericho, weißt du, wieviel der durchgebracht hat – weißt du das?«
»Nein, Bill.«
»Fünfzehntausend Dollar«, würgte der Alte. »Als ich mal anfing, hatte ich ganze fünfhundert gespart, aber da lachen die jungen Burschen heutzutage nur, die wollen gleich alles haben. Geld – Geld und Spaß, Fusel und Wei… Verdammte Tat, verfluchte!«
»Immer ruhig, Bill«, sagte Jericho besänftigend. »Es ist nicht mehr zu ändern. Hätte ich doch nur eine Ahnung gehabt, aber da waren nur vier Spuren. Mit vier Mann wäre ich fertig geworden, doch auf einmal fielen sie wie die Heuschrecken über mich her. Bill, was hat Alec so viel Geld gelassen?«
»In Sonoita – und ich kenne die beiden Schurken auch noch. Smileys Saloon, verstehst du? Im Hinterzimmer ist die reinste Spielhölle. Da haben sie den Idioten Alec ausgezogen, ihm gedroht, alles mir zu melden, wenn er nicht an Smileys Schwager Wilson die Rinder verkaufte – zu Wilsons Preis, hahaha!«
»Wilson, Charley Wilson etwa?«
»Hast du auch von dem Gauner gehört, der geklautes Vieh aufkaufen soll und es nach Mexico verschwinden läßt, ja?« knurrte Big Bill. »Feine Gesellschaft für meinen Neffen – hol ihn der Geier! Als ich die Ranch kaufte, standen nur ein paar verhungerte Rinder auf der Weide, also kaufte ich neue hinzu. Und jetzt kommt der Hohn an der Sache, Jericho: ich hatte mir wieder mal mit der verdammten Hüfte zuviel zugemutet. Also schrieb ich für Alec, der die Rinder bar bezahlen sollte, eine Vollmacht aus. Ich lag auf der Ranch im Bett, konnte weder fahren noch reiten. Der Bengel erledigte das Geschäft auch ganz ordentlich. Ich kompletter Narr! Als ich gesund war und zur Bank kam, sagte ich zu Borden, dem Bankboß, wenn ich mal krank würde, schickte ich Alec mit einer Vollmacht, und er solle dann auszahlen. Ich gehörntes Rindvieh!«
»Alle Teufel!« schnaufte Jericho. »Higgins hat dich eine Vollmacht über die Anweisung der zehntausend Dollar ausstellen lassen, was?«
»Noch schlimmer!« stöhnte Big Bill. »Einen Brief habe ich schreiben müssen. Ich wäre von der Reise zu krank, läge im Bett auf der Ranch – er solle nur auszahlen, ich käme später vorbei. Oh, in der Hölle soll ich doch braten! Hätte ich die Reise doch nur allein gemacht! Lieber tot als nachgeben, sage ich dir. Gesindel gibt man keinen Zollbreit nach, niemals! Dieser Shaggers, diese zweibeinige Ratte – sagt mir höhnisch ins Gesicht, Alec würde alle Rinder nach Mexico verkaufen und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Warum hast du den Lumpenkerl bloß nicht über den Jordan geschickt, Jericho?«
»Wenn ich das gewußt hätte – vielleicht«, brummte David Jericho. »Reiten kann Shaggers die nächsten drei Tage kaum. Wer soll jetzt Alec die Anweisung und die Vollmacht bringen – Ferguson?«
»Genau der«, grimmte Big Bill Regan. »Morgen holt Alec des Geld von der Bank. Ferguson führt ihn hierher, weil der Lump Alec die Berge nicht kennt. Higgins kassiert dafür, daß er Mabel und mich festhält, fünftausend Dollar. Die konnten mir gar nicht genug von ihren Plänen erzählen. Der nackte Hohn war es, sage ich dir. Sie lachten über mich…«
Vielleicht, dachte Jericho, als Big Bill verbissen schwieg, ist das das allerschlimmste an Gemeinheit, was man Bill zufügen konnte. Er gehört noch zu jenen Männern, die dieses Land in Besitz nahmen. Darauf sind sie alle stolz, die noch heute leben. Über sie lachen, das trifft sie bis ins Mark. Also gut, Ferguson holt das Geld mit Alec. Zehntausend Dollar, für Ferguson eine Riesensumme. Sicher wird er einen Anteil an der Beute bekommen, aber was ist der gegen zehntausend Greenbacks?
Jericho schluckte, mußte an diese gewaltige Summe und den im Grunde wohl bescheidenen Neil Ferguson denken. Zehntausend Dollar konnten auch einen bescheidenen und vielleicht sonst einfältigen Burschen um den Verstand bringen.
Großer Gott, dachte David Jericho, zehntausend Harte! Und was macht Ferguson, was wird in seinem Kopf vorgehen? Was?
*
Ferguson sah sich von hier oben am Südrand der Santa Catalina
Mountains um. Mondlicht griff über die Berge, kroch ins Tal hinten, durch das man noch die Lichter von Tucson im Südwesten glitzern sah.
Dann kam Alec McLoud schnaufend heraufgeritten, kicherte immer noch – der hatte schon seit anderthalb Stunden gelacht, sich damit gebrüstet, wie leicht es in der Bank gewesen war, wie ihm Borden, der Bankboß, schöne Grüße an den armen, kranken Onkel Bill aufgetragen hatte.
»Höhöhö«, lachte Alec McLoud. »Gute Besserung für Onkel Bill – ich lache mich noch tot, lache ich mich! Wie weit noch, Neil?«
»Über vier Stunden«, sagte Neil. »Wir müssen den Molina Canyon hinauf. Es wird steil und schroff, Alec.«
»Macht nichts, du kennst dich ja aus«, grinste Alec. »Dann mal los, Mann!«
Ferguson schwieg und nahm sein Pferd herum, ritt wieder vor Alec her. Und dann wisperte die Stimme in Fergusons Kopf erneut, meldete sich mit einem höhnischen, meckernden Gelächter.
»Mal los, Mann, mal los! Hähähä, der gibt dir Befehle, Neil, jeder gibt dir Befehle. Moss hat sie dir erteilt, Eddie, der Giftpilz – und nun bekommst du sie von Higgins. Du bist immer für alle der dumme Hund gewesen, du armes Schwein. Was bekommst du denn, wenn alles vorbei ist, he? Tausend lumpige Dollar, tausend! Und weißt du, was hinter dir in Alecs Satteltaschen steckt, na, weißt du es?«
Zehntausend, dachte Ferguson und fror. Ja, ich bin ein armer Hund, ich bleibe hier. Die großen Halunken kassieren, nur ich nicht, verdammter Dreck!
»Richtig«, wisperte die Stimme in Fergusons Kopf. »Dreck – für alle bist du ein Haufen Dreck bist du. Du könntest es ändern, aber du traust dich nicht, Mann, du bist ein kleiner, erbärmlicher Gauner, arm und dumm – und so wirst du eines Tages auch sterben, verstehst du? Dabei könntest du es bald versuchen – oben an der Kehre des Canyons, von wo aus man alles sehen kann, was aus Richtung Süden kommt. Du nimmst den Colt und drückst, indem du dich umdrehst, einfach ab. So leicht ist das, Neil, kinderleicht, klar?«
Nein, dachte Neil Ferguson, sei still, du blöder Hund da oben, halt die Klappe! Ich kann keinen umbringen, nicht auf diese Art. Und dann ist Higgins da und wartet, der kommt mir nach!
»Nach – Higgins? Wie denn?« höhnte der kleine Kerl in Neils Schädel. »Kann der am Tag reiten, kann er, he? Du hättest zwei Pferde – und Higgins? Der könnte dir nur folgen, wenn du nach Mexico abhauen würdest, weil man ihn dort nicht sucht. Also brauchst du nur an den Bergen vorbei nach Norden zu reiten, dann nach Westen zu schwenken und fort bist du. Reite nach Nevada oder New Mexico. Kein Mensch holt dich jemals ein. Du hast eine einmalige Chance, nutze sie, du Narr, nutze sie!«
Dort oben, dachte Neil, an der Kehre? Ja, ich könnte ihn erwischen, aber schießen…
»Idiot, brauchst nur zurückfallen, neben ihm herreiten. Wenn der Feigling einen Colt auf sich gerichtet sieht, hat er die Hosen doch voll, oder? Und dann knallst du ihm den Colt über seinen gemeinen Schädel, bindest ihn, nimmst seinen Gaul. Adios, betrogener Betrüger Alec McLoud, adios Higgins, Eddie, Giftpilz! Na, los, entscheide dich
schon!«
Ja, dachte Neil, an der Kehre – in zehn Minuten! Ich werde davonreiten und mir von dem Geld einen kleinen Store in Kalifornien oder Oregon kaufen. Und dann vergesse ich meine Vergangenheit. Ein Store für mich – endlich die Chance zu leben, nicht mehr der dumme Hund zu sein. An der Kehre – in zehn Minuten!
*
Die Canyonkehre lag nun unmittelbar vor Ferguson. Felsen türmten sich auf, Büsche wuchsen zwischen ihnen, und Neil hielt das Pferd unmerklich zurück, hörte Alecs Gaul näherkommen.
Jetzt, dachte Neil, gleich! Ich ziehe im Umdrehen. Und dann…
»Klick!«
Was, dachte Neil verstört und riß den Kopf erschrocken herum, was klickt?
Er sah es gerade noch, sah das verzerrte Gesicht Alecs, das Mondlicht, das auf den vernickelten Colt in Alecs Faust fiel. Alecs Gesicht war eine Teufelsfratze aus Angst und Feigheit.
Und dann kam das Brüllen, fuhr der Feuerstrahl aus dem vernickelten Colt.
Rumms!
Irgend etwas fuhr Ferguson schräg von hinten in den Rücken, nahm ihm jäh die Luft und ließ ihn schon nach vorn kippen.
Rumms!
Der zweite Schlag riß Neil zur Seite. Er fiel nach links, spürte den Ruck am Handgelenk, um das er den Zügel geschlungen hatte. Er fiel, und der Zügel straffte sich, hielt den Arm hoch.
Dann kam der Aufprall und erschütterte Neil. Einen Moment verdunkelte sich alles um ihn, doch dann sah er wieder etwas. Neil Ferguson blickte am Pferd hoch, sah seinen linken Arm in der Zügelschlinge hängen und nun das Pferd nach einem klatschenden Schlag tänzelnd zur Seite wandern. Der Gaul kam herum, der andere war da, in dessen Sattel Alec, der hinterhältige, schäbige Gauner hockte und über den Colt hinweg auf Neil herunterblickte.
Alec starrte ihn an. Sein Gesicht kam Neil seltsam bleich vor – ein verzerrtes Gesicht, das Mondlicht von der Seite beschien und die Schweißperlen auf der bleichen Haut glitzern ließ.
Mörder, dachte Neil entsetzt, du Mörder.
Neil wollte etwas sagen, doch er brachte nichts als ein dumpfes Lallen heraus. Der Feigling, der nur von hinten hatte schießen können, starrte ihn aus flackernden Augen an, bewegte die Lippen, sprach…
»Hast du gedacht, ich teile?« sagte Alec schrill. »Das ist mein Geld – es gehört mir, verstehst du? Meinst du, ich wüßte nicht, was Higgins plant, meinst du, ich wäre ein Narr? Der hätte mich genauso festgesetzt wie den Alten und kassiert. Bis auf das Hemd hätte er mich ausgezogen und mich dann vielleicht umgebracht, ich weiß es. Jetzt reite ich zu Wilson und verkaufe ihm die Rinder. Und dann sieht mich niemand mehr. Teilen – ich…? Hahaha!«
Er lachte, es klang irr und schrill. Und dann hob er den blinkenden Colt.
Rumms!
Das Brüllen war ganz nahe, wenngleich kein Feuerstrahl aus Alecs Revolver brach. Alec zuckte zusammen, schwankte plötzlich wie betrunken im Sattel und schien über Neil Fergusons Pferd hinweg auf die Felsen und Büsche an der Talbiegung zu starren, die Augen weit aufgerissen.
Wer, dachte Neil, wer hat geschossen? Das kam aus den Büschen oder hinter den Felsen her. Jemand hat…
Er wollte den Kopf wenden, hatte jedoch nicht mehr die Kraft und sah nun Alec nach vorn stürzen, gegen den Hals des Pferdes kippen. In Alecs Sturz hinein fiel der nächste Schuß, zerriß das Brüllen das erschreckte, schrille Wiehern von Neils Pferd.
Alec McLouds Rechte hob sich am Pferdehals, stand einen Moment waagerecht in der Luft. Dann peitschte der Colt los, schien die Feuerlanze, so wie Neil es zu sehen glaubte, aus dem Kopf des Pferdes zu brechen. Durch den Blitz zu Tode erschrocken, bäumte sich der Rostbraune Alecs auf, stieg steil, während Alec nach hinten zu rutschen begann.
Und dann war das Brüllen da, übertönte einen heiseren, grimmigen Schrei.
Rumms! Rumms! Rumms!
Neil Ferguson sah Alec unter den Einschlägen der Geschosse vom Sattel kippen. Alec fiel rechts am Pferd herab, schlug mit einem dumpfen Laut auf. Da lag er nun, während der Gaul herumstob und über ihn hinwegsetzte. Vier Schritt trennten Neil Ferguson von Alec McLoud, der sich nicht mehr rührte. Der vernickelte Colt war Alec entfallen – die Waffe lag zwei Schritt vor dem Feigling.
Tot, dachte Ferguson, er ist tot, aber ich lebe – ich lebe, hahaha. Wer hat da nur geschossen?
Etwas raschelte, Hufe tackten, Zweige knickten. Das Pferd tauchte jetzt auf und ließ die Büsche hinter sich. Im Sattel lag einer mit starrem Gesicht und das Gewehr nun gesenkt, indem vom Hang hinter den Felsen das zweite Pferd herunterpreschte und jemand schrie: »Mike, Mike, was ist – was fehlt dir, Mike?«
Mike, dachte Neil Ferguson, Mike Ellery, die rechte Hand und der einzige echte Freund, den Jake Higgins in der Bande hat. Oh, mein Gott, sie haben hier gewartet: Mike Ellery hinter den Felsen, Jake Higgins oben am Hang. Natürlich hier – wo denn sonst? Das ist hier der beste Platz für jemand, der sich nicht weiter aus den Bergen in bewohntes Gebiet wagen darf. Man sieht jeden kommen und wird selbst nicht entdeckt.
»Mike – Mike!«
»Scheißkerl«, hörte Neil den breitschultrigen Mike Ellery verbissen keuchen. »Du elender Dreckskerl! Als hätte Jake es geahnt, daß so eine Schweinerei passieren würde. Bist du tot, Alec, du Hundesohn?«
Jetzt jagte Jake Higgins auf seinem Schwarzen wie der Teufel heran, riß das Tier hoch und flog aus dem Sattel, Mike packend:
»Rechts«, stöhnte Mike abgerissen. »Irgendwo rechts in den Rippen, Jake. Mein Gott, ich bekomme so schlecht Luft, Jake.«
»Aufrichten, setz dich gerade auf!« befahl Jake Higgins mit schriller, besorgter Stimme. »Du großer Gott – das kann nicht tödlich sein. Die Kugel bringt dich nicht um, Mike. Hatte ich es mir doch gedacht – schießt der Schweinehund von hinten auf Ferguson! So, jetzt stemme die Arme gegen das Sattelhorn. Laß das Gewehr endlich los, du brauchst es nicht mehr, Mike! Vorwärts, du schaffst es, Mike, du bist ein zäher Bursche und hast ihn noch zum Sieb schießen können, diesen Gauner. Jetzt stillsitzen!«
Du, dachte Neil, du mußt auch nach mir sehen, Higgins. Mir ist so kalt, Mann, ich friere schrecklich im Rücken. Der Mond scheint mir so grell ins Gesicht, er schickt so kaltes Licht zu mir herunter.
Er konnte dieses kalte Licht nicht ertragen und schloß die Augen. Und dann sah er plötzlich den Tresen vor sich, roch diesen für einen Store typischen Geruch. Hinter dem Tresen stand jemand und lächelte ihn an.
Das bin ja ich, dachte Neil Ferguson verwundert, ich stehe hinter dem Tresen, ich?
Plötzlich hatte er Angst, der Mann Neil Ferguson, denn das Licht griff nach seinem Ebenbild, das nun die Arme schützend vor das Gesicht hob.
Das Licht, dachte Ferguson, was für ein grelles Licht ist das nur? Es wird immer heller, es wird heller als die Sonne, es verbrennt mich, es verbrennt mich – es brennt…
Higgins sah sich um, als der Mann am Boden schrie und die Arme vor den Kopf legte. Der Mann dort unten zog die Beine an, stieß sie aus und schrie nicht mehr. Dann sanken auch seine Arme herab – er lag ganz still.
»Ist er…«
»Ja, Mike«, sagte Higgins bissig. »Keine Sorge, diesmal gibt es keine Spuren. Ich nehme sie beide mit und bringe dich ins Camp, dort pflegen wir dich schon gesund, das verspreche ich dir. Jetzt muß ich mir etwas anderes ausdenken. Wir haben die zehntausend Dollar, aber man könnte viel mehr herausholen, wenn man es nur richtig anfängt. Irgend etwas fällt mir schon ein, verlaß dich darauf. Na, der Alte wird Augen machen, wenn er seinen schurkischen Neffen sieht. Nur ruhig, Mike, du schaffst es, ich weiß es.«
Er wußte es nicht, er hatte keinen Ausschuß gefunden. Die Kugel steckte also irgendwo in Mike Ellerys Körper. Und kam sie nicht heraus, mußte auch Mike sterben. Vor Mike Ellery lagen vier Stunden Ritt durch die Berge, und wenn Jake Higgins ehrlich war, wußte er nicht mal, ob Mike nach dem Ritt nicht dreiviertel tot sein würde.
Er darf nicht sterben, dachte Jake Higgins verzweifelt, nicht Mike, mein bester Freund. Großer Gott, die Kugel muß heraus, aber niemand von uns hat eine Ahnung, wie man das macht. Woher bekomme ich jemand, der das kann?
Jake Higgins hatte jemand, der es konnte, er wußte es nur noch nicht…
*
Jetzt schrie Mabel Regan doch entsetzt auf, obgleich Jericho sie beschworen hatte, die Nerven nicht zu verlieren. Die Tür flog zurück, der Alte schoß ins Stroh, sauste rutschend bis an die Wand, an der er liegenblieb und stöhnte.
Hinter Big Bill sprangen sie herein – der rothaarige Abe, neben ihm
James Edson. Und dann kam Priestley mit der Laterne, leuchtete die Gefangenen an, indem Jake Higgins wie ein Wahnsinniger in den Raum stürzte.
»Binden!« brüllte Higgins wie von Sinnen. »Legt ihn fest, den alten Narren. Ich bringe euch alle um, wenn mir Mike stirbt, das schwöre ich dir, Regan, ich schwör’s, hörst du?«
Higgins schien völlig die Nerven verloren zu haben. Er war vor knapp vier Minuten brüllend mit den anderen, nachdem er draußen kurze Zeit tumultartig zugegangen war, hereingerast, hatte den Alten losgebunden und ihn ohne Rücksicht vor sich hinausgestoßen. Wenn er nicht so gebrüllt hätte, hätte Jericho hinter diesen dicken Baumstämmen nichts verstanden, aber nun wußte Jericho längst, was passiert war.
Tot, dachte Jericho beklommen, Ferguson von Alec hinterrücks erschossen, Mike hat eine Kugel Alecs in den Rippen erwischt und soll angeblich halbtot sein.
»Oh, mein Gott«, wimmerte die zu Tode erschrockene Mabel. »Mein Onkel kann doch nichts dafür. Oh, mein Gott, bringt uns doch gleich um, dann hat es ein Ende, dann ist alles vor…«
»Sei still!« schrie Higgins sie an. »Könnte dir so passen, daß ich euch gleich umbringe, was? Das sage ich dir, Baby, erst räumt dein Onkel auf der Bank sein Konto von dreißigtausend Dollar bis auf zehntausend leer. Ich weiß, wieviel er auf der State Bank in Tucson liegen hat. Der holt das Geld selber. Und Eddie fährt ihn, während ich von diesem Undertaker eine Plane über den Kasten des Jump-seat machen lassen werde. Unter der werde ich liegen – die ganze Zeit werde ich dort sein und aufpassen. Und wenn dein verdammter Onkel einen Trick versucht, dann stirbt er zuerst. Doch vorher darf er wissen, daß du auch sterben wirst. Ich bringe euch alle um, wenn noch etwas schiefgeht, ich sage es euch! Ruhe – Ruhe, verdammt! Heule woanders, du dummes Frauenzimmer!«
»Higgins!«
Higgins fuhr herum wie von der Natter gebissen, sprang auf Jericho los, hob den Fuß und…
»Warte!« sagte Jericho messerscharf. »Du bekommst den Doc aus Mexico frühestens in zwei Tagen her – stimmt das, hast du das draußen gesehen? Antworte, Higgins!«
Higgins setzte den Stiefel wieder zu Boden. Der messerscharfe Ton Jerichos war anscheinend die richtige Medizin, ihn aus seiner wilden, rasenden Wut zu reißen.
»Was willst du denn?« fauchte er Jericho an. »Ja, ich müßte den Doc aus Mexico holen lassen, doch dann ist es zu spät, zu spät! O Hölle, ich werde wahnsinnig, Mike stirbt mir unter den Händen und…«
»Sei ruhig!« schrie ihn Jericho so laut an, daß die anderen erschrocken zusammenfuhren und Higgins seinen Colt herausriß. »Na, los, Higgins, drück ab, Mann – schieß nur, aber dann wird niemand mehr da sein, der deinem Freund Mike die Kugel herausholen kann. Ihr verdammten Narren, ich habe die ganze Zeit nach euch gerufen – aber du hast ja getobt wie ein Wahnsinniger, Higgins. Hat mich denn niemand gehört? Was seid ihr für Tölpel? Ihr habt meinen Wagen durchsucht und die Tasche gefunden. Und was für Instrumente liegen in meiner Tasche – die seltsam gebogenen Dinger in dem Lederetui? Na, wer hat sie entdeckt, wer war das?«
Es war, als hätte eine Bombe vor Higgins eingeschlagen. Er senkte den Revolver, starrte Jericho ungläubig an und keuchte: »Die habe ich gesehen, Mann. Sind das etwa Instrumente, wie sie auch ein Doc benutzt?«
»Du hast es erfaßt«, erwiderte Jericho bissig. »Sie gehörten einmal Old Maple, unserem Stadtsäufer und irren Goldsucher. Old Maple war in seinen besten Jahren Sanitätssergeant. Die Instrumente belieh er dauernd in Jerome, und ich mußte sie jedesmal auslösen, wenn wir sie brauchten, um jemand zusammenzuflicken, Higgins. Seitdem habe ich sie in Verwahrung und nehme sie immer mit, wenn ich unterwegs bin, weil Old Maple in seinem betrunkenen Kopf sie sonst wieder… Verdammt, das ist eine zu lange Geschichte. Bindet mich los, macht schon!«
»Der kommandiert euch herum, das laßt ihr euch gefallen?« hechelte Eddie Shaggers giftig von der Tür aus. »Was versteht denn der Undertaker und Posaunentröter schon von Wunden, he? Ich sage euch, der hat einen Trick vor, seht euch vor und…«
»Halt’s Maul!« fuhr ihn Higgins an. »Scher dich nach drüben und passe auf Mike auf, sonst breche ich dir alle Knochen, du Giftschleuder! Raus mit dir! Undertaker, willst du sagen, du kannst wie ein Doc eine Kugel herausbekommen?«
»Ich habe das oft genug getan, wenn Old Maple zu betrunken war«, brummte Jericho. »Als Junge wollte ich mal Doc werden, aber… Mann, das ist doch jetzt nicht wichtig! Higgins, ich war während meiner Armeezeit einfacher Sanitäter in Fort Apache. Wenn unser Doc mit irgendeiner Schwadron unterwegs war und ein anderer Ärger mit Apachen bekam, mußten wir die Kugel unserer Partner selbst herausfischen. Sitzt die von Mike nicht zu unglücklich, hole ich sie, das verspreche ich dir. Wenn ich es nicht schaffen sollte, könnte sie auch kein Doc erwischen, soviel kann ich dir sagen.«
Higgins band ihn hastig los und riß ihn dann empor.
»Schnell, sieh ihn dir an! Sie hat ihn von vorn an den Rippen erwischt, da ist auch der Einschuß, aber er hat dauernd darüber geklagt, daß er hinten am Rücken neben dem Rückgrat Schmerzen hätte. Dann verlor er zeitweilig das Bewußtsein, obgleich ich ihn in einer Deckentrage zwischen zwei Pferden herbrachte. Ich bin so vorsichtig mit ihm geritten. Schnell, Mann, schnell! Du mußt ihm helfen, Graves!«
»Wenn ich es kann…«
Mehr konnte ihm Jericho noch nicht sagen…
*
Mike Ellerys Hände krampften sich um die Stäbe des Eisenbettgestells. Dann stieß er einen schrillen Laut aus, verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.
»Um Gottes willen, Mensch, was hast du getan?« schrie Higgins entsetzt. »Er ist wieder besinnungslos, er stirbt und…«
David Jericho sah ihn kühl an, richtete sich auf und blickte über die neugierig herumstehenden Banditen hinweg zur aufstehenden Küchentür. Das Steinhaus hatte den Eingang vorn rechts. Man betrat sofort die Küche, während die erste Tür linker Hand dann in den ersten Raum führte, dem sich noch ein zweiter anschloß.
»Hierher!« sagte Jericho knapp. »Den Zeigefinger nehmen, Higgins – fühle hier zwischen den Rippen. Du hast ihm den Verband genau über die Stelle gelegt. Na, nun fühle mal!«
Higgins tat es mit grauem Gesicht, zuckte zusammen und zog hastig die Hand zurück.
»Da sitzt was – die Kugel?«
»Ja, von vorn gekommen, zwischen den Rippen entlanggerast und hier verklemmt«, bestätigte Jericho brummig. »Kein Wunder, daß er dort Schmerzen hatte, Higgins. He, Priestley, was ist mit dem Wasser – kocht es?«
Der bullige, schmierige Hank Priestley, der irgendwann einmal Koch gewesen war, hatte den Herd längst angeheizt und dann den größten Topf erst säubern müssen. Die Küche glich einem Dreckstall.
»Ja«, maulte Priestley. »Deine komischen Instrumente liegen drin, wie du es gesagt hast. Soll ich den Topf bringen?«
»Her mit ihm!« forderte ihn Jericho auf. »Edson, nimm seinen rechten Arm und drücke notfalls seine Schulter mit einer Hand herunter. Dasselbe machst du mit dem linken Arm, Abe. Jetzt ist er weggetreten, doch kommt er zu sich, darf er nicht anfangen zu toben. Du drückst dann sofort sein Gesäß herunter, verstanden, Higgins? Auf den Tisch mit dem Kessel, Priestley! Rührt sich Mike, wirfst du dich auf seine Beine und hältst sie unten. Alles verstanden?«
Sie hatten das Bettgestell von der Wand abgezogen, so daß man von allen Seiten an es heran konnte.
Higgins nickte, würgte dann jedoch: »Was mußt du machen, Mann?«
»Einen kleinen Schnitt, wenn ich Glück habe«, erwiderte Jericho, mit der Greifzange die Instrumente schon aus dem sprudelnden Wasser fischend und nebeneinander griffbereit auf das Handtuch packend, das er über die linke Tischecke gelegt hatte. »Danach nehme ich diesen Löffelhaken und die Spreizzange. Mit der Spreizzange werden die beiden Rippen etwas auseinandergedrückt. Der Löffelhaken packt die Kugel von unten und hebt sie heraus. Es kann schnellgehen, Higgins. Drehe mir nicht durch, wenn es blutet, Higgins, es wird nicht viel bluten. Also los jetzt – machen wir schnell, sonst wacht er uns noch auf.«
David Jericho nahm das kleine Skalpell und beugte sich über den Verwundeten. Dabei dachte er einen Moment an den schmierigen Vorhang links des Herdes in der Küche, der eine Nische abschloß. Der Vorhang war halb aufgezogen gewesen, und Jericho hatte mindestens zwei Tonnen und mehrere Kisten in der Nische liegen sehen.
Zu welchem Zweck hatte Higgins das Zeug hier?
Ich muß es genauer sehen, überlegte Jericho, wozu hat er das verdammte Zeug hergebracht?
David Jericho setzte zum Schnitt an. Er würde herausfinden, wie die Dinge hinter dem Vorhang in dieses verdammte Spiel paßten…
*
Mike Ellery lag bleich, aber verbunden und ohne Kugel auf seinem Bett. Er war zur Besinnung gekommen, nachdem ihm Higgins einen Schluck Whisky eingeflößt hatte, blickte nun die saubere Kugel an und lächelte verzerrt.
»Bedanke dich bei diesem Burschen – er hat sie herausgefischt«, schnaufte Higgins erleichtert. »Junge, du bist wieder in Ordnung, sauber verbunden und wirst sogar Medizin gegen das Fieber bekommen. He, Graves, es wird doch nicht zu hoch steigen, oder?«
»Kann man nicht wissen«, murmelte Jericho achselzuckend. »Die Kugel hat Bleiabrieb an seinen Rippen hinterlassen. Er wird mit Sicherheit Fieber bekommen, und ich wollte, ich hätte etwas Besseres als Laudanum bei mir gehabt. Gebt ihm alle drei Stunden einen Eßlöffel voll, auf keinen Fall mehr. Wird es hart, könnt ihr mich holen. Higgins, ich könnte einen Schluck Kaffee gebrauchen, wie wäre es damit?«
»Du kannst einen Becher Whisky haben – soviel du willst, Mann. Das vergesse ich dir nie. Leben um Leben heißt es bei uns, das weißt du ja wohl, oder? Du wirst leben, das schwöre ich dir!«
Im hinteren Raum begann Eddie Shaggers gellend zu lachen, und Higgins flog mit einem Satz nach nebenan.
»Der wird leben!« fauchte er den jäh verstummenden Giftpilz an. »Egal, was noch geschieht, ich schulde ihm etwas nach unseren Gesetzen. Wenn du Hundesohn noch mal so gemein lachst, haue ich dir die Zähne ein. Wer sich an dem Undertaker vergreift und keinen verdammt guten Grund dafür hat, bekommt es mit mir zu tun. Du verdammter Giftspritzer!«
Er kam fluchend zurück, packte Jericho am Oberarm und zog ihn mit in die Küche, in der der schmierige Hank Priestley gerade die Laterne, die sie zusätzlich zum Ausleuchten drüben gebraucht hatten, auf das Regal über dem Herd stellte.
»Saustall ist das hier«, knurrte Higgins. »Morgen hast du Saubermachtag, Hank. Verdammt, du bist ein Schmierlappen! Koch Kaffee für Jericho, sofort!«
David Jericho schien betreten zu Boden zu blicken, äugte aber in Wirklichkeit zum Vorhang, doch der war zugezogen.
»Immer Arbeit – dauernd wollt ihr was oder macht euch was in meiner Küche. Da soll man Lust haben, hier noch sauberzumachen? Na gut, da ist noch Kaffee in der Kanne, er kann sich welchen nehmen. He, da hängen Becher am Regal.«
Hank starrte Jericho an, der nun zu den Bechern blickte und polterte dann unwirsch: »Oha, sie sind dem Gentleman wohl nicht sauber genug, was? In Ordnung, weil du Mikel geholfen hast, wasche ich dir einen aus. Zufrieden, du Wunderbursche?«
»Ja«, gab Jericho knapp zurück. Er lehnte sich an den Herd, wandte den Kopf und blickte die knapp fünfzehn Schritt zum Blockhaus hinüber. Dort brannte im ersten Raum Licht, und Jericho konnte durch das Fenster den Tisch drüben sehen.
Das Fenster drüben, das Küchenfenster hier und der Herd, überlegte Jericho eiskalt – und über dem Herd das Regal mit der Kugelbauchlaterne…
In diesem Moment brummte Higgins, der sich in Richtung Vorhang bewegt hatte: »Der Giftspritzer Eddie haßt dich, der Kerl ist die Rachsucht selbst. Wenn ich mit ihm unterwegs bin und Regan das Geld holt, hat hier James Edson das Kommando, da Mike es nicht führen kann. Graves, fang nichts an, ich warne dich. Sie würden dich auf der Stelle niederschießen müssen. Willst du nicht doch einen Drink?«
Higgins schlug den Vorhang auf der rechten Seite zurück. Dort stand auch ein Fäßchen, aber es war ein Zwei-Galonen-Tönnchen mit Whisky. Von den anderen beiden Tonnen und den Kisten war nichts zu sehen.
»Nein«, murmelte Jericho. »Lieber Kaffee, Higgins.«
Warum will er nicht, daß ich das Zeug zu sehen bekomme, überlegte Jericho und spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, da – er zieht den Vorhang sacht zu. Das ist Absicht. Ich soll es nicht sehen. Eddie hat gelacht, als er sagte, ich würde am Leben bleiben, ich?!
Das Würgen meldete sich in Jerichos Kehle. Plötzlich fiel ihm wieder der Tisch drüben ein. Als man Big Bill hinausgeschleift hatte, um ihm seinen toten Neffen zu zeigen, hatte man den Tisch zur Seite gestoßen. Er hatte doch noch so dagestanden, als Jericho das Blockhaus an Higgins’ Seite verlassen hatte. Und da erst war Jericho die Falltür an der Stelle aufgefallen, die der zur Seite geschobene Tisch sonst verdeckt hatte.
»Du kannst am Vormittag Ferguson beerdigen«, meldete sich Higgins in seinem Rücken. »Ob du auch für den Lumpenkerl Alec ein Grab machen willst, ist deine Sache. Von mir aus können den hinterhältigen Mörder die Geier fressen, da bin ich ganz ehrlich. Danach machst du mir die Plane über Regans Jump-seat. In der Mitte muß sie überlappen, damit ich blitzschnell hochtauchen kann, wenn etwas ist. Ich zeige dir, wie ich es meine. Klappt alles, fahren wir so los, daß wir am frühen Morgen in Tucson sind. Ich komme bei Tageslicht zurück. Und jetzt sage ich dir noch etwas, mein Freund: gar nicht so hoch über dieser Schlucht ist eine Bergkuppe, von der aus man bis Tucson blicken kann. Weißt du, was man mit Spiegeln alles machen kann?«
Jericho zuckte leicht zusammen, er wußte, Higgins hatte an alles gedacht. Der Mann war eiskalt und plante risikolos.
»Blinkzeichen wie die Armee sie bei der Apachenjagd angewandt hat – meinst du das?«
»Ja«, gab Higgins kalt zurück. »Ich werde ständig wissen, ob hier alles in Ordnung ist. Abe wird dort oben hocken und den Wagen nicht aus den Augen lassen, aber euch hier noch weniger. Passiert etwas, werde ich verfolgt oder versuchtest du, nachdem du – was ein Wunder wäre – Hank und Edson erwischt hättest, Abe dort herunterzuholen, gibt der mir die Blinkzeichen. Rechne dir aus, was ich dann tun muß.«
»Du würdest Regan erschießen!«
»Genau das«, bestätigte Higgins eisig. »Überlege dir dreimal, ehe du etwas anfängst, Graves. Niemand wird verhindern, daß ich mir das Geld hole und mit ihm verschwinde. Ich habe nie viel erbeutet, das meiste waren einmal fünftausend Dollar aus einer Wells & Fargo Geldkiste. Und die mußte ich mit sieben Mann teilen. Rechne dir aus, was da blieb. Das ist der große Schlag, von dem ein jeder Bandit irgendwann träumt. Ich kann ihn endlich landen, und ich schwöre dir, mein Freund, jeder stirbt, der mich daran hindern wird. Und nun trink deinen Kaffee!«
Allmächtiger, dachte Jericho verstört, der Bursche hat an alles gedacht. Es gibt keine Chance, sobald er fort ist. Dann muß es vorher eine geben, es muß! Irgendwann muß doch mein verdammtes, elendes Pech einmal enden. Wenn ich doch an meine Werkzeugkiste käme oder sonstwie an eine Waffe, aber bevor Higgins aufbricht. Der hat niemals im Sinn gehabt, die Regans am Leben zu lassen. Higgins muß sich vom ersten Moment an klargewesen sein, daß er für das Geld über Leichen gehen mußte. Dazu brauchte er das Zeug hinter dem Vorhang, nur zu diesem Zweck. Gerechter Gott, eine Chance, nur eine einzige, damit ich zwei Morde verhindern kann!
Einmal mußte das Pech doch aufhören, aber wann?
*
David Jericho brach jetzt der kalte Schweiß aus allen Poren. Etwas ging hier vor, was Jake Higgins mit allen Mitteln vor ihm verbergen wollte. Higgins und James Edson standen genau vor dem Fenster dieses mittleren Raumes im Steinhaus. Sie hatten alles getan, damit Jericho nicht in den Hof und zum Blockhaus blicken konnte.
Vor knapp fünf Minuten erst hatte Hank, der Schmuddelkoch, in der Küche fluchend zu Abe gesagt, der solle gefälligst woanders das Zeug umfüllen, nur nicht auf dem Herd, sonst würden sie noch alle…
Bis dahin war Hank Priestley gekommen, dann hatte Higgins losgebrüllt, er solle sein ungewaschenes Maul halten. Jetzt herrschte drüben Stille, dafür konnte Jericho jedoch das Schurren aus dem Blockhaus hören. Abe war hinübergegangen, und wenn er jetzt nicht den Tisch beiseite schob, wollte Jericho nie mehr ein Geräusch richtig deuten können. Das war das Schurren der Tischbeine gewesen. Und nun…
Die Falltür, dachte Jericho fröstelnd, mein Gott, das war die Falltür. Was hat Abe nach drüben geschafft, was will er in den Vorratskeller unter der Blockhütte bringen?
Während Jericho lauschte, erneuerte er den Beinwickel Mike Ellerys. Seine mehr als zweistündigen Bemühungen, Mikes Fieber herunterzudrücken, hatten Erfolg gehabt, aber nun galt es, die kalten Wickel fortzusetzen.
Mein Gott, es geht alles schief, dachte Jericho verzweifelt. Mike fing an zu phantasieren und zu rasen, als ich gerade die beiden Gräber hinten in der Schlucht ausgehoben hatte. Dort liegen die Toten jetzt noch, und wann ich endlich dazu komme, sie in die Grube zu senken, weiß der Teufel oder sonstwer. Der verdammte Higgins hat mich nicht mal mein Werkzeug vom Wagen holen lassen, das mußte Abe anschleppen. Kann sein, er wollte mir die Schlepperei ersparen, aber vielleicht steckt er auch bis unter die Haare voll Mißtrauen, was? Keine Chance, nur eine vielleicht…
»Jake, Jake, mir wird kalt«, flüsterte Mike Ellery in diesem Augenblick zitternd. »Muß das mit den kalten Wickeln sein?«
»Wenn er es sagt, bekommst du sie weiter«, brummte Higgins. »Immer ruhig, Mike, du bist über den Berg, und so soll es auch bleiben. Ich will mir unterwegs nicht dauernd Gedanken über dich machen müssen. Du ißt jetzt gleich kräftig, wie Jericho es vorgeschlagen hat, dann sollst du mal sehen, wie du wieder zu Kräften kommst. In ein paar Tagen lachst du über den Kratzer, Junge.«
»Ja, ja«, sagte Mike Ellery matt. »Vorhin war mir verdammt nicht zum Lachen, Jake. Ich sah wieder das Feuer – sie hatten das ganze Badland am Pecos angesteckt, und wir beide steckten mittendrin mit den anderen. Es war fürchterlich!«
»Das sind Fieberphantasien gewesen«, beruhigte ihn Higgins. »Du hast von alten Zeiten geträumt. Ja, die Jahre am Pecos – unsere Partner, und der Spaß, den wir hatten. Das war noch ein Leben, Junge.«
»Das war gut und… und anständig«, schluckte Mike. »Hoobie, der Verrückte, der verkehrt herum auf dem Gaul ritt, weißt du noch?«
»Ja«, lachte Higgins und sah über den Hof zum Blockhaus, in dem es nun still geworden war. »Hoobie, der Irre! Und Mulligan, die trübe Tasse, der in die Jauchegrube sprang, weil er fünf Dollar gewinnen konnte. Mensch, so lustig wird es wieder für uns sein, glaube mir.«
»Vielleicht – ja«, sagte Mike matt. »War schön unsere Zeit, bis der verdammte Stacheldraht kam. Davon habe ich auch geträumt vorhin. Jingle ritt in den verfluchten Draht – weißt du noch?«
»Sicher«, nickte Higgins. »Jingle Pepper mit seinem alten Armeehorn, der konnte blasen! Wir lagen bei Mondschein am Fluß im Gras und Jingle war droben am anderen Ufer, wenn er spielte…«
Jericho sah nicht auf, obgleich sein Herz jäh schneller schlug. Er spürte, daß Higgins ihn anblickte.
»Der Mond«, lächelte Mikel. »Er spiegelte sich im Pecos – und die Nacht war so lau. Mein Gott, wir hatten Limpsy begraben, und Jingle blies für ihn ›My beloved Texas‹. Wir haben im Gras gelegen und… und…«
»Ja«, quetschte Higgins hervor. »Das war so feierlich und schön. ›My beloved Texas‹ für den armen Limpsy, den guten Jungen. Verdammt, schön und traurig zugleich, das war es. Du, he, Undertaker!«
Jerichos Puls hämmerte, aber er hob ganz ruhig den Kopf.
»Ja?« fragte er gleichmütig.
»Kennst du unser Lied – das der Texaner, kennst du es?«
»Sicher, Higgins…«
»Und du könntest es auf deine Posaune blasen?«
»Sicher, Higgins, sicher.«
Stille kam – Higgins sah Mikel an.
»Du«, flüsterte Mikel. »Du,
Graves, könntest du das für mich spielen – jetzt?«
Es war nicht mehr still, denn einer schrie wie jemand, dem ein Apache einen Speer in die Seite gerammt und bedächtig umgedreht hatte: »Nein, nein, verflucht! So weit kommt es noch, daß der Kerl hier tröten darf!«
Jake stieß sich vom Fenster ab, sah den unrasierten Eddie seltsam an, der schreiend in der Tür erschienen war.
»Was ist das?« fragte Jake Higgins unnatürlich ruhig. »Seit wann bestimmst du Giftnudel, was hier geschieht? Du fauler Stinkstiefel liegst seit Tagen auf deiner Koje, rührst keinen Finger und reißt dein Maul hier auf, obgleich du hier gar nichts zu sagen hast? Jericho, kannst du das Lied spielen?«
»Sicher, Higgins.«
»Du verfluchter Hund!« gurgelte Eddie. »Wage es, und ich mache dich zum Sieb. Beim ersten Ton bläst du dir selbst zum Sterben und…«
Irgendwo in Jake saß schon seit Tagen die Wut auf Eddie, den Giftpilz. Die Drohung jetzt war einfach zuviel, der ganze Kerl Eddie war ihm zuviel.
Jake sprang mit einem Riesensatz los. Seine Linke schoß vorwärts und krallte sich in Eddies Hemd. Eddie vergaß sogar zu humpeln, als er nach hinten gestoßen wurde. Und dann war Jake Higgins’ Rechte da und schlug zu – links und rechts teilte sie aus, daß Eddie der Kopf beinahe von den Schultern segelte. Es hagelte Backpfeifen und einen Kniestoß, wo es Eddie ganz besonders weh tun mußte.
»Du verdammte zweibeinige Ratte!« brüllte Jake in wilder Wut los. »Ich habe dich gewarnt, oder nicht? Du kannst und willst nicht hören, aber ich bin nicht Moss, mit dem du das machen konntest. Ich sage, du hältst dein elend großes Maul, und dann klappst du es zu und bist stumm, bis ich dir erlaube, deine Giftspuckerklappe wieder aufzusperren. Dir werde ich helfen!«
Vielleicht hätte Eddie zum Colt gegriffen, wenn er noch gekonnt hätte. Doch da war dieser fürchterliche Schmerz im Unterleib, da hielt er die Hände hin und dachte, es müßte ihm alles zerreißen. Dafür konnte er den Kopf nicht decken und bekam rechts und links, bis ihm die Wangen glühten. Zwar merkte er es erst, als er auf seine Koje geschleudert wurde und dort liegenblieb. Er war ein Wurm, der sich krümmte, der keine Luft bekam die ersten zwei Minuten. Danach wimmerte er und klagte wie ein mondsüchtiger Hund.
»Paß auf, was ich jetzt sage!« schrie ihn Jake Higgins an. »Du
rührst dich nicht von der Stelle, du bleibst dort liegen und machst dein Lästermaul erst auf, wenn ich es dir großzügig erlaube. Einen Ton vorher, einen Ton, dann bekommst du die nächste Ladung. Und wenn du mich morgen ärgerst oder irgend etwas versuchst, dann bist du eine Leiche, das schwöre ich dir! Ich hätte dir damals schon dein Giftmaul poliert. Aber Moss war da – und der hätte sich dann mit mir geschossen, statt dir auch noch ein paar Maulschellen zu verpassen. Rühr dich, und du erlebst die Hölle!«
Er fuhr herum, knallte die Tür zu, ließ Eddie einfach liegen und sah Jericho an.
»Gut«, flüsterte Mike. »Das war gut – hat mir wohl getan. Dieses Stinktier Eddie – gute Medizin, Jake!«
»Die war längst fällig«, knirschte Jake. »He, Graves, hole deine Posaune her. Geh mit, James!«
James Edson erhob sich. Er war grinsend sitzen geblieben, als Eddie seine Tracht Schläge erhalten hatte. Edson war dabei gewesen, als sie die Leichenkutsche durchsucht hatten. Sie hatten alles umgedreht, auch den Posaunenkoffer geöffnet. Abe, der manchmal verrückte Ideen hatte, hatte die Posaune angelüftet, um zu sehen, ob unter ihr nicht etwa eine Waffe lag. Danach hatte er in das Ding gepustet, dabei gegrinst und doch keinen Ton herausbekommen. Nur die Wangen hatten ihm hinterher geschmerzt von jenem vergeblichen Gewaltblasen, mehr Erfolg war ihm nicht beschieden gewesen.
Edson erinnerte sich, daß Jake geflucht hatte, sie sollten den Blödsinn lassen, es gäbe andere Dinge zu tun. Da hatte Abe die Posaune wieder in den Koffer versenkt und diesen zugeknallt. Im Koffer war ja auch nichts gewesen…
»Na, komm, Mann«, sagte James Edson grinsend. »Holen wir das Ding. Und dann blase uns anständig einen vor, verstanden?«
»Ja«, antwortete Jericho freundlich. »Das tue ich so gut ich kann, Edson.«
Er sagte es und ging vor Edson her hinaus. Und dann fiel ihm sofort etwas auf: die Bohlentür des Blockhauses war geschlossen worden, doch hinter dem Fenster schimmerte Lichtschein.
Lichtschein, dachte Jericho beklommen, Licht am Tag? Die Luke im Boden, der Kellerraum darunter, das ist es! Abe Panhurst ist nach unten gestiegen. Und was macht er dort?
Jericho ging und schien gar nicht zum Blockhaus geblickt zu haben. Er sollte den Banditen etwas vorblasen.
Genau das werde ich, dachte Jericho, aber ich fürchte, die Melodie wird euch nicht gefallen. Meine Pechsträhne ist zu Ende, ich fühle es!
Er hatte sich in seinen Gefühlen noch nie vertan…
*
Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, kein Muskel zuckte, kein Lid zwinkerte. Er stand jetzt auf dem Bock, die Knie an den Sitz gelehnt, den Oberkörper vorgebeugt und den Koffer vor sich. Er wußte, daß sein Gewehr irgendwo im Sitzkasten mit dem Revolver lag und wartete. Er war den Waffen ganz nahe, aber er kam nicht heran, denn unten stand der hagere James, die Hand am Colt.
Manchmal hatte man keine Chance, auch wenn man dem Ziel greifbar nahe war, es beinahe packen konnte. James Edson würde ziehen, ehe er das Sitzbrett hochgeklappt hatte. Und selbst dann, wenn er Edson austricksen konnte, war immer noch Higgins da.
Higgins hatte die Tür des Blockhauses aufgemacht. Jericho sah ihn neben der Tür stehen, die Lippen bewegen, aber er hörte nicht, was Higgins zu dem rothaarigen Abe Panhurst sagte. Es war auch gleichgültig, was Higgins sagte. Es zählte nur, daß er dort stand und herblickte, daß er schießen konnte und treffen würde. Und dann gab es noch Abe Panhurst im Blockhaus und so nahe an Big Bill Regan und Mabel. Und es wäre undenkbar gewesen, daß Jericho durch eine Narrheit ihr Leben gefährdet hätte.
Ruhig, dachte Jericho, nur ganz ruhig und nicht die Nerven verlieren. Eddie kennt dich, aber auch nicht richtig. Die dort haben dich erlebt und glauben, daß du gerissen bist. Mehr wissen sie nicht von dir. Du hast dich immer beherrschen können, wenn es sein mußte. Gut, ein paarmal hast du das nicht geschafft, aber hier schaffst du es. Mach weiter, Junge, mach nur weiter!
Die große Gleichgültigkeit, wie er es nannte, war über ihn gekommen. Er klappte den Koffer auf, durch dessen Schutzhülle kein Regen auf den Kasten gekommen war. Die Hülle hatten sie auch in den Blockkasten gefeuert, den Posaunenkasten aufgesperrt und hineingesehen, das wußte er längst. Was sie in ihm getan hatten, wußte er nicht, aber nun sah er es.
Der schöne Leinenüberzug lag neben der Posaune achtlos zusammengeknüllt im Kasten. Das Messing glänzte Jericho entgegen, und er griff ganz ruhig zu, nahm die Posaune hoch. Der Ärger meldete sich wieder in ihm, als er über die Ventile blickte und jenes verbeulte sehen mußte. Da hatte er sich so viel Arbeit gemacht, aus Hickoryholz einen Rundstab gedreht und den versucht in das Ventil zu treiben, um es auszubeulen, rund zu gestalten, die Delle herauszubekommen. Umsonst, vergebens die Mühe. So ein Knick in einem Messingrohr, den bekam nur ein Instrumentenmacher heraus.
Einen Moment fragte sich Jericho, ob der Instrumentenmacher Herb Wagner in Tucson jemals seine Posaune reparieren würde. Vielleicht sah Herb weder die Posaune noch ihn, Jericho, jemals wieder.
Nun gut, dann sterbe ich mit meiner Posaune, dachte Jericho. Ich werde noch einen letzten Ton herausbringen und tot sein. Und dann wird meine alte, gute Mary Maloney, meine Haushälterin in Jerome, ein paar Tränen vergießen. Nur ein paar oder mehr? Und meine kleine, hübsche Miß Lehrerin wird vielleicht eines Tages mein Tagebuch in der Hand halten und meine Gedanken über sie und mich lesen. Und dann wird sie wohl auch heulen und vielleicht eine alte Jungfer werden, weil sie keinen besseren Mann als mich bekommen wird. Yes, Sir, ich bin der beste Mann der Welt, den eine Frau jemals bekommen kann, denn ich werde dieser Frau immer treu sein, solange sie mich nicht betrügt. Wieviel Prozent aller Frauen mögen eigentlich ihre Männer betrügen? Man ist als Mann doch wirklich arm dran. Unsereins geht arbeiten und die Frau geht unser Geld ausgeben. Und dann trifft sie jemand, der ihr sagt, daß sie die Schönste ist und schon…
»Verflucht«, sagte Jericho, denn das war ein abscheulicher Gedanke.
»Was hast du denn?« fragte James Edson auch sofort.
»Nichts weiter«, sagte Jericho mürrisch. »Das Ventil – sieh dir das Ventil an, Mann!«
»Ja, schön verbeult, ich hab’s schon vorgestern gesehen«, antwortete Edson. »Ah, hat Abe deshalb etwa keinen Ton herausbekommen können?«
»Deshalb nicht«, klärte ihn Jericho kopfschüttelnd auf. »Wenn jemand, der ein Blasinstrument besitzt, etwas auf sich und sein Instrument hält, dann stopft er vorn in den Trichter ein Tuch hinein. Du weißt nicht, warum, nehme ich an, oder?«
»No, weiß ich wirklich nicht«, gab Edson zu. »Warum das Tuch?«
»Weil doch dein Atem beim Blasen Feuchtigkeit in das Instrument bringt. Es gibt auch Leute, die richtig spucken, wenn sie blasen. Ich spucke nicht! Es ist nur so, daß sich der feuchte Atem sammelt und auf die Dauer, wenn er ewig drinnbleibt, Belag auf die Ventile oder die Messingstimmen bringt – je nachdem, welches Instrument man hat. Steckt man ein Tuch in den Schalltrichter, saugt das sozusagen alle Feuchtigkeit auf. Feuchtigkeit zieht sich immer dorthin, wo sie am leichtesten aufgenommen wird – von ganz allein, verstehst du?«
»Teufel auch, was man alles wissen muß«, staunte Edson. »Aha, das ist das Tuch?«
Jericho fischte es aus dem Trichter und hielt es ihm hin.
»Das ist es«, bestätigte er. »Wer jedoch ganz gewissenhaft ist, der steckt noch ein weicheres vorher hinein und formt es zu einem Ball. Deshalb hat dein Freund Abe auch keinen Ton herausgebracht, klar?«
»Daher«, grinste Edson. »Dem taten vielleicht die Backen weh.«
Jericho lachte – Edson blickte ihn verwirrt an.
»Warum lachst du, Mann?«
»Wegen der Backen, Edson.«
»Ja«, sagte Edson grienend und treuherzig. »Die hat er sich dauernd gerieben.«
Jericho lachte noch ein wenig mehr. Er stellte sich vor, wie Abe sich die Backen hinterwärts gerieben hatte. Nun ja, Edson wußte einiges nicht. Er wartete grinsend, bis Jericho mit geschulterter Posaune vor ihm stand. Dann marschierten sie los – Jericho voran, Edson hinterdrein.
Jake Higgins stand nicht mehr am Blockhaus, dessen Tür er wieder geschlossen hatte. Er lehnte schon drüben am Steinhaus im Schatten neben der Küchentür.
So ist das, dachte Jericho und sah ganz harmlos zur Blockhüttentür, der rothaarige Abe steckt also unter dem Boden der Hütte. Da steckst du sehr gut, Freundchen, da wirst du auch bleiben. Wenn du das, was ich vermute, dort unten bei dir hast, dann wagst du alles, aber eins nicht: auch nur einen Schuß abzugeben. Es würde nach dem einen Schuß vielleicht nichts mehr von dir vorhanden sein, Abe, nicht mal die roten Haare, die bestimmt nicht, Freundchen. Wenn ich es schaffe, bekommst du die Falltür auf die Haare. Dann sind sie platt, hihi!
Jericho grinste Higgins an. Er freute sich anscheinend, daß er endlich blasen konnte. Danach blieb er stehen und war etwa auf der Höhe jener schönen, alten Sitzbank, die einmal irgendein Bandit vor die Blockhütte gebaut hatte.
»Was ist, willst du nicht hereinkommen?« fragte Higgins verwundert.
»Wenn du willst«, erwiderte Jericho achselzuckend. »Wo hat denn euer Jingle Pepper immer seine Trompete geblasen, Jake?«
Jake Higgins war bestimmt nicht dumm, er dachte nach und sagte dann – es überraschte Jericho gar nicht: »Das meinst du? Eine Posaune macht noch mehr Lärm als eine Trompete, wie? Es wäre zu laut für Mike, meinst du?«
»Das meine ich«, erwiderte Jericho. »Außerdem hört es sich viel besser von draußen an, noch besser allerdings aus weiter Ferne. Die Schlucht müßte ein schönes Echo haben, und eigentlich sollte ich dort hinten hingehen und von der Biegung aus blasen.«
Es war ein Versuchsschuß Jerichos, aber er saß voll im Schwarzen.
»Da hinten? Du spinnst wohl!« sagte Higgins. »Bleib du nur da drüben, das ist weit genug entfernt. Du denkst doch wohl nicht, du könntest um die Biegung verschwinden, was?«
»Waaas?« wunderte sich Jericho. »Wohin sollte ich denn… Mensch, du hast Ideen!«
»Weil ich die immer gehabt habe, lebe ich noch«, spottete Higgins. »Und führe uns nicht in Versuchung! Merke dir das, Graves.«
»Und erlöse uns von dem Übel«, sagte Jericho trocken und sah so flehend zum Himmel, daß Higgins und Edson laut auflachten. Selbst der humorlose Schmuddelkoch Hank lachte in der Küche. Und auch aus dem Hüttenkeller klang es dumpf herauf. »Na, dann setze dich mal – spielt sich besser, wenn man sitzt, Jake.«
»Hähähä, das ist ein Vogel!« ächzte Edson, sich die Tränen aus den Augen wischend, wobei er sich beinahe seinen Coltlauf ins linke Nasenloch steckte. Darüber erschrak er derart, daß er den Colt ins Holster stieß. »Mensch, Jake, wenn der nicht Townmarshal wäre, könnte er direkt zu uns passen.«
»Das könnte er«, nickte Higgins und winkte ihm. »Komm her und sieh ihm zu. Ich gehe zu Mike und will sehen, wie ihm unser schönes Lied gefällt. Streng dich an, Jericho!«
»Darauf kannst du dich verlassen«, versprach Jericho. »Ich werde mir seltene Mühe für euch geben.«
Er saß schon, die Posaune auf den Knien, Trichter noch schräg gehalten, weil er die Tücher herausnehmen mußte. Er legte sie rechts neben sich auf die Bank, stellte dann die Posaune aufrecht und blies einmal hinein.
Der erste tiefe Ton hallte durch den Canyon, fing sich an der jenseitigen Wand und kam zurück.
Im gleichen Augenblick hörte Jake Higgins, der an Mikes Bett trat, nebenan jemand entsetzlich stöhnen. Es war ein Laut, wie ihn kein Sterbender besser von sich geben konnte.
»Oaaach!«
Bis zu dieser Sekunde hatte Eddie, der Giftpilz – schwitzend in Erwartung kommender grausiger Dinge, auf seiner Pritsche gelegen und gelauscht. Dabei hatte er sich irgendwo massiert, weil er dort immer noch greuliche Schmerzen hatte.
Kaum vernahm Eddie den ersten Ton der Posaune, vergaß er seine Schmerzen. Er stöhnte entsetzlich, riß sich die Decke über den Kopf, schloß die Augen und bohrte sich beide kleine Finger in die Ohren. Er tat es so tief, daß sie wie Pflöcke in ihnen steckten und ein Singen durch seinen armen Kopf fuhr. Dennoch schwor er sich, daß er lieber den hellen Gesang als jene grausigen Posaunentöne hören wollte. Mochte kommen was wollte, er würde die Finger nicht eher aus seinen Ohren ziehen, als bis die Tröterei ein Ende hatte.
»Hast du den Idioten gehört?« fragte Jake Higgins seinen Freund Mike. »Ruhe da drüben, sonst komme ich. Und dann sagst du gar nichts mehr, du Giftpilz. Los, fang an, Jericho!«
Ja, dachte Jericho, indem er die Füße etwas nach hinten stellte und einmal nach rechts schielte, ich fange an, Higgins. Wie Eddie, der Giftmolch es gesagt hat: ich blase zum Sterben.
David Jericho Graves, Undertaker Sargmacher, Townmarshal und Posaunenkünstler, brachte seine Lippen an das Mundstück der Posaune. Dabei blickte er durch halbgeschlossene Lider zu dem etwa fünfzehn Schritt entfernten James Edson.
Edson lehnte neben der Tür des Steinhauses an der Wand. Der hagere Mann hatte die Arme über der Brust verschränkt, und Jericho fragte sich, wie lange er brauchen würde, um seinen Colt zu ziehen.
Von Hank Priestley, dem Schmuddelkoch der Bande, war nichts zu sehen.
David Jericho Graves, von dem niemand genau wußte, was er wirklich dachte und tat, holte tief Luft. Und dann begann er zu blasen…
*
Higgins hatte plötzlich das Würgen in der Kehle. Wann immer er an jene glücklichen Jahre auf der Pecos Ranch zurückgedacht hatte, war Traurigkeit über ihn gekommen. In seiner Seele hatte die Erinnerung an den stillen Fluß, das sich im Wasser spiegelnde, zitternde Mondlicht und den sehnsüchtigen Klang von Jingle Peppers Trompete immer noch jene weiche Stimmung hervorgerufen, zu der er sonst nie mehr fähig gewesen war. Er war mit den Jahren steinhart geworden – ein Mann von eisiger Kälte und Gnadenlosigkeit. Es hatte wenige Stunden in Higgins’ letzten Jahren gegeben, in denen er mit sich allein gewesen war und seinen Jugendjahren hatte nachhängen können.
Die Vergangenheit war ihm manchmal wie ein glücklicher, lichter Traum erschienen, den er erlebt hatte und nie wieder haben würde.
Die Töne, die nun durch das Fenster zu ihm hereindrangen, erfüllten sein Inneres mit einem Gefühl so maßloser Traurigkeit, daß er alle Mühe hatte, an sich halten zu können. Dies war von Anbeginn das Lied aller Texaner gewesen, dessen Text selbst jene gelernt hatten, die nie das Lesen und Schreiben beherrscht hatten. Texaner hatten es in ihren Kriegen, im Sieg und in der Niederlage gesungen. Und wenn sie es gesungen hatten – irgendwo in jener grenzenlos erscheinenden Weite ihres Landes, zwischen den Mauern ihrer Häuser oder auf jenen Plätzen, die ihren Toten zur letzten Ruhe dienten, dann hatten die Männer die Hüte abgenommen und vor die linke Brustseite gehalten, inbrünstig und mit voller Stimme den Text singend und sich eins fühlend mit allen, die neben ihnen standen.
Hier nun, in dieser Enge der Schlucht, als Gesuchter und Ausgestoßener in der Einsamkeit der Berge, erklang das Lied wieder. Es erklang erst leise und wie zaghaft, doch dann stieg die Melodie an, wurde voller und schien endlich den ganzen Canyon mit ihrer Wucht und Gewalt auszufüllen.
Es war Higgins, als käme das Lied nun von allen Seiten zu ihm, als umbrandete ihn die Melodie wie die Wogen des Meeres. Er saß ganz still, hatte die Hand hochgenommen und den Hut gezogen, um ihn zwischen seinen Knien zu halten. Seine großen, kräftigen Hände waren das einzige, was sich an ihm bewegte.
Jake Higgins, der Bandit, drückte seinen Hut langsam zusammen und merkte es nicht.
Zu Hause sein, dachte der Mann Higgins, mein Zuhause noch einmal sehen, Mutters Grab und das meiner Geschwister, die von Comanchen umgebracht wurden. In Texas sein, alte Freunde wiedersehen, aber dort suchen sie mich. Sie suchen mich zu Hause wie in New Mexico, sie suchen mich hier – mich und Mike. Mike…
Er senkte den Blick und sah das stille Gesicht unter sich, das gerade noch gelächelt hatte. Das Gesicht seines Freundes war so still und verklärt im Ausdruck. Die Augen hielt Mike geschlossen. Und aus den Augen lief es, rann rechts und links aus den Augenwinkeln die Wangen hinab. Mike, sein harter Freund Mike, weinte lautlos, aber sein Gesicht verzerrte sich dabei nicht, es sah so aus, als wäre Mike Ellery etwas Gnadenvolles und Schönes widerfahren.
Ich, dachte der Bandit Jake Higgins, ich mochte noch einmal ein Junge sein und mein ganzes Leben vor mir haben. Ich würde alles anders machen, damit ich stolz auf mich sein könnte und nicht das, was ich jetzt bin. Unser Lied – unser schönes, altes Lied, ich werde es nie mehr so schön gespielt hören. Wie der da draußen spielt! Ach, mir ist, als könnte ich sterben. So sterben dürfen, so schön. Und nie mehr Angst haben müssen, daß sie dich fangen und hinter die Gitter sperren, ausgerechnet dich, der frei sein muß wie ein Vogel. Davor habe ich die vielen Jahre Angst gehabt.
Der Kloß in der Kehle ließ ihn würgen. Seine Hände zerknüllten den Hut immer mehr, und er sah über Mike hinweg, weil er diese stummen Tränen nicht mehr sehen konnte und er, der eisenharte, gnadenlose Jake Higgins sonst auch noch still vor sich hin geweint hätte.
Unser Lied, Mike, dachte er, so haben wir es uns einmal gewünscht, weißt du noch? Da waren wir junge Burschen und tranken für vier, kamen auf die verrücktesten Ideen. Wir wünschten uns, daß Jingle Pepper unser Lied für uns spielen und wir singend in den Tod reiten würden. Er sollte zum Sterben für uns blasen, so närrisch dachten wir einmal.
Der Mann Higgins schloß die Augen und dachte an das, was sie sich vor zwei Jahren geschworen hatten, als man sie beinahe erwischt und sie nur jener Zufall, der für ihn jedoch das Schicksal gewesen war, in letzter Sekunde gerettet hatte. Der Sandsturm hatte dem Aufgebot die Sicht genommen und alle Spuren verweht. Doch ehe es soweit gewesen war, hatten sie sich in die Hand versprochen, daß einer den anderen auf ein gemeinsames Kommando hin erschießen würde. Lebend hätte man sie nie erwischt.
Nie, dachte Jake Higgins, niemals! Ich bringe dich nach drüben, Mike, mein Freund. Und dann sollen die anderen tun, was sie wollen – wir gehen weit fort, ganz weit – du und ich. Ich lege dich auf den Wagen dieses Undertakers, der für uns unser Lied bläst, Mike. Er wird dich fahren, dieser seltsame Vogel, der dir das Leben gerettet hat. Darum werde ich ihm sein Leben schenken, er darf leben, Mike, aber der Alte und das Girl – die kann ich nicht am Leben lassen. Ich habe noch nie eine Frau getötet, ich könnte auch nie auf eine schießen. Deshalb kann ich es nur anders machen. Sie werden nichts merken, sie werden auch keine Angst haben müssen. Der Tod wird sie überraschen, vielleicht sogar im Schlaf, Mike. Ich bringe sie ja nicht um, ich nicht. Mike…
»Schön«, hörte er Mike wispern, als der letzte Ton verklang und die nächste Strophe des Liedes kommen mußte. »Schöner als Zuhause. Man muß erst weit fort sein, um zu wissen, was man an seinem Zuhause gehabt hat, Alter. Ich möchte noch einmal nach Hause…«
Nach Hause, dachte Jake Higgins, kommen wir nie mehr. Vielleicht in zwanzig Jahren, wenn sie uns nichts mehr tun können. Nach Hause, Junge – ich würde zu Fuß hingehen, wenn ich könnte. Spiel weiter, Jericho, du seltsamer Vogel, spiel weiter!
Die Posaune setzte wieder ein, die Melodie schwang durch die Schlucht.
Der Mann saß auf der Bank und spielte. Er sah den anderen drüben an, der hager an der Mauer neben der Tür lehnte. Er sah Hank, den Schmuddelkoch, der vorhin noch in der Küche mit Töpfen geklappert hatte, als bewegungslosen Schatten hinter der halboffenen Tür stehen.
James Edson schloß langsam die Lider, ließ sich von der Melodie forttragen. Nein, er brauchte nicht auf den Posaunenbläser dort drüben zu achten. Der spielte so schön. Und wer spielte, der hatte keine Hand frei, um irgend etwas zu werfen. Einen Stein hätte er vielleicht aufheben und werfen können, denn sonst hatte er ja nichts, was sich als Waffe benutzen ließ. Und wenn er sich nähern wollte, würde die Melodie lauter werden.
Der spielt, dachte James Edson, und wie der spielen kann. Ich habe nie gedacht, daß man mit einer Posaune so schöne Musik machen kann. Das geht einem nahe.
Hinter ihm stand der Schmuddelkoch und hatte den Kochlöffel in der Hand, eine getrocknete Pflaume zwischen den Zähnen. Hank kaute mechanisch im Takt mit. Nein, er war kein musikalischer Mensch, er hatte nicht mal das Gehör für Musik, aber es gefiel ihm, wie der da draußen spielte. So etwas hatte Hank noch nicht erlebt. Da saß doch dieser Spaßvogel auf der Bank. Ihr Gefangener spielte für sie – verrückt war das.
Der dritte Mann war erst mit dem Kopf aus seinem Loch im Boden gekommen. Und dann war er herausgestiegen. Die Musik zog Abe Panhurst an, Abe, der immer so gern getanzt hatte, obgleich er gar nicht richtig tanzen gelernt hatte. Spaß hatte er daran gehabt, der rothaarige Abe, nichts als Spaß, wenn er die Girls geschwenkt und sie vor Vergnügen gekreischt hatten.
Der kann das ja, dachte Abe verwundert, und wie der das kann, dieser Bursche. Wenn er das gespielt hat, dann frage ich ihn, ob er auch den Cake-Walk kann und für mich spielen möchte. Mensch, das ist ein Ding, da haben wir nun unsere eigene Musik. Hätte ich nie gedacht, daß es hier noch so lustig werden würde. Bekommen der Alte und das Girl eben noch mal Musik zu hören. Blas zum Sterben, Jericho, hoho, das ist ein Spaß!
Er ging auf Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie spaltbreit und lugte hinaus, aber er mußte sie schon weiter öffnen, wenn er diesen seltsamen Spaßvogel sehen wollte. Nun sah er ihn, sah seine Pausbacken, die Hand, die um den blitzenden Bügel lag und die Finger, die die Ventile drückten.
Teufel auch, dachte Abe, nun sehe ich das mal ganz aus der Nähe. Also so macht er das – da muß man drücken? Hätte ich mal wissen sollen, dann hätte ich das Ding auch zum Tröten gebracht, wetten? He, was hat der denn – erschrickt der sich so…
Der Mann auf der Bank sah ihn aus den Augenwinkeln, nahm erschrocken den Blick herum und schien eine Sekunde vor Schreck zu erstarren.
Mein Gott, schoß es Jericho durch den Kopf, Herr im Himmel, geh zurück, du Idiot, geh doch zurück, hau ab! Weiterspielen, bloß weitermachen. Der kommt heraus, das hätte ich nie gedacht. Dabei bin ich so sicher gewesen, daß ich nun das Glück gepachtet hätte. Nichts ist – Pech, rabenschwarzes Pech. Was macht der denn, der Narr, was winkt der? Ach, ich soll mich nicht stören lassen? Lasse ich mich auch nicht, blöder Hund. Nein, nein, nicht setzen, Mensch, nicht neben mich setzen!
»Tut mir leid«, sagte Abe halblaut, indem er beruhigend abwinkte. »Ich wollte dich nicht erschrecken, Mann. Spiel nur weiter, laß dich nicht stören, ich bin auch ganz still, ich setze mich hier neben dich, ich störe bestimmt nicht.«
Er wollte wirklich nicht stören, er war ja bescheiden, wollte nur dieses Spiel der Finger auf den Ventilen ganz genau studieren. Also setzte er sich, beugte sich etwas zur Seite, um besser auf die Ventile sehen zu können.
Abes Linke glitt über das rauhe Holz der Bank, näherte sich vollkommen unbewußt dem Tuch, das dort lag und im Posaunentrichter gesteckt hatte.
Nein, dachte Jericho, nein, Mensch, schiebe es nicht weg, nicht doch anrühren. Du kannst doch die Hand drauflegen, du kannst doch… Nein!
Die linke Hand Abes legte sich auf das größere Tuch, die rechte kam nach, stützte Abes sich vorneigenden und immer mehr zur Seite kommenden Oberkörper ab. Die Rechte kam dem Tuch immer näher, jenem zweiten, das wie ein Ball aussah und zuunterst im Trichter gesteckt hatte – richtig festgestopft.
Jericho schielte auf diese Hand, an der so seltsam schwarze Striche waren, durch die Abe wohl etwas gezogen hatte, was wie ein dicker Sielenpechdraht gewesen sein mußte. Schwarze Streifen – Pechspuren, oder?
Weiterspielen, dachte Jericho verzweifelt, nur nichts merken lassen. Das ist nicht mehr zu verhindern, ich kann den Kerl nicht bremsen. Stehe ich auf, wird James Edson drüben aufmerksam. Oh, Herr im Himmel, steh mir bei!
Er schielte, spürte, wie ihm der kalte Angstschweiß ausbrach. Dieser Rotschopf hob die Rechte, hob sie und…
Aus, dachte Jericho und spielte ganz mechanisch weiter, nahm nun das linke Bein zurück und stemmte es ein, aus, Jericho, der legt die Hand auf das Tuch, auf diesen Ball. Und dann – jetzt!
In dieser Sekunde passierte es.
Abe Panhurst senkte die Hand auf den Stoffball aus weichem Handtuchstoff. Und Jericho saß sprungbereit da und wußte, was gleich passieren mußte. Noch wunderte sich Abe nicht, noch merkte er gar nichts, aber gleich…
Abe hatte die Hand auf dem Ball aus weichem Stoff. Abe glotzte auf die Finger Jerichos, die auf und nieder gehenden Ventile.
Das lernt unsereins nie, dachte Abe Panhurst. Herauf und herunter – und jedesmal ein anderer Ton, das ist ja verrückt, so was kann man ja gar nicht lernen, das muß einem doch angeboren sein. Nanu, was ist das denn hier? Das ist doch Stoff, aber so hart?
Jericho sah auf die Hand, sah die Finger sich strecken, so ganz seltsam taten sie das. Und dann kam die andere Bewegung, diese Tastbewegung, die über den Ball ging, ihn sozusagen abkneten wollte.
Was ist denn da drin, dachte Abe, der Rotschopf, verwundert. Fühlt sich ja seltsam an. Was ist denn…
Die Linke griff nun auch zu, tat es blitzschnell, packte das eine Stoffende, während die Rechte den seltsamen Ball anhob. Dieser Ball war nichts als ein zusammengelegtes Handtuch, das sich jäh entrollte und…
Jericho hatte vielen Leuten in und auf die Augen gesehen. Er hatte Schreck und Freude, Kummer und Staunen in ihnen gesehen. Nun sah er noch eine Abart des Staunens – fassungsloses Staunen – ungläubiges, geradezu verrücktes Staunen.
Abe saß da und starrte auf das Ding, das jäh aus dem Handtuch fiel, dessen Stoff sich entrollte. Da lag es nun zu seinen Füßen, lag da wie hingezaubert, wie aus diesem Zylinder gekommen, den der Undertaker auf dem Kopf hatte. Ein Zauberkünstler, dieser Undertaker, ein Wundermacher, wie?
Da lag das Ding und schimmerte bläulich-schwarz in der Sonne, bis auf die eine nußbraundunkle Stelle.
Abe quollen die Augen beinahe aus dem Kopf. Sie traten immer weiter hervor und schienen dem nicht zu trauen, was sie da unten zwischen Abes schiefgelatschten und rissigen Stiefeln liegen sahen. Es war ja auch kein alltäglicher Anblick, daß ein Bandit, der ganz sicher war, daß der Gefangene keine Waffe mehr haben konnte, plötzlich einen Achtunddreißiger zwischen seinen Füßen entdeckte. Da lag er nun, der Colt mit dem kaum fingerlangen dicken Lauf, dieses Ding, das sie Stummelcolt nannten.
Wa… was, dachte Abe, das ist ja, das ist doch…
Er sah hoch, hatte die Musik noch in den Ohren. Es war so unwirklich, was Abe gerade erlebt hatte, daß er zuerst aufsah, aber gleich darauf den Blick wieder senkte, denn er mußte sich doch glatt getäuscht haben, das konnte ja gar nicht wahr sein, durfte nicht, gab es nicht, oder? Hatte dieser Zauberkünstler ihm einen Streich gespielt, hatte er den Colt etwa schon wieder in seinem Zauberzylinder verschwinden lassen?
Abes Blick zuckte wieder nach unten.
Es war kein Zaubertrick, der Colt lag immer noch dort.
Abes Augen waren nun so weit aus ihren Höhlen gequollen, daß sie regelrecht vorstanden. Sie wanderten in die Höhe, wollten zu diesem Zauberkerl blicken, der scheinbar völlig ruhig weiterspielte, oder?
Was denn, dachte Abe verstört, warum wird das denn so laut, warum… oaaah!
Der Mann neben ihm rutschte nur herum, schwenkte dabei seine Posaune und senkte sie. Und dann stieß er sie jäh vorwärts, blies noch einmal hinein – genau nach der Melodie, aber direkt vor Abes verzerrtem Gesicht. Im letzten Moment fuhren Jerichos Lippen vom Mundstück. Dann gab es ein schepperndes und messingblechernes Geräusch. Vor Abes Augen hatte es nur ganz kurz geblinkt, war jäh gelbes Metall. Und dann sah er mitten in den dunklen Trichter, sah nur noch schwarz vor seinen Stielaugen.
Irgendwo am Kinn war der Schmerz, an den Ohren schrammte etwas – gegen die Stirn prallte es und schleuderte Abe Panhurst zurück. Er schrie, als er das Ding vor den
Kopf bekam und die jähe Dunkelheit ihn beinahe zu Tode erschreckte. Dazu kam der Schmerz am Hals, denn dort drückte sich der aufgebogene Rand dieser Riesentröte ins Fleisch.
Zurück, dachte Abe noch, zurück!
Er schrie und warf sich zurück, sah einen Moment wieder Lichtschein und stand für einen weiteren winzigen Moment.
In dieser Sekunde wirbelte die Posaune herum, fuhr der Trichter von Abes Kopf herunter. Abe hatte in den Trichter gebrüllt und nicht geahnt, daß aus dem Mundstück nur ein plärrender Ton kommen würde. Dafür kam etwas mehr an Gebrüll links und rechts an Abes Gesicht vorbei aus dem Trichter zurück. Abe wollte nur hinter die Tür und wieder ganz schnell in die Blockhütte zurück. Er schrie auch nicht mehr. Der Trichterrand hatte ihm zuletzt noch etwas zu sehr gegen den Kehlkopf gedrückt. Abe röchelte seltsam, griff sich an den Hals, statt zum Colt.
Und da kam die Posaune mit dem Mundstück auch schon angeschossen.
Das Mundstück jagte Abe Panhurst in den Bauch, ein wilder Stoß nahm ihm jäh alle Luft. Er röchelte nun auch nicht mehr. Dafür prallte er gegen die Bohlentür, sah vor sich das Steinhaus verschwimmen, weil ihm Wasser nach diesem Stoß in die Augen schoß. Es ging alles viel zu schnell, es geschah in einem Atemzug oder höchstens anderthalb. Abe stand zusammengekrümmt an der Tür, als Jericho sich schon bückte, die Linke zuschnappte und den Colt erwischte. Die Rechte holte im Sprung bereits aus, ehe Jericho noch vor Abe landete. An Abes linker Hüfte flog die Posaune vorbei ins Blockhaus und bis auf jene Pritsche, auf der Abe immer gelegen und Wache gehalten hatte.
Die Rechte war jetzt frei, die Linke zuckte herum. Der Mann mit dem Zylinder und dieser seltsamen Nickelbrille auf der Nase stand schon vor Abe und gab der Tür samt Abe einen dritten Stoß. Dabei sah sich der Mann mit dem Zylinder, den Colt in beiden Händen, blitzschnell um.
Drüben stand einer hager und grauhaarig an der Mauer neben der Küchentür.
James Edson riß die Augen auf, als die Musik jäh abbrach und Abe so gurgelnd schrie, daß es halberstickt zu Edson herüberschallte.
Was ist, dachte Edson verstört, alle Teufel, der greift Abe an, der greift ja…
Edsons Arme fuhren auseinander, die Hände bewegten sich rasend schnell. Die Linke stieß gegen die Mauer, die Rechte schnappte nach dem Colt und riß ihn aus dem Holster. Er war immer schnell gewesen, der Mann James Edson, er war es auch jetzt. Er zog, indem er sich von der Mauer abstieß, um Bewegungsfreiheit zu haben, schon den Colt. Und dann sah er den Mann, diesen Posaunentröter, der es doch gewagt hatte, nachdem er so sanft und friedfertig gewesen war, Abe einen Stoß zu geben. In der gleichen Sekunde noch warf sich der Kerl herum, blickte Edson an.
Es war nichts mehr von Friedfertigkeit oder lächelnder Sanftmut in seinem Gesicht. Das Gesicht war steinhart, die Augen hinter der Brille funkelten eiskalt.
Hund, dachte Edson, dir knalle ich eins in die Schulter, dir vergeht gleich die Lust, jemand anzuspringen. Teufel, wo hat er denn die Posaune, wo ist denn…
Und dann riß Edson die Augen vor Schreck auf. Er sah das bläuliche Etwas zwischen den Händen des Unterbuddlers und zauderte nicht mehr. Er schoß sofort, sah den Mann wie einen Schatten zu Boden stürzen und hinter ihm… Abe, den Rotschopf. Etwas hatte Edson noch reagiert, als der Mann auf der Stelle wie ein Schatten in sich zusammengefallen war, etwas hatte er noch den Lauf der Waffe nach unten nehmen können.
Rumms!
Das Brüllen war da, raste durch die enge Schlucht.
Abe, dachte Edson entsetzt, als sich der Rotschopf zusammenkrümmte, der Schmerz sein Gesicht verzerrte und seine Hände zum Leib fuhren, Abe…
Dann erst begriff er, daß er den Mann verfehlt hatte. Der war blitzartig zu Boden gegangen und hatte sich noch herumstoßen können. Edson hatte Abe erwischt, den eigenen Partner – mitten in den Leib.
»Oach, oach«, lallte Abe und taumelte zurück. »Oach!«
Edson hörte es nicht, Edson sah nur den Mann am Boden liegen, die Arme heben.
Schießen, dachte Edson verzweifelt, der feuert, der…
Rumms!
Er sah den Blitz, hörte einen Donner, der das Tal zum Beben zu bringen schien. Edson taumelte an die Wand zurück, die schwankte, erbebte und wackelte. Er sah den Mann gar nicht mehr, er sah das Dach der Blockhütte und die Felswand über ihr. Die Felswand neigte sich, die Hütte stellte sich auf den Giebel, und irgendwo in Edsons Brust war ein furchtbares Brennen.
Ich falle, dachte er noch, ich falle!
Er fiel über die Schwelle in die Küche hinein. Er stieß dabei die Tür an, die zurückflog und haarscharf an jenen dritten Mann vorbeisauste, der auf den Pflaumenkern gebissen hatte.
Hank biß zu vor Schreck. Er konnte sich nicht rühren, er war wie gelähmt. Für Hank, den Schmuddelkoch, an dem alles faul war, selbst der Geist, kam zuviel zu schnell. Aus weit aufgerissenen Augen blickte Hank wie erstarrt auf den zu Boden stürzenden Posaunentröter. Danach zuckten Hanks Lider einmal, denn Abe schrie kurz nach dem Brüllen des Schusses unmittelbar neben der Tür. Abe verschwand rückwärtstorkelnd. Und dann war da noch ein Brüllen, ein Blitz, der aus den Händen des Posaunenbläsers drüben zu brechen schien. Im Blitz verschwand Abe Panhurst. Er war fort, verschwunden wie ein Geist, der in den Boden des Blockhauses, in die Erde gefahren war. Fort, untergetaucht, in die Erde…
In den Keller, dachte Hank, der Schmuddelkoch, entsetzt, der ist in den Keller gestürzt, oh, mein Gott!
In diesem Augenblick kam James herein. Er fiel über die Schwelle, blieb liegen, den Colt in der Faust, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt.
Weg, dachte Hank und sprang endlich, bloß weg hinter die Mauer. Der Kerl, der verfluchte, der da drüben… Was denn, wo ist er denn?
Der Kerl war weg, die Tür des Blockhauses flog zu. Und nebenan schrie Higgins wie ein Tier, schrie und…
Hank hörte das Klirren, sah Higgins das Fenster zerschlagen und griff endlich nach dem eigenen Colt.
»Hank, schieß, schieß!«
Die Scherben flogen bis auf Mikes Bett – Scherben, die bei einem Schlag von innen nach innen flogen.
Hank hörte den Knall ganz dumpf und begriff es nicht gleich. Dafür begriff es Jake Higgins, der das grelle Pfeifen an sich vorbeiziehen hörte. Danach knallte die Kugel drüben in die Mauer und ließ Steinsplitter durch den Raum winseln. Jake war schon neben dem Fenster, sah die Scherben auf Mikes Bett herabregnen.
Der Kerl, dachte Jake Higgins, dieser Hundesohn, der hat durch das Fenster des Blockhauses gefeuert. Schießt der mitten durch das Fenster. Verflucht noch mal, die nächste Kugel!
Krennggg!
Da war sie, traf die Mauerkante am Fensterrahmen und irrte heulend in den Raum ab, so daß sich Higgins
an die Wand warf, Deckung suchte.
»Verdammter Mist, Hank…«
Der stand da, stand geduckt zwischen Tür und Fenster an der Wand, als der dritte dumpfe Knall von drüben kam und das Fenster zersplitterte. Die Kugel fauchte in die Küche, traf irgend etwas.
Klatsch!
Drüben hatte einer eiskalt hinter dem Fenster auf den Knien gelegen und rasend schnell beidhändig angeschlagen. Drüben gab einer den dritten Schuß ab und hatte haargenau gezielt.
Ich muß treffen, dachte Jericho, ich muß. Das sind immer noch drei, sogar Mike könnte noch feuern. Habe ich sie auf dem Hals, stecken sie mir die Blockhütte an, die bringen mich um und nicht nur Big Bill und Mabel. Getroffen – habe ich, oder habe ich…
Die Stelle, auf die er gezielt und gefeuert hatte, er sah sie jetzt, sah aber auch die Hand drüben aus dem Fenster tauchen, den Colt…
Rums!
Die Kugel von Higgins fauchte herein.
»Hank, schieß, schieß, ich muß raus, ich muß den Hund von der Seite…«
Hank hatte sich umgeblickt, Hank hatte das seltsame Klatschen gehört und war herumgefahren. Und dann sah er es auf dem Herd liegen, auf der heißen Platte und schrie. Er konnte die Spritzer überall sehen – am Vorhang, an der Wand, auf dem Boden, überall!
Hank Priestley, dem Schmuddelkoch, entrang sich ein derart grauenhafter Schrei, daß Higgins mitten im Satz abbrach. Higgins sah das nicht, was Hank vor den entsetzt aufgerissenen Augen sehen mußte.
Der Fleck, an dem gerade noch die kugelbäuchige Lampe auf dem Regal über dem Herd gestanden hatte, der Fleck war leer. Das Kerosin war, als die Kugel von drüben den dicken Bauch der Lampe hatte zerplatzen lassen, nicht nur verspritzt, es war auch auf die Herdplatte geklatscht. Von der züngelte es jetzt blitzschnell lodernd empor, wurde puffend zu einem Feuerball. Die Hitze der Platte hatte das Kerosin sofort verdunsten lassen. Ein Ball entstand, schien sich auszubreiten, schlug an der Mauer empor, sprang zum Vorhang über.
»Raus – raus!« heulte Hank Priestley, als hätte ihn der nackte Wahnsinn gepackt. »Hilfe – raus hier, raus, wir fliegen alle…«
Er sah nur noch, daß es unter dem Vorhang herkroch und sprang durch die offene Tür und über den ihn so seltsam groß anstarrenden Edson hinweg. Hank Priestley stürzte. Er glich einem Irren, so verzerrt war sein Gesicht, als er wieder auf die Beine kam und nach links davonrennen wollte.
»Nein, nein, raus, weg!«
Der Mann mit dem Zylinder sah die Feuersäule und warf sich hinter die dicken Baumstämme unter den schweren Tisch.
Wer anderen eine Grube gräbt, dachte Jericho, fällt selbst…
Und dann dachte er gar nichts mehr. Er konnte nur hoffen, daß die Berechnungen, die er über die Festigkeit eines Blockhauses angestellt hatte, richtig waren.
David Jericho Graves lag am Boden unter dem Tisch.
Und dann ging die Welt unter.
*
Er schrie nicht, der Bandit Jake Higgins. Er sah nur die Feuersäule und wußte jetzt, warum Hank wie ein Verrückter gebrüllt und hinausgerast war. Er wußte auch noch, daß es keine Rettung mehr gab und stieß sich ab. Dort stand sein Bett, unter dem er vielleicht geborgen war.
Higgins flog und schrie: »Mike, unter das Bett, unter das Bett!«
Ich, dachte Higgins, als er schon über den Boden flog und den Kopf einzog, um unter das Bettgestell zu kommen, ich habe Mike im Stich gelassen. Ich hätte mich über ihn werfen müssen. Mike, ich komme zurück, ich komme…
Dann dachte Jake Higgins nichts mehr. Er wollte sich erneut abstoßen und Mike retten, als der Donner ihn betäubte und die Erde sich spaltete. Aber immerhin lag er unter dem Bett und nicht auf ihm wie jener andere, den sie einen Giftpilz genannt hatten.
Der Giftpilz lag unter der Decke, die Finger immer noch in die Ohren gebohrt. Er hörte gar nichts mehr, der Giftpilz Eddie Shaggers, weil es in seinem Kopf pfiff und heulte, so stark hatte er seine kleinen Finger schließlich in die Ohren gestopft. Sollte es pfeifen oder heulen, jaulen oder fauchen – immer noch besser, als die abscheulichen Töne der verhaßten Tröte zu hören.
Das Heulen und Pfeifen übertönte die Musik wirklich.
Hähähä, dachte der Giftpilz höhnisch, was ich nicht hören will, das höre ich auch nicht. Lassen ihn tröten, den Kerl, schlagen mich halbtot, nur weil ich was zu sagen gewagt habe. Die lernen mich noch kennen, die erleben noch was! Denen spiele ich einen Streich, die blase ich alle um, alle, yes, jawohl! Was denn – was haben sie denn, he? Was knallt denn da so?
Er hörte es, aber wie ganz weit entfernt, obgleich Higgins doch nebenan war.
Eddie, der Giftpilz, wollte die Finger aus den Ohren ziehen, er wollte, aber es ging nicht. Vielleicht hatte er sich die Ohren zu lange nicht gewaschen, war zuviel Ohrenschmalz in ihnen, so daß es sich um die beinahe hineingebohrten kleinen Finger wie eine Dichtungsmasse gelegt hatte.
Der Schreck packte Eddie, ein entsetzlicher Schreck, als er zog und gar nichts passierte. Einen grauenhaften Augenblick lang hatte er das Gefühl, daß es ihm nun erging, wie es ihm einmal als Kind ergangen war. Da hatte Eddie, der Tunichtgut, die Zunge in eine Flasche gesteckt und danach am Flaschenhals gesaugt. Und dann war die Flasche an seiner Zunge hängengeblieben, als wäre sie im Hals festgewachsen, um nie mehr aus dem Glas zu fahren.
Damals war er heulend zu seinen Schwestern gelaufen, ein Anblick für die Götter mit der pendelnden Flasche an der Zunge. Der rote Lappen hatte, scheinbar auf unendliche Länge gewachsen, bis tief in die Flasche gereicht. Danach war es ganz und gar entsetzlich für Eddie, die heulende Giftnudel, gekommen. Seine Schwestern hatten tatsächlich versucht, Eddie durch gewaltiges Geziehe von der Flasche zu befreien. Viel hätte nicht gefehlt, und sie hätten ihm die Zunge ausgerissen. Zu seinem Glück war sein Alter dazugekommen, den die Jammerlaute seiner Töchter angelockt hatten.
Der Alte hatte den Hammer genommen und ein Wischtuch um die Flasche gewunden. Dann hatte sich Eddie vor dem Hauklotz hinknien müssen. Er hatte nie vergessen können, wie seine vielen Schwestern im Halbkreis um den Hauklotz gestanden hatten. Vielleicht hatten sie gehofft, daß der Alte ihm die Zunge plattschlagen oder Blut fließen würde.
Es war kein Blut geflossen, nicht ein Tropfen. Die Zunge Eddies war in einem Stück geblieben, auch nicht platt geworden, damit sie für spätere Zeiten auch genug Gift verspritzen konnte. Das hatte Eddie schon fünf Minuten nach der Zungenbefreiung getan, indem er sie seinen ziegenhaften Schwestern ellenlang ausgestreckt hatte.
Nun lag Eddie auf der Koje und wurde von dem gleichen grausigen Gefühl gepackt wie damals. Es war ja lachhaft, zwei kleine Finger sollten nicht aus den Ohren zu ziehen sein? Dennoch blieb Eddie einige Sekunden wie gelähmt liegen. Es waren genau jene Sekunden, in denen Hank Priestley und Jake Higgins in den Vorhof der Hölle blickten. Eddie Shaggers gewann diesen Blick nicht. Er hatte zu lange zu tun, um seine grausigen Befürchtungen zu verdauen.
Was dann kam, traf Eddie Shaggers völlig ahnungslos.
Irgendwo über, unter und um Eddie Shaggers war ein einziger grauenhafter Knall. Das letzte, was Eddie Shaggers hörte, war jenes ungeheure Brüllen. Danach spürte er nur noch, daß sich seine Pritsche bewegte. Sie schien loszufliegen, obgleich das unmöglich war, denn es gab keine fliegenden Betten.
Eddie Shaggers sah auch nichts, weil er die Decke über den Kopf gezogen hatte. Das letzte, was er spürte, war ein fürchterlicher Anprall. Danach stürzte irgend etwas auf ihn herab, und er verlor die Besinnung.
Irgendwo war noch jemand, der gerade drei Schritte gelaufen war, bis sein langsamer Verstand ihm sagte, daß er nicht laufen, sondern zu seiner Rettung flach auf den Boden mußte.
Hank Priestley gehorchte auch sofort. Er kam jedoch nicht mehr dazu, sich aus eigenem Antrieb hinzuwerfen. Das Brüllen kam von hinten. Ein urgewaltiger Tritt schleuderte Hank vorwärts, wobei sich seine Beine anhoben und sein Kopf sich neigte. Der Luftdruck fegte Hank Priestley in dieser seltsamen Körperhaltung flach über den Boden hinweg. Er sauste mit geradezu ungeheurer Geschwindigkeit der anderen Talwand entgegen, sich nur langsam tiefer senkend und dann mit seiner Nase eine Furche über den Talboden ziehend.
Als der Schmuddelkoch gegen die Wand prallte, hatte er nur noch das eine Gefühl, daß die Talwand auf ihn herabfiel. Danach lag er still und etwas verkrümmt am Boden.
Im Tal stand eine riesige Staubwolke, sie hüllte jene Stelle, an der das Steinhaus liegen mußte und dem Blockhaus gegenüberstand, mehr als eine halbe Minute ein. Man konnte nicht sehen, was noch stand und was fortgeblasen worden war. Es gab nichts als Staub. Und vielleicht gab es einen manchmal äußerst wunderlichen Mann, den man Jericho nannte, der einige Berechnungen angestellt hatte. Er war ein Sargmacher, ein Fenster- und Türenbauer, der auch Schränke und Truhen und tausend andere Dinge aus Holz machen konnte. Nur davon, wie fest ein Holzhaus aus Stämmen sein konnte, hatte er keine umfassende Kenntnis. Hatte er sich verrechnet, war sein Pech doch nicht ganz verschwunden. Er konnte dann sogar so viel Pech gehabt haben, daß er nicht mehr lebte…
*
David Jericho spürte, daß ihn irgend etwas von hinterwärts an den Hosen traf. Er hörte absolut nichts, denn der Knall war so gewaltig, daß es außer ihm kein anderes Geräusch gab. Irgendwer riß an den beiden Tischstollen, an die sich Jericho geklammert hatte. Der Tisch bewegte sich ein Stück. Danach kam es Jericho vor, als fiele plötzlich helles Sonnenlicht von oben in das Blockhaus. Es wurde jedoch gleich wieder dunkel, nur war das gewaltige, urige Brüllen jetzt vorbei, und Jericho hörte wieder etwas. Über ihm dröhnte es, als fiele das Dach herunter. Nun prasselte es auf dem Dach, aber es schienen kaum Steine zu sein, die auf das Dach fielen, es hörte sich eher nach Holzstücken an.
David Jericho Graves ließ bedächtig die zwei Tischstollen los und kam auf die Knie. Dabei fing es an irgendwo hinten zu pieksen, so daß er die Hand zum Gesäß führte.
»Teufel auch«, sagte Jericho, als er den Glassplitter herauszog und wegwarf. Er sprach so merkwürdig leise, fand er, begriff jedoch, daß der Explosionsknall einfach zu laut gewesen sein mußte und er deshalb schlecht hörte. »Moment mal!«
Jericho packte den Tisch, warf ihn mit Macht um und stieß ihn gegen die blitzschnell hochgehobene Falltür. Die schwere Klappe donnerte zu, Jericho schob den Tisch über sie und betrachtete eine Sekunde die vier hochstehenden Stollen. Dann nickte er zufrieden. Er war überzeugt, daß es Abe Panhurst niemals gelingen würde, den Tisch von der Falltür zu bringen.
Obgleich die Sicht schlecht war und nichts als gelblicher Staubnebel in der Luft hing, entdeckte Jericho seine Posaune auf der Pritsche an der Wand. Der Rand des Trichters hatte eine kleine Delle, das schien alles zu sein.
»Ja, ja, ja«, sagte Jericho kopfschüttelnd, indem er zur verriegelten Tür des zweiten Raumes ging. »He, Bill – lebst du noch?«
Jericho äugte zur Fronttür. Das Fenster war vollständig nach innen geflogen, die Tür jedoch, die sich nach außen öffnete, hatte dem Spektakel standgehalten.
»Bill, ist euch was?« fragte Jericho noch mal, als alles still blieb. »Verdammt, antwortet gefälligst!«
Er riß den schweren Eisenriegel zurück, schloß auf und warf die Tür zurück.
Mabel Regan war durch den feinen Staub gut zu erkennen. Big Bill lag röchelnd und mit offenem Mund da und starrte Jericho wie einen Geist an.
»Komm zu dir, es ist vorbei«, sagte Jericho gelassen. »Was hast du denn, Bill – der kleine Knall war doch nicht so wild, oder?«
»Ha… hast du schon mal gesehen, wie sich ein Dach über deinem Kopf angehoben hat und wieder zurückgefallen ist?« ächzte der Alte. »Was hast du gemacht?«
»Ich?« fragte Jericho unschuldig. »Gar nichts, gar nichts, Bill. Die Burschen müssen da drüben Pulver und kistenweise Munition gelagert haben. Ich habe nur eine über einem Herd stehende Lampe zerschossen, mehr nicht. Es war Feuer im Herd, fürchte ich. Das Kerosin muß wohl über die Kisten und die Pulvertonne gespritzt sein. Und dann scheint es in die Luft geflogen zu sein. Miß Regan, ich hoffe, Sie haben sich nicht zu sehr erschreckt.«
»Oh, mein Gott, Mister David, und die Banditen? Nein, ich hatte gar keine Zeit zum Erschrecken. Da war der Knall auch schon vorbei. Onkel Bill hat gesagt, als man schrie und schoß, jetzt legten Sie los, David, ich sollte mich über nichts wundern.«
»So, hast du das gesagt?« murmelte Jericho und löste Big Bills Fesseln hastig. »Vorsicht, schiebt den Tisch nicht beiseite – Abe Panhurst sitzt im Keller und lebt sicher noch. Ich muß mal nachsehen draußen!«
Er ging hinaus, den Alten und das Girl verwirrt zurücklassend. Jericho blieb vor der Hüttentür stehen. Er konnte jetzt alles sehen, was vorher in der Staubwolke verschwunden gewesen war.
Die rechte Küchenseite des Steinhauses gab es nicht mehr. Der Außenkamin stand nur noch in Schritthöhe. Die Vorderecke mit der Eingangstür war verschwunden, die Mauer nach außen gestürzt und James Edson lag leblos links neben Jericho an der zusammengebrochenen alten Bank. Edsons Colt war bis drei Schritt vor die Wand geflogen. Jericho hob die Waffe auf, sah sie nach und beugte sich dann kurz über Edson. Der hagere Mann war tot, und Jericho war nicht sicher, ob er an der Kugel gestorben war.
»Du hast einen Revolver, Bill«, sagte Jericho knapp. »Laß deine Nichte in der Hütte bleiben. Hier liegt Edson neben der Tür, nimm dir Patronen aus seinem Gurt und paß etwas auf.«
David Jerichos nächster Blick ging nach rechts. Er sah Hank Priestley an der Talwand liegen, näherte sich ihm mit den Achtunddreißiger in der Faust und drehte ihn um. Priestley schien bis auf die blutende und aufgeschrammte Nase nichts zu fehlen. Er hatte nur eine Beule am Hinterkopf.
»Du hast noch einen Colt«, sagte Jericho, als er an der Hüttentür vorbeiging. »Da kommt er, Bill!«
Er warf ihn durch die Tür in den ersten Raum und ging zum Steinhaus. Dort wimmerte jemand in klagenden Tönen unter freiem Himmel, denn ein Dach hatte das Steinhaus nicht mehr. Die Mauer zu dem Raum, in dem Mike Ellery gelegen hatte, war umgestürzt und über das Bett von Higgins gefallen. Jericho blickte auf die Trümmer und die Stiefelhacken. Higgins lag unter dem Bett und den Trümmern der Mauer.
»Du hättest das nicht tun sollen, Higgins«, sagte Jericho düster. »Man sprengt keine Leute in die Luft, nachdem man ihr Geld erpreßt hat. Nun, Mike?«
Mike Ellerys Bett war am Fußende angehoben und gegen die nächste Wand hochgestellt worden. Dann war die Wand umgefallen, das Bett lag über Mike Ellery und er nun auf der Wand. Er starrte Jericho, als der das Bett zur Seite zerrte, entsetzt an, bewegte die Lippen, brachte jedoch keinen Ton heraus.
»War keine gute Idee von deinem Freund Jake«, sagte Jericho finster, indem er ihn auf den Strohsack zog. »Ich bringe dich nach Tucson, Mike, du wirst gefahren. Jake ist tot.«
Er sah noch, wie Mike Ellerys Lippen sich zusammenpreßten und seine Augen dunkel wurden, dann kletterte er über die Trümmer der Mauer hinweg dem Gewimmer entgegen. Was er fand, ließ ihn stehenbleiben.
Die ehemals doppelstöckige Pritsche war nur noch einstöckig. Sie war bis an die Giebelwand gefegt worden, deren Mauerbrocken die obere Pritsche im Herabfallen zertrümmert hatten. Der eine Seitenholm und der Eckpfosten waren abgebrochen. Die Trümmer hatten den Strohsack gepackt und mit den Auflagehölzern auf Eddie, den Giftpilz, herabstürzen lassen.
Eddie Shaggers lag eingeklemmt, zudem wie eine Mumie in eine Decke gehüllt, unter dem Strohsack. Er wimmerte klagend, bis Jericho den Strohsack heruntergezerrt hatte. Als Jericho die Decke fortriß, bot sich ihm ein seltsamer Anblick.
Eddie lag mit angewinkelten Armen, die kleinen Finger in die Ohren gebohrt und kreischte: »Sie gehen nicht heraus, sie gehen nicht heraus! Oh, mein Gott, helft mir, die Finger stecken fest.«
»Tatsächlich?« fragte Jericho. »Wie können sie das, da du doch einen Hohlkopf hast, in dem kein Gehirn sein muß? Warte mal, Bursche, ich helfe dir schon!«
Er riß Eddies Arm zur Seite und hörte deutlich ein seltsam floppendes Schmatzen. Es klang so, als zöge man einen Kork aus einer Flasche. Eddie kreischte wie eine Megäre los und heulte schließlich, als Jericho auch seinen anderen Arm zur Seite riß.
»Aufhören!« brüllte ihn Jericho an, als der Kerl immer weiter heulte. »Sei still, oder du machst den Weg bis Tucson mit einem Knebel zwischen den Zähnen. Ruhig!«
Eddie fuhr zusammen, schwieg tatsächlich einen Augenblick und wimmerte dann: »Es heult und knackt in meinen Ohren – ich höre nichts, ich höre nichts, meine Trommelfelle sind geplatzt.«
»Sehr gut für dich«, stellte Jericho trocken fest. »Dann kann man dir in Yuma später, wenn du wieder mal Gift spuckst, leichter dein verrücktes Gehirn umrühren.«
»Yuma – Yuma?« stammelte Eddie Shaggers. »Yuma ist die Hölle, eher bringe ich mich um!«
»Dann tu es«, sagte Jericho eiskalt. »Und nun wollen wir zu Big Bill Regan gehen. Er wird sich mächtig freuen, daß du Bursche noch lebst. Bill, was tust du da – Vorsicht, Panhurst schießt vielleicht, wenn du die Falltür aufmachst.«
Bill Regan antwortete nicht, und Jericho sah ihn reglos neben der umgelegten Falltür hocken. Der Alte starrte in die Tiefe auf die in der einen Ecke stehenden Laterne, in deren Schein Abe Panhurst vorhin hier unten gearbeitet hatte. Jetzt saß der Rotschopf Abe in der anderen Ecke, die Hände auf dem Leib und den Blick stier auf den Alten gerichtet.
Big Bill deutete stumm auf die beiden Kisten und die dunkel glänzende Tonne am Ende dieses schlauchartigen Kellers. Sie stand dort, wo über dem Boden die Gefangenen auf dem Stroh gelegen hatten. Hier vorn endete die Zündschnur. Sie war lang genug und hatte durch die Luke nach oben gereicht.
»Seltsam«, murmelte David Jericho.
»Sie wollten wohl später, wenn wir alle fort waren, nichts mehr von den Gebäuden stehenlassen.«
»Wenn wir fort gewesen wären?« stieß Bill durch die Zähne. »Mensch, du hast es gewußt, du hast alles gewußt und mir nichts gesagt. Higgins wollte dich mitnehmen – du solltest seinen Freund Mike bis über die Grenze fahren, aber wir wären hier…«
»Tatsächlich?« fragte Jericho und stieg in die Tiefe. »Was du nicht sagst, Bill. Ich habe gar nichts gewußt, ich weiß nie etwas.«
»Du verdammter Trickser, du ausgefuchster Halunke, du hast auf deine Chance gelauert und sie dann mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Du hast…«
Er verschluckte sich, denn Jericho hob den Kopf und blickte ihn an. Es war der Blick eines Unschuldlammes, sanft und staunend, das die Schlechtigkeit dieser Welt nicht kannte und niemand etwas Böses tun konnte.
»Lauern«, murmelte David Jericho, Undertaker, Sargmacher,
Townmarshal und Sargmacher. »Ich – lauern? Ich tu doch niemand etwas, Bill, ich bin ein friedfertiger Mensch, dem manchmal der Zufall hilft. Solltest du jedoch auf die Idee kommen, daß du dein eigenes Gesetz bist und wie in deinen besten Jahren Leute einfach am nächsten Baum aufhängen kannst, könnte ich nicht mehr friedfertig sein. Man kann alles mit mir machen, Bill, nur ärgern darf man mich nicht zu sehr. Willst du dir das für unseren gemeinsamen Weg nach Tucson merken? Dort liefere ich die Kerle bei US. Marshal Copper ab. Und jetzt ziehe den Burschen heraus, damit wir in den Trümmern nach deinem Geld suchen können. Es wird wohl in der Kiste unter Higgins Bett zu finden sein. Welch ein Glück, daß die Explosion das Feuer ausgeblasen hat. Stell dir vor, dein gutes Geld wäre verbrannt. Ziehst du bald?«
Big Bill Regan fror es plötzlich. Dieser so sanftmütig wirkende Bursche würde die Banditen nach Tucson bringen und so tun, als hätte er überhaupt nichts getan.
Er hat ja auch nichts getan, dachte Big Bill Regan, er hat nur auf seiner Posaune »My beloved Texas« gespielt. Ganz friedlich und freundlich hatte er da draußen auf der Bank gesessen und seine Posaune geblasen.
Zum Sterben hat er ihnen geblasen, dachte der Alte frierend. Allmächtiger, sitzt da und bläst den Banditen zum Sterben, dieser Bursche, den sie uns einfach Jericho nennen. Lieber lege ich mich mit dem Teufel an, als mit diesem Undertaker.
Er hob den Banditen herauf, der sofort zusammensackte und schwer stöhnte. Dann kam Jericho heraus, brachte die Laterne mit und die Zündschnur, deren Pechspuren an Abe Panhursts Fingern klebten.
»Pech«, sagte Jericho, einen Blick auf Abes Hände werfend. »Du hast es gehabt und wirst es nicht mehr los, Mister, das verspreche ich dir. Miß Mabel, ist der Giftzwerg Eddie friedlich?«
»Das ist er«, antwortete Mabel Regan mit fester Stimme. Sie stand in der Tür, hielt Priestleys Colt in der Faust und sah sich nicht nach Jericho um. »Er hat mich bei Onkel Bill schießen sehen und weiß zu gut, daß ich nicht zaudern würde, ihm ein Loch in das andere Bein zu machen.«
»Das ist wahr«, nickte Big Bill. »Sie ist eine echte Regan und hat denselben starken Charakter wie mein guter Bruder, der Colonel, dessen prächtige Frau…«
Big Bill schwieg hüstelnd, weil ihm einfiel, daß seine Schwägerin nicht nur eine prächtige, sondern auch eine verteufelt leidenschaftliche Frau gewesen war. Sie hatte niemand sonst als seinen guten Bruder haben wollen und den etwas schüchternen Captain, der er damals gewesen war, auf eine wirklich nicht alltägliche Weise auch bekommen.
Allmächtiger, dachte Bill verstört, mein guter Bruder rettete den Wagentreck, zu dem meine spätere Schwägerin gehörte, vor den Indianern und führte ihn sicher ins Fort, wo er zwei sehr bescheidene Räume bewohnte. An dem ersten Abend gab es eine Feier, und als mein guter Bruder endlich in sein Bett fand – er war immer ein sparsamer Mensch und zog sich ohne Licht zu verschwenden in der Dunkelheit aus – lag seine zukünftige Frau in seinem Bett. Er, sagte sie, sei ein Mann und ein Held – und außerdem liebe sie ihn vom ersten Sehen an.
Wenn der gute David Jericho also nicht blöde, hingegen aber ein Gentleman war, was würde er dann wohl getan haben, wenn er in seinem kühlen Bett eine hübsche, junge und knackige Lady mit heißer Haut und noch heißerem Blut gefunden hätte?
Wer sagt da, er wäre angstschlotternd aus dem Bett gesprungen und hätte sich unter demselben verkrochen?
Der das sagt, der muß doch wirklich noch keinen David Jericho gelesen haben – oder dem muß was fehlen. Ich weiß ja nicht, was, aber vielleicht wißt ihr das?
Wenn ihr mich fragt, was David Jericho getan hätte, könnte ich euch das verraten, falls ich dazu die Erlaubnis bekäme. Ich sage euch, er wäre bestimmt nicht… was?
Ich, Amigos, bin immer ein Gentleman gewesen, ganz ehrlich, Amigos. Dieser verdammte Jericho, der könnte ich auch gewesen sein, weil ich immer dasselbe wie Jericho getan habe.
Was ich getan habe, wollt ihr wissen?
Ich sage es euch ja, es kommt ja schon, Amigos: »Ein Gentleman genießt und… schweigt!«
Na, nun blast doch nicht gleich für mich zum Sterben!
Wir sind doch alle ganz friedliche, harmlose und lammfromme Burschen – oder nicht?
Adios, Amigos!
- E N D E -