Читать книгу Die Leiche im Hühnermoor - Gisela Garnschröder - Страница 6
ОглавлениеI
Es war sehr früh und die Dunkelheit lag über der Landschaft wie ein graues Tuch, als der Hahn auf dem Hof zu krähen begann.
Blödes Vieh, dachte ich und drehte mich genervt ob der Störung auf die andere Seite. Jeden Morgen war es dasselbe, sobald der Hahn wach war, konnte auch ich nicht mehr richtig schlafen. Eine Stunde lang wälzte ich mich unruhig hin und her. Es war kaum fünf Uhr, da hielt ich es im Bett nicht mehr aus und stand auf.
Mit meinen neunundvierzig Jahren fühlte ich mich noch nicht alt, obwohl ich bereits in Pension war, zumindest war das im Ort die Erklärung dafür, dass ich meinen Beruf aufgegeben hatte. Für meine Verwandtschaft war ich als alleinstehende Frau für alle auf dem Hof die Tante Lisbeth oder Elli. Früher hatte ich meinen Namen gehasst, wer sagt hier in Westfalen schon Elisabeth? Die meisten Leute im Dorf nennen mich Lisbeth. Und vor langer Zeit hatte mich jemand Betty genannt, allerdings werde ich an denjenigen keinen Gedanken mehr verschwenden.
Brummelnd und vor mich hin murmelnd schlurfte ich ins Bad. Kurz darauf schlüpfte ich in meine alte, speckige Lederhose, zog die festen Wanderschuhe an und holte meine dunkelgraue Lodenjacke hervor. Meine halblangen Haare stopfte ich unter den alten braunen Lederhut mit der breiten Krempe, den ich von meinem Vater geerbt hatte und stapfte langsam und gemütlich über den Hof, wohl wissend, dass zu so früher Stunde kein Mensch draußen auf mich wartete.
Viele Jahre hatte ich in der Stadt gewohnt und dort am Gymnasium unterrichtet. Mein Zimmer auf dem Hof meiner Eltern wollte ich trotzdem nie aufgeben. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, jungen Leuten etwas beizubringen und zog wieder auf den Hof. Die Erbschaft einer Tante mütterlicherseits machte es mir möglich, vorzeitig aus dem Schuldienst auszuscheiden. Mein Vater hatte mir ein Wohnrecht vermacht, aber ich stellte schnell fest, dass es besser war, ein wenig Abstand von der Familie meines Bruders zu haben. Nicht, weil wir uns nicht mochten oder weil es Streit gab, nein, wir waren einfach zu verschieden und meine Interessen waren andere als die meiner Schwägerin oder meines Bruders. So kaufte ich meinem Bruder Hermann den alten, verfallenen Kotten neben dem Hof ab und verzichtete dafür auf das Wohnrecht. Ich nahm mir einen guten Architekten, und aus dem baufälligen Gebäude wurde ein schmuckes Häuschen. Den Garten habe ich selbst angelegt, er ist mein ganzer Stolz. Seit ich in meinem eigenen Haus wohnte, hatte ich häufig Gäste, nahm meiner Schwägerin hin und wieder die Einkäufe ab oder beaufsichtigte die Kinder bei den Schulaufgaben, ansonsten führte ich mein eigenes Leben. Mein Tag war immer ausgefüllt mit Lesen, Schreiben, Wandern, Theaterbesuchen, Kirchgang und von den vielen Vereinen, in denen ich mich engagiere.
Ich schlug den Weg zum Hühnermoor ein, um das sich allerhand Gruselgeschichten über einen ermordeten Abt ranken, der dort geräuschvoll herumspuken soll. Obwohl mir häufig, wenn ich meine Spaziergänge machte, die alten Geschichten in den Sinn kamen, kannte ich keine Angst und ich schritt zügig voran. Der Wind hatte nachgelassen, die ersten Vögel sangen und die Morgensonne kam hinter dem Wald hervor. Eine halbe Stunde später war ich am Moor angekommen und beobachtete ein Stockentenpärchen, das auf dem kleinen Teich seine Runden schwamm. Leichter Dunst lag über dem Wasser und ich setzte mich auf einen Baumstamm zu einer kurzen Rast.
Es hatte viel geregnet in letzter Zeit und überall hatten sich mehr oder weniger große Pfützen gebildet. Das Moorgras war kaum zu sehen, nur einige alte Baumstämme und bemooste Zweige ragten gespenstisch aus dem morgendlichen Nebel.
Es dauerte einige Zeit, bis sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, dann sah ich auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Erlen ein helles Fahrzeug. Ich stand auf und fixierte den Wagen, konnte das Modell aber nicht genau erkennen. Verärgert, dass jemand das Naturschutzgebiet als Parkfläche benutzte, stapfte ich rund um das Moor, um das Objekt näher in Augenschein zu nehmen. Ich versuchte möglichst leise zu sein, denn ich war sicher, dass dort, wie so häufig, Müll entsorgt wurde. Es war ein Bulli, der dicht hinter einem Gebüsch stand. Er war vom Weg her schwer auszumachen. Ohne auf die Zweige zu achten, die mein Gesicht zerkratzten, umrundete ich das Gefährt und stellte fest, dass es sich um einen relativ neuen, silberfarbenen Wagen ohne Kennzeichen handelte.
Kopfschüttelnd trat ich auf den Weg zurück, nahm den Hut vom Kopf, befreite ihn von Blättern und Zweigen, stülpte ihn erneut auf und schimpfte leise vor mich hin: »Bestimmt gestohlen! Ich muss unbedingt zur Polizei!«
Augenblicklich marschierte ich zum Hof zurück. Unterwegs überlegte ich es mir anders. Zuerst wollte ich Bauer Liedmann befragen, vielleicht wusste er, wem das Fahrzeug gehörte. Zu Hause angekommen, erzählte ich Ralf, meinem Neffen, davon und wurde gleich darüber aufgeklärt, dass er einen solchen Wagen, allerdings mit rotem Nummernschild, auf Liedmanns Hof gesehen habe. Sicher hatte ein Bekannter von Liedmann ihn dort abgestellt. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Gab es nicht Scheunen genug in der Umgebung, um ein Fahrzeug unterzustellen?
In der darauffolgenden Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Ein starker Wind war aufgekommen und dunkle Wolken schoben sich in schnellem Wechsel über den Halbmond. Ich stand am Fenster meines Schlafzimmers und ließ die frische Luft hereinwehen. In letzter Zeit passierte es mir oft, dass ich in der Nacht erwachte und mich vollkommen ausgeschlafen fühlte. Nach kurzem Überlegen entschloss ich mich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Ich ließ das Licht in der Diele brennen und war schon um den Garten herumgegangen, als mir mein Handy einfiel, das ich vergessen hatte. Schnell ging ich zurück, holte es und schloss sorgfältig die Haustür hinter mir ab.
Der tobende Sturm war genau die richtige Untermalung für all die Gruselgeschichten, die von dem armen Abt berichten, dessen Sarg bei einem stürmischen Gewitter Anfang des achtzehnten Jahrhunderts im Hühnermoor mitsamt der Kutsche und dem Kutscher in dem kleinen Teich untergegangen sein soll. Ängstliche Gemüter glauben, dass er noch heute im Moor herumwandert. Sollte mir der Geist einmal begegnen, würde es ihn sicher schnell vertreiben, wenn ich mein Handy benutzte.
»Lisbeth ist wieder auf Wanderung, in ihrer Diele brennt Licht«, sagte Hermann Landner zu seiner Frau, die sich ebenso wie er unruhig in ihrem Bett wälzte.
Gerda Landner zog die Decke weit über den Kopf und murmelte: »Keine zehn Pferde brächten mich bei diesem Sturm hinaus.«
»Du hast ja auch mich«, lächelte er in die Dunkelheit und strich seiner Frau sanft übers Haar.
Gerda seufzte. »Warum hat Elisabeth damals den Alfred nicht geheiratet? Dann wäre sie heute nicht allein.«
Ihr Mann rückte näher zu ihr und sie kuschelte sich an ihn. »Vielleicht hat sie ihn nicht geliebt«, flüsterte er nachdenklich.
Gerda lachte auf. »Quatsch, er hat sich so sehr um sie bemüht. Zudem war er ein recht fescher Kerl. Die beiden passten hervorragend zusammen.«
»Ich wüsste gerne, was aus ihm geworden ist. Seit damals habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Gerda richtete sich im Bett auf und Hermann konnte ihre Umrisse im schwachen Licht, das durch die Rollläden drang, deutlich erkennen.
»Der lässt sich hier nicht mehr blicken. Deine Schwester hat sich aufgeführt wie eine Furie und hat ihn hinausgeworfen. Keiner weiß warum, und ich verstehe es bis heute nicht. So ein netter Mensch und bestimmt aus gutem Hause, so höflich wie er war!«
»Die Elisabeth hat halt ihren eigenen Kopf. Es nützt nichts, nach so langer Zeit darüber zu spekulieren.« Hermann gähnte. »Lass uns noch ein wenig schlafen.«
Der Bulli war nicht mehr da und nur die tiefen Fahrzeugspuren zeugten davon, dass hier ein Gefährt gestanden hatte. Ich hatte meine Taschenlampe mitgebracht und leuchtete sorgfältig den Weg aus. Die Abdrücke der Reifenprofile waren durch den Regen schon fast verschwunden und weit und breit war von dem Fahrzeug nichts zu sehen. Kopfschüttelnd stapfte ich hin und her, achtete weder auf die Zweige, die mir gegen den Kopf stießen, noch auf den Regen, der heftig niederprasselte. Erst nachdem ich sicher war, nichts, aber auch gar nichts zu finden, was nicht hierher gehörte, setzte ich meinen Spaziergang fort. So fest hatte ich damit gerechnet, mit dem Wagen habe jemand Müll oder Gartenabfälle entsorgt. In Gedanken hatte ich schon Anzeige erstattet und nun fragte ich mich, warum jemand so heimlich hier auftauchte, wenn er nichts zu verbergen hatte. Ein weiteres Mal umrundete ich das Moor, ohne etwas zu entdecken.
Langsam wurde es hell. Es hatte aufgehört zu regnen. Ich blieb stehen, knipste meine Taschenlampe aus, verstaute sie im Rucksack und wandte mich zum Gehen. In diesem Moment fiel mein Blick auf eine Erle direkt neben dem Weg. Ein Ast war herausgebrochen und die Wunde schimmerte hell. Ich schaute mich um, wo der abgerissene Ast geblieben war und gewahrte ihn im Moor in einer Wasserstelle. Er war armdick und sah fast aus wie ein kleiner Baum, der im Morast steckte. Verärgert trat ich vorsichtig auf den feuchten, wabbernden Boden und wollte den Ast hochziehen. Er war so schwer, als hinge ein Gewicht daran, und ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um die Fracht an Land zu ziehen. Ich mühte mich ab, schwitzte und stöhnte und endlich, nach mehrmaligen Versuchen gab die Erdmasse so plötzlich nach, dass ich lang hinschlug und mit einem unheimlichen gurgelnden Geräusch schoss der Ast und mit ihm einige bunte Stofffetzen aus dem brackigen Wasser empor.
Erschöpft rappelte ich mich auf und schaute nach dem bunten Müllberg, der nun aus dem Wasser ragte. Diesmal griff ich kräftig mit beiden Händen zu, um im selben Moment das Bündel entsetzt fallen zu lassen. Ich hatte die kalte Hand eines menschlichen Wesens gespürt. Mit klopfendem Herzen und vorsichtigen Blicken in alle Richtungen, öffnete ich das Bündel - und starrte auf die Leiche einer jungen Frau. Eine kalte Faust griff nach meinem Herzen und presste es zusammen. Schweiß trat mir auf die Stirn und mein Atem keuchte. Verstohlen schaute ich mich erneut ängstlich um. War außer mir jemand hier? Ich hörte nur das Rauschen der Bäume. Der Dunst versteckte die leisen Schmatzgeräusche des modrigen Bodens unter seinem unheimlichen Tuch. Ich war allein. Niemand war da.
Die Tote vor mir war blond, sie trug Jeans und einen roten Pullover. Ihre Haut wirkte gespenstisch aufgequollen, um ihren Hals lag ein Lederriemen, der deutliche Spuren auf der Haut hinterlassen hatte. Sicher war sie schon einige Tage tot. Während ich sie betrachtete, beruhigte sich mein Herzschlag und urplötzlich schob sich das Bild einer anderen Frau in mein Gedächtnis. Daraufhin schaute ich mir die Tote genauer an und erstarrte. Die Frau trug nur am linken Ohr einen Ohrring, ein Granat in Tropfenform, am rechten nicht. Verwirrt griff ich nach meinem Handy, doch meine Gedanken waren bei dem fehlenden Ohrring, und abrupt steckte ich das Handy in die Tasche, machte das Bündel wieder zu, richtete mich auf, fasste den Zweig, der die Leiche unter Wasser gehalten hatte, und stieß ihn samt seiner grausigen Fracht zurück in den Sumpf.
Sorgsam verwischte ich meine Fußspuren und achtete darauf, dass alles so war, wie ich es vorgefunden hatte, schlich zum Weg zurück und lief mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem nach Hause.
Wenige Stunden später befand ich mich auf dem Weg nach Baden-Württemberg. Vor zwanzig Jahren hatte ich mehrere Jahre in Singen verbracht und fuhr regelmäßig mehrmals im Jahr dorthin. Das Häuschen hatte ich abgeschlossen und den Schlüssel meiner Schwägerin übergeben. Gerda war überrascht von meiner unvorhergesehenen Abreise und schaute kopfschüttelnd meinem roten BMW hinterher.
»Jetzt tickt sie ganz durch, deine Schwester. So Hals über Kopf abzuhauen!«
Hermann Landner lachte. »Du kennst sie ja. Sie ist immer für eine Überraschung gut!«
Es war in einem kleinen Ort nahe Heidelberg vor über zwanzig Jahren. Alfred und ich hatten ein Zimmer in einem Landgasthaus gemietet. Es waren große Ferien und am zweiten Abend unseres Aufenthalts kam Alfred mit einem Rosenstrauß und machte mir einen Heiratsantrag, den ich gern und sofort annahm. Der Verlobungsring war ein schlichter Goldreif mit einem kleinen eingefassten Granaten. Noch nie war ich so verliebt gewesen und so uneingeschränkt glücklich.
Wir kannten uns erst wenige Monate, doch mir kam es vor, als seien wir immer zusammen gewesen, so wohl fühlte ich mich in seiner Gegenwart. Er war etwa einen Kopf größer als ich, schlank und hatte stets ein Lächeln auf den Lippen. Seine braunen Augen nahmen manchmal einen etwas melancholischen Ausdruck an, was ihn in den Augen der Frauen besonders interessant machte. Es störte mich, dass er oftmals in Anwesenheit einer schönen Frau anzutreffen war. Natürlich bemerkte er meine Eifersucht, nahm mich in den Arm und flüsterte: »Du bist die einzige Frau, die mir wirklich etwas bedeutet.«
Das beruhigte mich ungemein und einige Wochen später machten wir unsere Verlobung offiziell. Eine große Feier in meinem Elternhaus mit Freunden und Bekannten führte Alfred in die Gesellschaft unseres Dorfes ein, aber es hätte solcher Unterstützung gar nicht gebraucht. Alfred Derfeld hatte sich durch sein liebenswürdiges und hilfsbereites Wesen in unserem Ort schnell Freunde gemacht. Er nahm sich ein Zimmer in der Nähe und gehörte bald einfach dazu. Die Hochzeitsvorbereitungen waren in vollem Gange, die Feier sollte Ende Oktober stattfinden. Wir sahen uns Wohnungen an und überlegten, ob wir eventuell ein Haus kaufen sollten, als Alfred plötzlich den Wunsch äußerte, für einige Tage dem ganzen Wirbel zu entfliehen. Ich ließ mich nur zu gern überreden und wir fuhren in den Herbstferien in das Hotel, in dem wir uns kennengelernt hatten. Diesmal hatte Alfred eines der zum Hotel gehörenden Wochenendhäuser gemietet.
Schon bei der Ankunft wirkte er abwesend und verschlossen. Ich schob es auf die bevorstehende Hochzeit. Am zweiten Tag erklärte er mir, er müsse dringend mit seinen Eltern reden und ließ mich allein am Urlaubsort zurück.
Seine Eltern waren trotz Einladung nicht zur Verlobung erschienen, Alfred gab berufliche Gründe dafür an. Ich hatte sie nie gesehen, auch sonst wusste ich nichts von seiner Familie, außer, dass sie in Heidelberg wohnten. Ich hätte sie gern kennengelernt, aber da er mich nicht mitnahm, schloss ich daraus, dass seine Eltern nicht mit mir einverstanden waren.
Die beiden Tage ohne ihn verbrachte ich mit Wandern und Bummeln. Als ich am zweiten Abend in das Häuschen zurückkam, war er noch immer nicht da. Ich ging ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen und erstarrte vor Schreck. Eine blonde Frau lag voll bekleidet auf dem Bett, die Augen weit aufgerissen. Ein Tüllschal war wie einen Strang um ihren Hals gezogen, der tief ins Fleisch einschnitt.
Ich trat vorsichtig zu ihr und berührte sie an der Schläfe. Sie war tot! Ein gellender Schrei ertönte, so laut und schrill, dass ich erst Sekunden später registrierte, dass er aus meiner Kehle stammte. In Panik rannte ich hinaus und lief zum benachbarten Hotel hinüber. Es gab einen riesigen Tumult und in Windeseile hatte sich das Geschehen im ganzen Ort herumgesprochen.
Die Polizei riegelte den Fundort ab, löcherte mich mit Fragen und hielt mich stundenlang fest. Zum Glück hatten mich mehrere Menschen, kurz bevor ich das Wochenendhaus betrat, gesehen und man konnte mir keine Schuld an ihrem Tod nachweisen. Auch nach Alfred wurde ich befragt. Da er seit zwei Tagen fort war, kam er somit als Täter nicht in Betracht. Die Tote war nach Angaben der Polizei erdrosselt worden, wahrscheinlich mit dem Tüllschal, den ich an ihrem Hals gesehen hatte.
Die junge Frau hatte als Verkäuferin in einer Lotto-Annahmestelle gearbeitet und war überall im Ort bekannt. Wir hatten sie bei unserer Ankunft gesehen. Sie hatte Alfred mit ihren blauen Augen angehimmelt und mir war aufgefallen, dass sie zwei unterschiedliche Ohrringe trug, eine schlichte Creole am rechten Ohr und am linken eine kleine Kette mit einem Kreuz am unteren Ende, welches fast bis auf ihre Schulter baumelte. Als der Rechtsmediziner sie untersuchte, trug sie nur die Creole, die Kette mit dem Kreuz fehlte.
Ich durfte unter Aufsicht einer Polizistin meine Sachen zusammenpacken, worüber ich insgeheim froh war, denn ich hätte keine einzige Stunde mehr in diesem Holzhaus verbracht. Danach wurde das Häuschen von den Beamten versiegelt und mir wurde ein Zimmer im Hotel zugewiesen. Obwohl ich völlig erledigt war, tat ich die ganze Nacht kein Auge zu.
Am nächsten Tag wurde mir von den Kriminalbeamten eröffnet, dass man die Tat zu einer Serie von Wochenendmorden zählte. In den vergangenen Monaten hatte es in der näheren Umgebung bereits drei solcher Fälle gegeben und bisher fehlte jeglicher Hinweis auf den Täter.
Wäre wenigstens Alfred an meiner Seite gewesen, hätte ich das Ganze besser verarbeiten können, aber er kam weder in der Tatnacht noch in der darauffolgenden Nacht. Nachdem ich zwei Tage lang ohne jegliche Nachricht von ihm oder seinen Eltern geblieben war, reiste ich mit Einwilligung der Behörden ab.
Zu Hause entschuldigte ich Alfred damit, dass er für einige Zeit bei seinen Eltern unabkömmlich sei. Über den Mord in dem Ferienhaus sprach ich nicht. Ich grübelte darüber nach, wer wohl der Mörder war und warum Alfred ausgerechnet an diesem Tag nicht zurückgekommen war. Außerdem war mir schleierhaft, warum die Tür zum Häuschen abgeschlossen war. Die Polizeibeamten erklärten mir, dass in allen Mordfällen die Zimmertüren verschlossen gewesen waren. Der Mörder musste über einen ganzen Satz passender Schlüssel verfügen oder er war in der Lage, Schlösser zu öffnen ohne jegliche Spuren zu hinterlassen.
Ich war seit zwei Tagen zu Hause, als Alfred kam. Die Familie war gerade beim Abendessen, meine Mutter ging hinaus und begrüßte ihn herzlich. Liebenswürdig wie immer und ohne sich das Geringste anmerken zu lassen, kam er in die Küche, in der wir an dem großen Tisch saßen.
Mein Vater schob ihm freundlich einen Stuhl hin. »Setz dich zu uns, Alfred. Ist bei deinen Eltern alles in Ordnung?«
Alfred nickte lächelnd. »Danke, sie sind etwas im Stress, aber zur Hochzeit kommen sie auf jeden Fall.«
Er beugte sich zu mir hinunter, gab mir einen Kuss und setzte sich, während meine Mutter eilfertig einen weiteren Teller und Besteck holte.
Ich sah Alfred an und sprang auf. »Dass du dich überhaupt noch hertraust!«, zischte ich ihn an. »Mich einfach so allein zu lassen, ohne jegliche Nachricht!«
»Liebes, ich habe dir gesagt, ich fahre zu meinen Eltern!«
»Sicher hast du das gesagt!«, bemühte ich mich einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Du hast auch gesagt, du bist in zwei Tagen zurück, stattdessen bist du nicht gekommen. Gibt es bei deinen Eltern kein Telefon?«
»Elisabeth!« Mutter schüttelte tadelnd den Kopf.
»Ich erkläre es dir nachher, ja?!« Alfred lächelte mich bittend an und ich setzte mich schmollend wieder an den Tisch.
Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang. Alfred erzählte von seinen Eltern und ihren geschäftlichen Schwierigkeiten und kam zum Schluss mit der Tatsache heraus, dass seine Eltern unmöglich der Hochzeit beiwohnen könnten.
»Was hat unsere Hochzeit mit geschäftlichen Schwierigkeiten zu tun? Deine Eltern müssen nichts bezahlen, ich möchte sie nur dabeihaben«, empörte ich mich.
Alfred hörte geduldig zu und beschwichtigte: »Wir reisen hin, sobald sie alles geregelt haben.«
Anfangs schmollte ich, ließ mich aber besänftigen, schließlich wollte ich Alfred und nicht seine Eltern heiraten. Dann berichtigte ich ihm von dem Mordfall im Hotel.
»Das tut mir leid, ich konnte nicht ahnen, dass so etwas passiert!« Er nahm mich in die Arme und küsste mich und endlich, nach Tagen des Zorns, fühlte ich mich getröstet und beruhigte mich langsam. Mit Alfred sprach ich nicht mehr über seine Eltern, denn ich hatte gespürt, wie sehr es ihn bedrückte, dass sie nicht kommen konnten.
Drei Tage später war er für seine Firma unterwegs nach Norddeutschland und ich machte mich auf den Weg nach Heidelberg.
Ich wusste nur den Straßennamen, doch Alfred hatte von einem großen Haus mit Garten erzählt, von einem Dienstmädchen und einer Köchin; da würde es sicher kein Problem sein, seine Eltern zu finden. Mit klopfendem Herzen ging ich die Straße entlang. Es war eine vornehme Villengegend mit imposanten Häusern.
War ich seinen Eltern nicht gut genug? Oder hatte sich Alfred geschämt, mich ihnen vorzustellen? Ich kam mir klein und schäbig vor angesichts des Reichtums in dieser Straße, obwohl der Bauernhof meiner Eltern durchaus nicht armselig zu nennen war.
Aufmerksam betrachtete ich die Klingelanlagen an den Toren, fand aber nirgends den Namen Derfeld, da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein Postbote fuhr von Haus zu Haus, ich ging auf ihn zu und fragte ihn.
»Derfeld? Nein, in dieser Straße gibt es niemanden, der so heißt.«
»Es muss hier sein!«, beteuerte ich.
Der Postler schüttelte den Kopf. »In dieser ganzen Siedlung gibt es einen derartigen Namen nicht, da bin ganz sicher! Sie müssen sich irren.« Er hob seine Hand zum Gruß an die Mütze und fuhr davon.
Anfangs war ich ratlos, dann ging ich zum Einwohnermeldeamt und erkundigte mich dort. Auf dem Amt kannte man nur den Namen Alfred Derfeld. Die Anschrift gab man mir nicht, aber ich forschte im Telefonbuch und wurde fündig. Seine Wohnung war in einem Hochhaus im dritten Stock. Ich fuhr zu dieser Adresse, hastete die Stufen hinauf und klingelte. Nach mehrmaligen Versuchen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Eine alte Dame mit Lockenwicklern auf dem Kopf und einem geblümten Kittel sprach mich an: »Herr Derfeld ist nicht da. Ist beruflich unterwegs.«
»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, hakte ich nach.
Die Alte wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Er war erst letzte Woche ein paar Tage da. Soll ich ihm etwas bestellen?«
Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und fuhr davon. Auf dem Weg nach Hause zermarterte ich mir das Hirn, warum er mir so viele Lügen aufgetischt hatte. Kam noch etwas dazu? Waren Stellung und Beruf ebenfalls erfunden? Ich kam mir ausgenommen und verraten vor. Ich wusste nichts von ihm, außer dem, was er mir erzählt hatte. Wo war er in der Zeit, als der Mord im Wochenendhaus geschah? In seiner Wohnung, wie es die Nachbarin gesagt hatte? Vielleicht mit einer anderen Frau? Oder hatte er etwas mit dem Mord zu tun? Die ganze Fahrt über grübelte ich. Zu Hause sprach ich allerdings mit niemandem darüber.
Eine Woche später kam Alfred zurück, gut gelaunt und liebenswürdig wie eh und je. Er hatte in den letzten Wochen immer unser Gästezimmer benutzt und war gerade auf dem Weg dorthin.
Ich ging ihm entgegen und zischte: »Du kannst deine Sachen packen! Wir sind geschiedene Leute!«
Ungläubig starrte er mich an. »Was soll das heißen? Kannst du mir das zumindest erklären?«
»Hauptstraße 97, dritter Stock«, fauchte ich ihn an.
Er wurde blass und stotterte: »Du weißt…?«
Ich nickte. »Lügner sind in diesem Haus nicht willkommen. Pack deine Sachen und lass dich hier niemals mehr blicken!«
Ich hatte mir vorgenommen, ruhig zu bleiben, stattdessen hörte ich meine eigene keifende Stimme im Haus widerhallen und augenblicklich öffnete sich die Küchentür und meine Schwägerin stand mit aufgerissenen Augen im Türrahmen.
»Was ist denn hier los?«, ging sie dazwischen.
Ich wurde rot vor Wut, ohne dass ich es wollte, klatschte meine Hand auf seine Wange und hinterließ dort deutliche Spuren, dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief mit wehendem Rock und tränenüberströmtem Gesicht davon.
Alfred Derfeld stand einen Moment verdutzt da, schüttelte sich, ging in das Gästezimmer, packte seine Sachen und verschwand vom Hof. Gerda wollte ihn zurückhalten, aber er eilte stumm an ihr vorbei, stieg in seinen Wagen und wurde nie wieder in unserer Gegend gesehen.
Ohne Kommentar ertrug ich die Empörung meiner Familie über mein unmögliches Benehmen und die Frage nach den Gründen unseres Streites. Niemandem verriet ich, was vorgefallen war. Ich verschloss mich jeder Frage und Anteilnahme, bewarb mich um eine Stelle in Süddeutschland und ließ mich für Jahre nach Singen am Hohentwiel versetzen, woraus dann zehn Jahre wurden, bis ich nach Ostwestfalen zurückkam. Danach arbeitete ich bis zu meiner Frühpensionierung am Gymnasium der Kreisstadt.
Von Singen aus forschte ich allerdings gründlich nach der Familie Derfeld. Viel kam nicht dabei heraus, außer dass die Derfelds einst relativ wohlhabend waren. Jahre bevor ich Alfred kennenlernte, gerieten sie in eine finanzielle Krise und verloren Haus und Firma. Alfreds Vater nahm sich das Leben, kurze Zeit später ebenfalls die Mutter. Nach seinem zwölften Lebensjahr wurde Alfred in einem Heim untergebracht, danach verlor sich jede Spur von ihm. Erst bei der Anmeldung in seiner Wohnung in Heidelberg tauchte der Name wieder auf. Ob er Geschwister oder andere Verwandte hatte, erfuhr ich nicht.
Warum hatte er mir nichts von seiner Kindheit erzählt? Ich erwog, ihm zu schreiben, doch ich verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Er hatte mich belogen und so etwas konnte ich nicht durchgehen lassen.
Ich war gerade ein Jahr in Singen, als eines Tages ein Polizeibeamter bei mir auftauchte und mich erneut zu dem Mord in dem Ferienhaus vernahm. Diesmal informierte sich der Kommissar eingehend über Alfred Derfeld. Angeblich war er in Zusammenhang mit verschiedenen Mordfällen, die noch immer nicht aufgeklärt waren, gesehen worden. Jedes Mal, wenn eine junge Frau ermordet worden war, hielt er sich zufällig in der Nähe auf.
Erstaunt erkundigte ich mich nach den fraglichen Zeiten und stellte fest, dass alle drei vorangegangenen Morde geschahen, als ich Alfred für einige Tage bei seinen Eltern oder beruflich unterwegs wähnte. Ich gab dem Kommissar die Auskunft, die er benötigte und versicherte ihm, ich hätte Derfeld seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Seine Anschrift in Heidelberg verriet ich ihm nicht. Der Beamte hinterließ seine Karte und verabschiedete sich mit den Worten: »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte umgehend an.«
Der Besuch ließ mir keine Ruhe und ich machte mich einige Tage später ein weiteres Mal auf nach Heidelberg zu Alfred Derfelds Wohnung. Das Namensschild an der Tür war verschwunden. Als ich klingelte, öffnete eine junge Frau und sagte auf meine Frage nach dem Vormieter, sie wisse nicht, wer vor ihr hier gewohnt habe. Gerade als ich gehen wollte, öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung und die ältere Dame, die ich schon vor einem Jahr kennengelernt hatte, stand vor mir.
»Er ist vor einigen Monaten ausgezogen. Seine Firma hat ein Großprojekt in Schleswig-Holstein. Er wollte sich dort eine Wohnung nehmen, um näher an seinem Arbeitsplatz zu sein.«
Ich bedankte mich und fuhr davon.
Alfred war diplomierter Vermessungsingenieur und war für seine Firma häufig unterwegs. In Schleswig sollte ein Autobahnprojekt verwirklicht werden, davon hatte er mir erzählt. Seine Firma hatte sich damals um den Vermessungsauftrag beworben und wohl den Zuschlag erhalten. Mittlerweile konnte ich mir durchaus vorstellen, dass auch die Geschichte mit den Vermessungsingenieur und dem Großprojekt erlogen war.
Ich machte mich wieder auf den Heimweg und grübelte tagelang darüber nach, ob er wirklich in der Lage sei, solche Morde zu begehen. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass er wohl ein gerissener Lügner, aber kein Mörder war.
Das erste Schuljahr in Singen ging dem Ende zu und ich hatte mich nach einem Haus umgesehen. Unterhalb des Hohentwiels in einem hübschen Vorort entdeckte ich ein Häuschen mit Garten, welches ich dank der Tatsache, dass ich Lehrerin war und an der Mittelschule in Singen unterrichtete, sofort übernehmen konnte. In den Ferien richtete ich mich ein und verbrachte herrliche Tage in dem kleinen Garten.
An einem sonnigen Tag hatte ich es mir auf der Terrasse gemütlich gemacht. Es klingelte an der Haustür. Es war Alfred. Anfangs zögerte ich ihn einzulassen, aber meine Nachbarin grüßte neugierig herüber und so beobachtet, reagierte ich anders, als ich es mir vorgenommen hatte, sollte er jemals vor mir stehen. Doch jetzt wurde ich plötzlich von einem solch merkwürdigen, sehnsüchtigen Gefühl übermannt, dass ich ihn mit klopfendem Herzen und atemloser Stimme hereinbat.
Er folgte mir langsam, sich aufmerksam umschauend, ins Wohnzimmer.
»Schön hast du es hier!«, meinte er anerkennend.
»Es ist noch nicht alles fertig«, sagte ich, nahm in einem Korbsessel gegenüber dem Fernseher Platz und bot ihm den Sitz zu meiner Linken. Schweigend musterten wir einander und ich hoffte, dass er meine innere Unruhe und mein heftig pochendes Herz nicht bemerken würde. Doch Alfred machte nicht den Eindruck, überhaupt irgendetwas zu bemerken, im Gegenteil, er wirkte ebenfalls nervös und war eifrig bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, unter welch großer Anspannung er stand.
Um das sich unangenehm ausdehnende Schweigen zu beenden, fragte ich: »Darf ich dir etwas anbieten? Ein Bier oder vielleicht ein Glas Wein? Ich könnte auch einen Kaffee machen.«
»Alkohol am Nachmittag ist wohl nicht das Richtige, außerdem muss ich noch fahren, ein Kaffee wäre ideal.«
Glücklich, Zeit zu gewinnen, stand ich auf, ging in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Gang, holte einen Rest Kuchen aus dem Kühlschrank, deckte den Tisch und nach einer Viertelstunde saßen wir etwas entspannter einander gegenüber. Ich wunderte mich, dass ich mich nach wie vor in seiner Gegenwart geborgen fühlte, was mich zornig machte und zu einer aggressiven Äußerung veranlasste.
»Willst du dich hier vor der Polizei verstecken oder hast du schon wieder eine Leiche im Keller?«
Er setzte seine Tasse so heftig ab, dass die Untertasse zerbrach, und fauchte mich an: »Ich habe nichts mit diesen Morden zu tun, das weißt du genau!«
»Ach, woher sollte ich? Ich bin doch die Blöde, der du jedes Märchen erzählen kannst!«, giftete ich.
Er sprang auf und lief im Zimmer herum. »Du hast recht, ich habe dich belogen. Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, jemandem zu erklären, dass man seine Eltern verloren hat, und vor allem, wie sie gestorben sind? Ich kann diese Mitleidsbekundungen nicht mehr ertragen!«
»Setz dich bitte wieder«, sagte ich mit unterdrücktem Zorn und meine Schultern bebten.
Er sah wohl meine innere Anspannung und tat mir den Gefallen. Ich sammelte die Scherben seiner Untertasse ein, brachte sie in die Küche und kam mit einer neuen zurück.
»Vor fast achtzehn Jahren«, fuhr er fort, »hatten wir wirklich ein Haus mit einem großen Garten in Heidelberg, die Straße kennst du. Als ich zwölf war, starb mein Vater, er hat sich umgebracht, das erfuhr ich erst viel später. Meine Mutter in ihrer Verzweiflung brachte sich ebenfalls um. Erspare mir bitte die Einzelheiten. Man brachte mich in ein Heim und ein Vormund wurde Verwalter meines Vermögens.«
Ich sah ihn zweifelnd mit großen Augen an.
»Du hast richtig verstanden«, versicherte er gereizt. »Es war nach dem Verkauf des Hauses und der Firma meines Vaters ein Restvermögen vorhanden, das mein Vormund, der leider mittlerweile auch verstorben ist, für mich so geschickt angelegt hatte, dass ich mir nach dem Abitur das Studium finanzieren konnte.«
Plötzlich konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte: »Warum hast du mir das nicht vorher erzählt? Ich hätte dich trotzdem geheiratet.«
Er trat zu mir und legte mir den Arm um die Schulter. »Es ist noch nicht zu spät. Elisabeth, lass uns einfach von vorn anfangen. Ich liebe dich.«
Ich wischte energisch die Tränen ab und schüttelte den Kopf. »Nein! Was ist mit den Morden?«
Seine Faust knallte auf den Tisch, bevor ich geendet hatte und das Geschirr begann bedrohlich zu wackeln.
»Verdammt! Ich habe nichts damit zu tun!«, brüllte er.
»Und warum sucht dich dann die Polizei?«, herrschte ich ihn an.
»Es gibt jemanden, der meinen Namen missbraucht. Er ist vor zwei Jahren bei mir zu Hause eingebrochen und hat meinen Pass gestohlen. Seitdem verfolgt er mich und hinterlässt Spuren, die auf mich hinweisen.«
»Das soll ich dir glauben?«, zischte ich verächtlich und versuchte, die erneut strömenden Tränen zu unterdrücken. »Die Polizei würde so etwas doch merken!«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, stöhnte er und fuhr sich mit den Händen durch das dunkle, wellige Haar. »Er verfolgt mich und ist immer ausgerechnet in der Gegend, in der ich mich gerade aufhalte. Sogar die Wohnung in Heidelberg hat er gefunden. Wenn ich wüsste, wer es ist, ich könnte ihn umbringen!«
»Das erledigst du dann lieber bei den Frauen«, warf ich entrüstet ein, schrak augenblicklich zusammen, weil er mit zornig zusammengekniffenen Augen abrupt vor mir stehen geblieben war. Instinktiv hielt ich einen Arm vors Gesicht und wich ängstlich zurück, mir erst jetzt meiner eigenen Worte bewusst werdend.
Sein Zorn war schneller erloschen, als er aufgekeimt war. Er ließ die Arme sinken und murmelte mit müder Stimme: »Wenn sogar du Angst vor mir hast, dann bin ich wirklich verloren.«
Er trat ans Fenster, während ich mit hastigen Bewegungen den Tisch abräumte und in die Küche eilte. Ohne auf mich zu achten, stand er da, sah hinaus und seufzte tief. Ich kam herein, setzte mich wortlos und überlegte, ob ich ihm glauben konnte.
»Warum gehst du nicht zur Polizei und erklärst alles?«
»Das ist unmöglich. Sie würden mir genauso wenig glauben wie du.«
Er kramte in seiner Tasche, holte etwas zum Vorschein und legte es auf den Tisch. Es war ein Ohrring mit einer kleinen Kette, an der ein Kreuz hing.
Voller Entsetzen starrte ich darauf und flüsterte in Panik: »Woher hast du ihn?«
»Er war in meiner Tasche. Jede der ermordeten Frauen trug nur einen Ohrring.«
Die Angst kroch in mir hoch. Dieser Mann vor mir war ein Mörder, trotzdem schienen seine Ausführungen glaubhaft, zumindest er selbst glaubte daran. Schizophrenie? Anders konnte ich mir seinen Zustand nicht erklären. Die absolute Verdrängung der Morde aus seinem Gedächtnis und die erstaunte Präsentation eines Beweisstückes ließen keinen anderen Schluss zu. Ich musste sehen, dass ich ihn loswurde, und dann sofort die Polizei einschalten. Alfred hatte sich wieder gefangen und war nun, nachdem er mit mir geredet hatte, ruhiger.
»Warum heiraten wir nicht, Elisabeth? Ich könnte deinen Namen annehmen und der Mann wäre für mich nicht mehr so bedrohlich.«
Ich war so verdutzt, dass ich es für einen Scherz gehalten hätte, wäre nicht sein ehrlicher Gesichtsausdruck gewesen. Dieser Mensch war gefährlich und ein guter Schauspieler dazu, ich musste sehr vorsichtig sein mit meiner Antwort.
»Wenn du mir das alles eher gesagt hättest, jetzt ist es zu spät.« Ich beobachtete ihn kritisch. Außer einem aufrichtigen Bedauern konnte ich nichts aus seiner Mimik herauslesen.
Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Ich hatte gehofft, wenigstens du würdest mir glauben, aber ich sehe, ich habe mich geirrt«, bedauerte er resigniert und verabschiedete sich.
Als ich sicher war, dass er mein Grundstück verlassen hatte, suchte ich mit zitternden Fingern nach der Visitenkarte des Kommissars.
Einige Monate später las ich in einem Boulevardblatt die Schlagzeile: Wochenendmörder endlich hinter Gittern!
Mit klopfendem Herzen las ich den Artikel, in dem unter anderem stand, dass der als mutmaßlicher Mörder verhaftete Alfred D. keinerlei Reue zeigte und alle Taten abstritt. Das Foto daneben war schlecht getroffen. Der dunkelhaarige Mann darauf hatte seine Jacke halb über das Gesicht gezogen, und war deshalb kaum zu erkennen. Ich legte die Zeitung beiseite und weinte hemmungslos. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich Alfred noch immer liebte.
In der nächsten Zeit stürzte ich mich in die Arbeit und nach zwei Jahren heiratete ich einen Kollegen.
Norbert Vemo kannte ich von meiner Zeit auf dem Gymnasium in Gütersloh. Er hatte mit seinen Eltern einige Jahre in unserer Kreisstadt gewohnt, und wir waren ab und zu miteinander ausgegangen. Kurz bevor ich Alfred kennenlernte, zog seine Familie nach Süddeutschland.
Es war nicht die große Liebe, wir hatten viele Gemeinsamkeiten und führten ein zufriedenes Leben. Leider blieb unsere Ehe kinderlos, was nach fünf Jahren zur Scheidung führte. Wenn ich ehrlich war, gab es andere wesentlichere Gründe, aber ich wollte und konnte mir unsere Entfremdung, die zum großen Teil in mir selbst begründet war, nicht eingestehen. Ich nahm meinen Mädchennamen an und verlor jeglichen Kontakt zu ihm. Anschließend bewarb ich mich um eine Versetzung zurück nach Nordrhein-Westfalen, was nach weiteren fünf Jahren endlich gelang. Bis zu meinem Ausscheiden aus dem Dienst war ich am Gymnasium in unserer Kreisstadt tätig.
Und jetzt, nach über zwanzig Jahren holte mich die Vergangenheit wieder ein. Kurzerhand hatte ich meine Koffer gepackt und war nach Süddeutschland gefahren. In meinem Gepäck hatte ich den alten Zeitungsartikel. Wenn Alfred zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, hatte man ihn vielleicht schon vor einigen Jahren entlassen. Ich wollte mich in den umliegenden Haftanstalten nach ihm erkundigen. Noch immer schmerzte mich der Gedanke an ihn. Irgendwie hatte ich seinetwegen Schuldgefühle, obwohl die völlig unbegründet waren. Allerdings musste ich mir heute eingestehen, dass durch die Verbindung zu Alfred meine kurze Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war.
In Singen angekommen nahm ich ein Zimmer in einem kleinen Hotel unterhalb des Hohentwiels mit Blick auf den Weinberg. Ich wollte die Tage auch nutzen, um einige frühere Kollegen zu besuchen und meine beste Freundin Marita Jonas zu treffen.
Marita wohnte in einem Penthouse mitten in der Stadt mit einem reizvollen Dachbalkon, der durch üppige Bepflanzung wirkte wie ein Garten über den Dächern. Marita war fünfundvierzig Jahre alt, dunkelhaarig und von biegsamer, sportlicher Figur, die sie wesentlich jünger erscheinen ließ.
Wir saßen auf dem Balkon und ich genoss den herrlichen Ausblick über die Stadt. Marita deckte den Kaffeetisch und als sie sich endlich zu mir setzte, plauderten wir angeregt. Sie beobachtete mich prüfend und nach einiger Zeit belanglosen Geschwätzes brachte sie mich mit einer gezielten Frage in Verlegenheit.
»Was ist los, Elisabeth? Du bist nicht gekommen, um mit mir zu plaudern. Es muss etwas passiert sein.«
Ich führte langsam meine Kaffeetasse zum Mund, um Zeit zu gewinnen. Ihre gespannte Aufmerksamkeit verfolgte jede meiner Bewegungen und ließ eine Ausrede nicht zu.
»Es gibt wieder eine Leiche mit nur einem Ohrring.«
»Nein!« Entsetzen stand in ihrem Gesicht.
Mein Blick glitt über die Dächer der Häuser und blieb weit hinten am makellos blauen Horizont hängen. Ohne Marita anzusehen, erzählte ich ihr von dem Fund im Moor.
»Du bist nicht zur Polizei gegangen?«, fragte sie verständnislos.
Ich schüttelte stumm den Kopf. »Der Ohrring rechts fehlte und da fiel mir alles von früher ein. Ich habe die Tote wieder versenkt und bin auf und davon. Ich muss wissen, ob Alfred entlassen ist«, brachte ich heraus.
Marita war aufgestanden und ging langsam hin und her. »Du musst die Polizei informieren!«, drängte sie.
Ich seufzte tief. »Ich weiß. Die Frau ist tot, ob sie zwei Tage eher oder später gefunden wird, ist für sie egal.«
Marita lachte hart auf. »Das mach mal der Polizei klar! Die werden anderer Meinung sein. Fahr zurück, geh zur Polizei und vergiss das Ganze. Der fehlende Ohrring kann Zufall sein.«
»Und wenn es Alfred war?« Ich war unentschlossen und unsicher.
»Himmel, Elisabeth, du bist kein Kind mehr! Wenn Alfred wirklich seinerzeit des Mordes überführt wurde, dann hat er bestimmt lebenslänglich bekommen. Möglicherweise ist er inzwischen aus dem Gefängnis entlassen. Aber bitte sag mir, warum sollte er - vorausgesetzt, er hat die Morde damals tatsächlich begangen - nach über zwanzig Jahren plötzlich das gleiche Verbrechen wiederholen?«
Verzweifelt fuhr ich mir durchs Haar. »Ich weiß es nicht.«
Marita blieb vor mir stehen und sah mich durchdringend an. »Du hast es nicht nachgeprüft, ob er es war? Du wolltest es gar nicht wissen, oder?«
Ohne zu antworten, stand ich auf. Ich hatte mir meinen Besuch bei ihr anders vorgestellt. Ich griff nach meiner Handtasche. Marita hielt mich nicht zurück. Wortlos begleitete sie mich zur Tür. Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck.
Ich war schon am Treppenabsatz, als ich ihre leise Stimme hörte. »Du hast nie aufgehört, ihn zu lieben, nicht wahr?«
Ertappt drehte ich mich um und sah ein schwaches Lächeln auf ihrem sympathischen Gesicht.
»Quatsch!«, winkte ich ab, aber meine plötzlich brennenden Wangen straften mich Lügen.
Ich hastete die Treppe hinunter und lief auf die Straße. Fast eine Stunde lang streifte ich durch die Stadt, ohne auch nur annähernd etwas von der Umgebung mitzubekommen. Irgendwann setzte ich mich erschöpft in ein Café, bestellte mir ein Kännchen Kaffee und ein Stück Kirschkuchen und überlegte. Endlich wurde ich ruhiger und mein Zorn auf Marita war verraucht. Ich hatte gehofft, sie würde mich unterstützen, um etwas über Alfred zu erfahren, aber sie hatte mit ihrem scharfen Verstand wieder einmal voll ins Schwarze getroffen. Eigentlich sollte ich ihr dankbar sein.
Es war weit nach Mitternacht, als ich zu Hause ankam. Meine Schwägerin hatte die Zeitungen und meine Post auf dem Esszimmertisch gestapelt. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf, fand nichts Besonderes und ging gleich zu Bett.
Nach nur drei Stunden Schlaf wachte ich auf und stolperte zum Kühlschrank, um einen kleinen Imbiss zu nehmen. Ich machte mir einen starken Kaffee, holte die neue Zeitung aus dem Briefkasten und vertiefte mich darin. Es war gerade sieben Uhr, als ich mich anzog und zu einem Ausgang startete. Leichter Nebel lag über den Wiesen und es war kühl, es würde ein schöner Tag werden. Im Hühnermoor angekommen, fand ich alles so vor, wie ich es verlassen hatte. Nach einem Moment des Zögerns, setzte ich all meine Kräfte ein, zog an dem Ast und mit klopfendem Herzen beobachtete ich, wie das morastige Wasser nach und nach das Bündel mit der Toten freigab. Erschöpft sank ich neben dem Fang zu Boden, riss daran und obwohl ich wusste, was mich erwartete, erfasste mich ein würgendes Gefühl der Übelkeit, als ich plötzlich das fast bis zur Unkenntlichkeit verquollene Gesicht vor mir sah. Mit zitternden Gliedern erhob ich mich, registrierte im Unterbewusstsein, dass wirklich nur ein Ohrring da war, entfernte mich ein Stück vom Fundort und holte mein Handy aus der Tasche.
Bis zum Eintreffen der Polizei hockte ich mich etwas abseits auf den Boden und überlegte, wie der grausige Fund ins Moor gelangt war. Der Bulli, der vor einigen Tagen etwa fünfzig Meter von hier abgestellt war, konnte damit in Zusammenhang stehen. Ich ging zu der Stelle, an der das Fahrzeug gestanden hatte, aber es waren keine Reifenspuren mehr zu sehen, schließlich waren drei Tage vergangen. Gerade als ich zurückging, rollte langsam ein Polizeiwagen heran und blieb direkt vor mir stehen.
Himmel, dachte ich, sie sind nur zu zweit gekommen, als hätte ich ihnen einen Bären aufgebunden.
Eine junge Frau mit perfekt sitzender Uniform und ebenso perfektem Make-up, sprang aus dem Wagen.
»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich. »Sind Sie die Dame, die uns angerufen hat?«
»Allerdings«, gestand ich leicht gereizt und ging ohne Umschweife durchs Gebüsch, den schmalen Weg entlang, bis an den Rand des Moores.
»Hier liegt sie«, sagte ich trocken und zeigte auf den feuchten Stoffballen.
Die Polizistin strebte darauf zu, zog mit spitzen Fingern den bunten Stoff zur Seite und wurde augenblicklich kalkweiß im Gesicht. Sie trat entsetzt einen Schritt zurück, wandte sich angewidert ab und wankte zitternd zum Wagen zurück. Ihr Kollege stand in der offenen Fahrertür, beobachtete sie grinsend und empfing sie mit den Worten: »Sieht aus, als könntest du einen Schnaps vertragen!«
Sie antwortete nicht, griff an ihm vorbei ins Wageninnere, holte das Mikro heraus und forderte mit belegter Stimme die Kriminalpolizei und einen Polizeiarzt an.
»Sieh zu, dass du in die Gänge kommst«, pfiff sie ihren Kollegen an. »Sperr den Weg ab, damit wir keinen unerwünschten Besuch bekommen.«
Der Kollege machte sich immer noch grinsend an die Arbeit, holte rot-weißes Band und Stäbe aus dem Kofferraum, sicherte die Fundstelle ab und erst danach wagte auch er einen Blick auf die Tote und das Grinsen in seinem Gesicht wich einer vom Schreck geprägten Grimasse. Im Nu wechselte seine frische Farbe in einen grünlich blassen Ton. Mit einer plötzlichen Drehung erbrach er sich hinter einem Strauch und kam verzagt wieder hervor. Seine Kollegin eilte mit versteinerter Miene hinzu und bedeckte die Leiche mit einer grauen Decke.
Ich beobachtete die Szenerie, als stünde ich auf einer Bühne, was sicher auf Außenstehende als kalt und herzlos empfunden wurde, aber ich wusste ja seit ein paar Tagen von der Toten und meine Gedanken befassten sich unablässig mit dem Mörder, den ich zu kennen glaubte, obwohl ich keinen Beweis dafür hatte.
Es dauerte nicht lange, bis Arzt und Kripo eintrafen. Der Kommissar, ein Mann Ende dreißig, schlank, fast hager, mit dichten dunklen Haaren, stellte sich mit Hauptkommissar Tann vor. Er warf einen kurzen Blick auf die Leiche und kam dann zu mir.
»Sie haben die Leiche entdeckt?«, vergewisserte er sich und zückte seinen Notizblock.
Ich nickte stumm und sah ihn erwartungsvoll an. Anscheinend war er wohl der Ansicht, es sei an mir, mich zu äußern. So gab ich ihm meine Anschrift und meinen Namen und wartete auf seine Fragen.
Er ging hingegen zu der Toten, die mit der grauen Decke verhüllt worden war, wechselte einige Worte mit dem Arzt und winkte mich heran. Zögernd folgte ich seiner Aufforderung.
»Wann haben Sie die Tote gefunden, Frau Landner?«
Da war sie, die Frage, die ich befürchtet hatte. Die ganze Zeit hatte ich gegrübelt, was ich darauf antworten sollte. Jetzt entschloss ich mich zur Wahrheit.
»Am Dienstagmorgen, so gegen sechs Uhr in der Frühe.«
Der Kommissar sah mich erstaunt an und seine braunen Augen waren aufmerksam auf mich gerichtet.
»Am Dienstag?«, wiederholte er ungläubig und sein Notizblock glitt ihm aus der Hand. Er bückte sich schnell, hob ihn auf und ließ mich dabei nicht aus den Augen.
Ich nickte bestätigtend und überlegte mir eine plausible Erklärung. Hörte mich dann zu meiner Überraschung sagen: »Am Dienstag habe ich mich über das Kleiderbündel aufgeregt und wollte es aus dem Schlamm ziehen, es war mir zu schwer. Zu allem Überfluss begann es zu regnen und ich gab auf. Heute Morgen habe ich es dann erneut versucht.«
Kommissar Tann sah mich skeptisch an, notierte sich meine Aussage, schlug die Decke zurück, mit der die Leiche bedeckt war, und wollte wissen: »Kennen Sie die Tote?«
Ich verneinte und bemühte mich angestrengt, nicht in das wässrig aufgedunsene Gesicht zu schauen. In diesem Moment kam der Arzt, der vorher zu seinem Wagen gegangen war, zurück und erklärte: »Wir haben in ihrer Jeanstasche ein kleines Portemonnaie gefunden. Es war eine Plastikkarte der Sparkasse Gütersloh darin. Sie heißt Sonja Bonder. Höchstwahrscheinlich erdrosselt. Bei dem Lederriemen handelt es sich wohl um eine Hundeleine.«
Der Arzt war mittelgroß und schlank. Er machte auf mich einen gehetzten Eindruck. Sein Alter schätzte ich auf sechzig.
»Können Sie bereits etwas über den Todeszeitpunkt sagen, Doktor?«, erkundigte sich Kommissar Tann und ich wartete gespannt auf die Antwort.
Der Arzt hatte sich schon zum Gehen gewandt und zuckte die Schultern. »Ein paar Tage sicherlich, vielleicht auch eine Woche. Das muss die Obduktion klären. Sie lag zu lange im Wasser, um Genaueres sagen zu können.« Er holte tief Luft, sah auf die Tote, bückte sich, zog die Decke wieder über das Gesicht der Frau und eilte ohne ein weiteres Wort davon.
Der Kommissar befasste sich nun mit mir. »Sind Sie sicher, diese Frau nie gesehen zu haben?«
Ich ging in Gedanken erneut alle meine Bekannten durch und nickte. »Die Frau ist mir völlig unbekannt.«
Der Kommissar sah mich an und holte zu einer weiteren Frage aus. »Sie waren Lehrerin in Gütersloh. Könnte es eventuell eine ehemalige Schülerin von Ihnen sein?«
In diesem Moment hielt ein dunkler Kombi etwas entfernt an dem schmalen Fußweg, was mich einer Antwort enthob. Zwei Männer stiegen aus, holten einen Metallsarg aus dem Auto und kamen zu uns herüber. Sie legten die Tote hinein, gingen den Weg zurück, schoben die grausige Fracht in den Wagen und fuhren mit knappem Gruß zu den Beamten, die dort den Weg absperrten, davon. Einige Leute von der Spurensicherung streunten weiterhin durch das Gelände, fanden aber augenscheinlich nichts.
Ich überlegte, ob ich von dem Bulli erzählen sollte, der vor Tagen etwas weiter im Gebüsch gestanden hatte, verwarf den Gedanken sofort und fragte stattdessen den Kommissar: »Kann ich gehen oder benötigen Sie mich noch?«
Er war mit den Gedanken woanders, schrak ein wenig auf und lächelte schwach. »Gehen Sie nur, ich habe ja Ihre Adresse. Wenn Unklarheiten bestehen, melde ich mich.«
Langsam verließ ich die Stätte des Grauens. Am Ende des Weges schaute ich mich um. Kommissar Tann war an den Rand des Moores getreten und sprach mit einem Kollegen der Spurensicherung. An ihren Mienen konnte ich selbst auf diese Entfernung sehen, dass sie nichts Außergewöhnliches gefunden hatten. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Sonne hoch am Himmel stand, kaum eine Wolke zu sehen war und ein Blick zur Uhr sagte mir, dass es schon elf Uhr durch war. Ich schaute einem Sperber nach, der fast direkt über mir flatternd in der Luft stand und nach Beute Ausschau hielt. Plötzlich drehte er ab und flog davon.
So einen Überblick müsste man haben, von ganz da oben, und natürlich das gute Auge des Sperbers, der selbst eine Maus aus der Entfernung erkennen konnte, dachte ich und grübelte auf dem Heimweg darüber nach, wo ich schon einmal diesen dunkelroten Granatohrring gesehen hatte.
Es war am nächsten Tag um drei Uhr in der Frühe, als ich aufwachte und es mir schlagartig einfiel: Im letzten Sommer hatte ich einen Einkaufsbummel in Gütersloh gemacht und nach mehrstündigem Gang durch die Geschäfte bekam ich Lust auf ein leckeres Eis und ich setzte mich an einen Tisch vor einer Eisdiele am Dreiecksplatz. Eine Kellnerin, bekleidet mit weißer Bluse und schwarzem, langem Rock und einer ebenso schwarzen Schürze, erkundigte sich nach meinen Wünschen. Sie trug ihr blondes Haar hochgesteckt und an ihren Ohren hingen rote Ohrringe in der Form eines Tropfens. Ähnelten sie nicht dem, den ich bei dem Mordopfer am linken Ohr gesehen hatte?
Ich konnte mich nicht mehr so genau erinnern, sprang aus dem Bett, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Wie es meine Art war, hatte ich kein Licht gemacht und sah durch das Küchenfenster hinaus. Ein sternenklarer Himmel hob sich leicht von den hohen Eichen des Hofes ab, deren Wipfel sich sanft im Wind bewegten. Gemächlich ging ich mit dem Glas in der Hand durch das dunkle Haus bis zur Terrasse auf der anderen Seite, öffnete weit die Tür nach draußen und setzte mich auf die hölzerne Bank neben der Tür. Tief atmete ich die frische Nachtluft ein und überlegte, ob die Eisverkäuferin die Tote sein könnte.
Ein merkwürdig heulendes Geräusch ließ mich zusammenfahren. Einen Moment lang hielt ich den Atem an, dann vernahm ich es wieder. Es klang wie ein entfernter, lang gezogener Sirenenton, fast wie das Heulen eines Wolfes. Schlagartig fiel mir ein, dass es der Welpe von Liedmanns sein musste, dessen Mutter kürzlich von einem Auto überfahren worden war, und das Tier jaulte nach seiner Mutter. Liedmanns hatten versucht, für ihn eine Hundeamme zu finden, was allerdings bisher nicht gelungen war, und so blieb ihnen nur der Versuch, das Junge mit der Flasche aufzupäppeln. Trotzdem hatte das Tierchen Heimweh nach der Mutter, was es mit durchdringendem Gewinsel zum Ausdruck brachte.
Mein Glas war leer, ich stellte es auf dem Gartentisch ab und ging auf der steinernen Terrasse auf und ab. Nach kurzer Zeit gab ich das Grübeln auf und beschloss, am Morgen in die Stadt zu fahren und der Sache auf den Grund zu gehen. Mit diesem Gedanken ging ich zu Bett und schlief tatsächlich noch einmal fest ein.