Читать книгу Die Leiche im Hühnermoor - Gisela Garnschröder - Страница 9
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»Diese Lehrerin ist wirklich ein Problem«, knurrte Alfons Weiß und warf seinem Kollegen Tann ein Blatt Papier auf den Schreibtisch.
»Lass diese Scherze!« Demonstrativ legte Josef Tann den Bericht zur Seite und widmete sich seinem Computer. Weiß zog sich einen Stuhl heran, holte einen Apfel aus seiner Tasche und biss herzhaft hinein. Tann zog eine Augenbraue hoch, speicherte seinen Text ab und nahm sich nun den Bericht vor.
Nachdem er ihn gründlich studiert hatte, fragte er: »Wieso hast du ein Problem mit Lehrerinnen?«
Weiß aß den Rest seines Apfels und grinste. »Weil Lehrerinnen immer alles besser wissen, deine eingeschlossen.«
Tann grinste ebenfalls. »Meine ist zurzeit voll eingespannt als Mutter, die zählt nicht. Aber ich gehe sicher recht in der Annahme, dass du von dieser Frau Landner sprichst, oder?«
Weiß stimmte ihm grimmig zu. »Sie mischt sich in alles ein. Im Stadtcafé hat sie Erkundigungen eingeholt und sogar vor dem Haus, in dem die Bonder gewohnt hat, ist sie gesichtet worden.«
»Interessant! Könnte es sein, dass sie den Fund der Leiche absichtlich so spät gemeldet hat?«
»Möglich! Aber warum?«, sinnierte Weiß. »Du kannst mir sagen, was du willst, irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«
Tann winkte ab. »Übertreib mal nicht! Sie ist neugierig, weiter nichts.«
»Hoffentlich hast du recht! Trotzdem werde ich die Dame hin und wieder observieren.« Weiß stand auf und schob den Stuhl an seinen Schreibtisch zurück.
»Ich werde mal im Internet forschen. Ich meine, irgendwann von einem ähnlichen Fall gehört zu haben«, informierte Tann seinen Kollegen, der bereits an der Tür war.
Weiß stutzte. »Eine Moorleiche? Hier in der Gegend?«
»Nein, keine Moorleiche, eine Leiche, der ein Ohrring fehlte«, präzisierte Tann.
»Nie gehört«, brummte Weiß und verließ das Büro.
Tann arbeitete noch eine Weile, rief seine Kollegen in München an, dann holte er seine Jacke und machte sich auf den Heimweg. Es war Wochenende und die Tatsache, dass er gerade Vater geworden war, hatte ihn vor dem Bereitschaftsdienst bewahrt.
Als er heimkam, schlief seine kleine Familie. Cäcilia, seine Frau, die er liebevoll Cil nannte, hatte sich im Wohnzimmer auf die Couch gelegt und war fest eingenickt. Das Babyfon stand auf dem Tisch und ein Blick ins Kinderzimmer zeigte ihm ein süß schlummerndes Baby. Er beugte sich vorsichtig über das Bettchen und strich seinem Sohn zärtlich über die roten Bäckchen. Der Kleine zuckte mit den Augenlidern, rülpste leicht und drehte das Köpfchen auf die rechte Seite. Sein dunkler Flaum war lockig und die winzigen Hände hatte er seitlich ausgestreckt. Noch immer konnte Josef Tann es kaum fassen, dass dieser junge Mensch sein Sohn war und die Tatsache erfüllte ihn einerseits mit Stolz, andererseits mit der Furcht, den Ansprüchen des Kindes vielleicht nicht gerecht werden zu können.
Leise ging er in die Küche und setzte einen Kaffee auf. Er hatte sich gerade in die Zeitung vertieft, als sich die Tür öffnete und seine Frau hereinkam.
»Du bist schon zurück?«, begrüßte sie ihn und gab ihm einen Kuss.
»Ich habe Kaffee gemacht. Magst du auch einen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, das ist nicht gut für das Stillen, ich koche mir lieber einen Tee.«
Sie setzte Wasser auf und wollte gehen. Er stand auf, nahm sie in den Arm und küsste sie.
»Setz dich ein wenig zu mir. Der Kleine schläft, ich war gerade bei ihm.« Sie lächelte unentschlossen und er fuhr fort: »Ich hole das Babyfon.«
Als er zurückkam, hatte sie Kuchen aufgedeckt und sich Tee eingeschenkt.
»Du bist wunderschön«, flüsterte er, als er ihr gegenübersaß. Ihre Wangen brannten und ihre grünen Augen funkelten. Er nahm ihre Hand und strich sanft über die schlanken Finger.
Sie lächelte. »Ich glaube, wir sollten den Kuchen essen, bevor der Kleine schreit«, und wie auf Kommando kamen die ersten Töne aus dem Babyfon.
Am nächsten Morgen erwachte Tann gegen sechs Uhr. Er hatte die ganze Nacht wie ein Stein geschlafen. Neben ihm schlief Cil, die roten Haare über das Kissen ausgebreitet.
Das Baby!, schoss es ihm durch den Kopf. Er stürzte ins Kinderzimmer und fand seinen Sohn friedlich schlummernd in seinem Kinderbett. Aufatmend schlich er zurück, legte sich wieder ins Bett und strich seiner Frau leicht übers Haar. Wie von der Tarantel gebissen, setzte sie sich auf. »Der Kleine!«
Tann lächelte, zog sie zurück und küsste sie liebevoll. »Er schläft!«
Sie sah ihn ungläubig an und wollte sich vergewissern. In diesem Augenblick ertönte eine schrille Stimme aus dem Babyfon und sie eilte ins Kinderzimmer. Gerade als er ihr folgen wollte, kam sie zurück mit dem schreienden Bündel auf dem Arm, legte sich zu ihm ins Bett und kaum hatte sie eine Brust frei gemacht, saugte sich der Kleine daran fest und es war Ruhe. Nachdenklich betrachtete Josef Tann seinen Sohn, der mit geballten Fäusten und eifrig saugend seine Mahlzeit nahm und dachte: Das Leben ist ein Kampf, selbst für dieses kleine Geschöpf.
»Du bist so ernst, ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Cil, während sie ihren Arm unter dem Kind in eine bequemere Lage schob.
Er lächelte. »Alles okay. Es fasziniert mich einfach, wie unser Sohn für sein Essen arbeitet.«
Am Dienstag kam Edvina äußerst pünktlich zum Unterricht und überfiel mich mit der Frage, wo ich denn ihren Vater kennengelernt hätte.
»Hat er es dir nicht erzählt?«, versuchte ich auszuweichen.
»Papa hat gesagt, Sie seien eine Bekannte aus seiner Jugendzeit.« Sie sah mich gespannt an.
Ich überlegte kurz und präsentierte ihr diese Version: »Dein Vater wohnte eine Weile bei meinen Eltern im Haus. Ich bemühte mich damals um eine Anstellung in Süddeutschland und er wurde nach Hamburg versetzt. Ich habe Jahre nichts von ihm gehört.«
»Warum haben Sie sich nie geäußert, dass Sie meinen Vater kennen?«, warf Edvina zweifelnd ein.
Diesmal konnte ich ehrlich antworten: »Ich wusste nicht, dass er jetzt Schneeberg heißt.«
Edvina sah mich skeptisch an, holte dann ihre Bücher aus der Tasche und sprach nicht mehr davon.
Später rief mich Alfred an und wir verabredeten uns für den Abend zum Essen. Nach all den Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass mich dieses Treffen so aufwühlen würde. Zwei geschlagene Stunden verbrachte ich vor dem Spiegel, bis ich resigniert vom vielen Anprobieren einen grauen Hosenanzug mit schlichtem cremefarbenem Trägertop wählte, eilig ein wenig Make-up auftrug, mit dem Kamm durch meine halblangen blonden Haare fuhr und in meinen Wagen sprang.
Im Restaurant bemerkte ich, dass Alfred mindestens genauso aufgeregt war wie ich, was mich sonderbarerweise beruhigte. Er war vor mir da und empfing mich mit den Worten: »Ich dachte, du kommst gar nicht mehr.«
Mit einem Blick auf meine Uhr stellte ich fest, dass ich fast eine Stunde Verspätung hatte, äußerte mich aber nicht dazu, sollte er doch auch ein wenig schwitzen.
Alfred rief die Kellnerin, bestellte uns Bier und platzte nervös heraus: »Du musst dich unbedingt um Edvina kümmern!«
Ich lächelte und setzte mich entspannt zurück. »Deine Tochter ist sehr selbstständig. Ich glaube kaum, dass sie meiner Fürsorge bedarf.«
Die Kellnerin kam mit den Getränken und reichte uns die Speisekarte. Alfred spielte ungeduldig mit seinen Autoschlüsseln, während wir die Speisen auswählten.
Kaum war die Bedienung weg, stieß er leise hervor: »Der Ohrringmörder ist wieder da!«
Ich nippte an meinem Bier und sah ihn über den Glasrand hinweg prüfend an. Er sah gut aus, man könnte sogar sagen: attraktiver als früher. Die grauen Schläfen und die kleinen Falten um die Augen herum ließen das leicht gebräunte Gesicht jugendlich erscheinen, nur die braunen Augen machten einen etwas verstörten Eindruck.
»Du bist es nicht zufällig gewesen?«, erkundigte ich mich gedehnt, ohne meinen Blick von ihm abzuwenden.
»Fängst du schon wieder an!«, empörte er sich und die Bedienung, die gerade mit dem Essen erschien, musterte uns neugierig. Wir warteten ab, bis das Essen serviert war und der dienstbare Geist sich anderen Gästen zuwandte, wobei man der jungen Frau deutlich anmerkte, dass sie sich gern länger an unserem Tisch aufgehalten hätte, um den Grund von Alfreds Unmut zu erfahren. Endlich war sie weit genug weg und Alfred hatte sich inzwischen gefasst.
Um ihn nicht noch mehr aufzuregen, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. »Edvina ist ein nettes Mädchen. Du kannst stolz auf sie sein. Ich bin sicher, sie kann recht gut auf sich selbst aufpassen.«
»Du glaubst mir bis heute nicht, aber ich weiß, auf dich ist Verlass«, sagte er und wir aßen eine Weile schweigend. Das Essen war delikat und das Bier dazu kühl und frisch gezapft.
Erst nachdem ich fast gesättigt war, fragte ich: »Warum hast du eigentlich den Namen Schneeberg angenommen?«
»Um meinem Feind zu entgehen. Meine Frau war da wesentlich kooperativer als du«, entgegnete er lakonisch.
Ich verschluckte mich fast an einem Salatblatt bei seinen Worten und bekam einen Hustenanfall. Als ich endlich wieder Luft bekam, hatte Alfred ein weiteres Bier bestellt und prostete mir zu, wesentlich gelöster als zu Anfang.
»Wie war sie? Deine Frau«, flüsterte ich und trank etwas Bier, um das Kratzen in meiner Kehle zu stoppen.
»Großartig. Sie hat mir vertraut, ohne zu hinterfragen. Leider ist sie viel zu früh gestorben«, erwiderte er knapp.
Irgendwie war ich mit der Äußerung nicht zufrieden. Ich fühlte mich getadelt, trotzdem forschte ich weiter: »Hast du sie geliebt?«
Seine Antwort kam schneller als erwartet. »Nicht genug! Heute bedaure ich es. Sie war immer für mich da. Ich konnte ihr nicht einmal dafür danken. Es wurde mir erst richtig bewusst, als sie schon gegangen war. Sie war eine wundervolle Frau.«
Nichts, womit ich aufwarten konnte, dachte ich bitter und hatte plötzlich das Bedürfnis, umgehend das Lokal zu verlassen. Ich sah auf meinen Teller und beschäftigte mich intensiv mit den Resten meines Mahls, um meine aufsteigenden Tränen nicht zu zeigen. Zum Glück erschien in diesem Moment die Bedienung, erkundigte sich höflich, wie es geschmeckt hatte und Alfred bestellte noch einmal Pils für uns beide, was mir Zeit genug gab, mich zu sammeln und meinem Gegenüber gefasst ins Auge zu sehen.
»Weiß Edvina von unserer Beziehung?«, fragte ich.
»Nein, sie weiß auch nichts von den Morden vor zwanzig Jahren!« Er sah mich beschwörend an. »Du musst mir helfen, Betty! Edvina ist in Gefahr! Sie hat in der letzten Woche einen Ohrring erhalten.«
Ich runzelte die Stirn, ohne ihm zu verraten, dass es mir bereits bekannt war.
»Ach!«, tat ich erstaunt. »Was du nicht sagst.«
»So zickig kenne ich dich gar nicht!« Er musterte mich grimmig und winkte der Kellnerin. »Wir sollten gehen, denn ich glaube, es hat keinen Zweck, mit dir darüber zu reden.« Er zog sein Portemonnaie aus der Jackentasche.
»Vielleicht solltest du mir zunächst einmal erklären, worum es eigentlich geht«, verschärfte ich meinen Ton, was ihn zu einem ärgerlichen Grunzen veranlasste.
»Lass gut sein. Ich habe mich in dir getäuscht.«
Die Bedienung enthob mich einer Antwort. Alfred zahlte und eilte zum Ausgang, ohne ein weiteres Wort an mich zu verlieren. Empört rauschte ich hinter ihm her und marschierte schweigend zu meinem Wagen.
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Dauernd überlegte ich mir, warum ich nicht mehr auf Alfred eingegangen war und machte mir Vorwürfe. Erst gegen Morgen übermannte mich endlich der Schlaf, aber schon nach einer Stunde wurde ich von einem Geräusch geweckt. Mit angehaltenem Atem kauerte ich auf dem Bett und lauschte. Hatte ich geträumt? Nein! Da war es erneut! Irgendjemand lief um das Haus herum. Ein Stuhl klapperte auf der Terrasse. Dann war alles still.
Vorsichtig schlich ich ans Fenster und lugte durch die Gardine. Nichts zu sehen. Doch da! Ein glimmender Zigarettenstummel auf den Steinen des Gartenweges. Wer war das? Wer trieb sich des Nachts vor meinem Haus herum? Leise ging ich zur Zimmertür und drehte den Schlüssel um, anschließend stand ich fast eine halbe Stunde am Fenster, aber es blieb alles still. Irgendwann legte ich mich wieder ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.