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ZUM »GOTTESACKER«

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Cottbus. An einem Haus im Stadtteil Sachsendorf: Unsrer Freundin geht’s schlecht, sagt Gudrun Kamjenski, genannt Caminchen, zu den beiden alten Frauen, die an ihrer Gartenpforte geklingelt haben. Die Tochter hat mich grad angerufen, wir sollen uns noch mal sehn lassen. Ich schlage vor, es geh’n jeweils zwei, heut Vormittag ich mit Euline, nachmittags du Isolde mit Božena. Zu viert könn’n wir schlecht zur Schwerkranken kommen, und... jey... hoffentlich nimmt sie uns überhaupt wahr?

Ogott, arme Joringel, seufzt Euline, die Kleinere, auf einen Krückstock Gestützte, und wischt sich die Augen mit einem Zellstofftuch. Ja, ich komm mit. Gehn wir sofort?

Ooh! sagt die andere, eine hochgewachsene, schlanke Gestalt mit kurzstopplig, orangegelb gefärbtem Haar. Ich rufe Božena an. Will Joringel tatsächlich sterben? Dann wär ihre Wahrsagerei ja in Erfüllung gegangen.

Sie kriegt ganz schlecht Luft, hm… ihr werdet ja sehn.

Isolde kämmt mit der Hand durch ihr leuchtendes Stoppelhaar und fragt: Was hat die Tochter gesagt: Noch ein letztes Mal sehn lassen oder wie?

Ich weiß es doch auch nicht. Euline, mein Herzl, am besten du wartest dort unter der Buche, ich brauch fünf Minuten; umziehn und meine Haare ein bisschen zähmen.

Als die beiden Frauen zehn Minuten später das Grundstück verlassen wollen, erscheint am Fenster des Nachbarhauses ein weiblicher Kopf mit grauweißem Langhaar. Nackte Schultern sind zu sehen und ein buntes Handtuch, das unter den Achseln eingeklemmt ist. Caminchen winkt. Das Fenster wird geöffnet, dabei verrutscht das Handtuch, lässt eine große Brust sichtbar werden. Unten auf dem Gartenweg erhebt sich gähnend ein Hund vom unebnen Beton, bewegt sich gemächlich zum Zaun und gibt einen tiefen Beller von sich. Euline zuckt heftig zusammen, zieht sich mit winzigen Schrittchen hinter die Freundin zurück.

Frau Westphahl, ruft Caminchen hinüber, ich komme später, wir müssen ins Krankenhaus!

Natürlich, Frau Kamjenski, antwortet der Kopf, wir könn’n unser Date auch verschieben.

Euline, etwas nach vorn gebeugt, fast bucklig wirkend, die hinter der ebenfalls kleinen, aber aufrecht und gradrückigen Caminchen noch schmächtiger wirkt, neugiert zum Nachbarhaus rüber und fragt leise: Bist du oft mit der verabredet? Hast nicht Angst vor dem Köter? Betrübt und etwas ärgerlich klingt ihre Stimme.

Sie wohnt halt neben mir, in dieser Hausruine. Zugezogen aus einem Dorf bei München oder nein… Landshut, ich weiß nicht genau. Da muss man doch helfen, dass sie sich eingewöhnt hier im hinterberlin’schen Osten.

Ein Einzelzimmer im Krankenhaus. Ich sterbe… ssst… Luft… ... helft... ster… fff... Schmerz… ssst… weg… nach … fffss… Spritz… aber… ssst… die… ff… Qual des… sss… Ers… sstik… ssst… ssst… Luft… Lu... fft… ssstsch… waru… ch… die… … A… ff… Adrn …mit… Nah… r… ssst… fff... helft... s... dr... ssss... Kiss... fff... ssss… sss nur… ff… s… Lu…fffff … th…… ssts… thhhhhhhh… …Aaaaach. … Ende der Atemqual. … Bin ich tot? … Brauch keine Puste mehr. … Hab ausgehaucht. Bin nur noch... Hauch?!

Türklapp. Die dicke Schwester mit der tiefen Stimme: Ah, sie hat’s endlich geschafft! brummt sie zufrieden. Sie entfernt die Kanüle aus meinem geschwollenen Arm, unten den Schlauch mit dem Plastsack, gelb-roter Urin, halbvoll. Sie richtet meinen verkrümmten Leib in möglichst grade Liegelage, schließt mir den Mund, aufgesperrten Schnabel, wie Meta traurig gesagt hat. Du treue Tochter − eingeschlafen beim Sterbewachen. Die Schwester schickt sie nach Hause. Klebt mir Augen zu, befestigt das Kinn. Faltet Hände auf meinem Dürrbauch. Beten? Quatsch, wo ich doch Atheistin bin. War. Aber ohe! Was ist das? Körper und Seele voneinander geborsten = gestorben? Aber ich denke! Also noch bin ich. Das verblüfft sogar mich. War es kein Hirngespinst, das ich den Altweiber-Freundinnen vorfantasierte? »Seele« ist ausgehaucht. Was nun? Hölle? Himmel? Bardo? Weiberwalhalla? Oder in neues Geschöpf hineinschlüpfen? Womöglich lebe ich noch und mein Hirn schwimmt im letzten Delirium.

Da liegt der zerquälte Leib; weg, auf den Gottesacker. Acker, ha! Von dort erntet die Welten-Chefin, Mutter Natur, macht was Neues daraus. Aber mein Grips, Geist, Gemüt, Gedanke, Gefühl? Alle Wörter fangen mit -G- an. Gott?

Türklapp. Aah, mein Caminchen kommt, Abschied zu nehmen. In ihrem Schlepptau wie immer die immer seufzende Eule-Euline. Sofort werden die beiden hinausbefohlen und nun fahren sie meinen Schrumpelleib weg. In ein Laken gehüllt, die Rest-Biomasse. Adieu, meine einstigen Schmerz-Objekte! Verhärtete Bronchen, ade, kreischende Lunge, schmerzkrumme Finger, ade, und auch du, schiefes Rückgrat, auf dem ein Teufel geklimpert hat, jahrzehntelang seine Aua-Terzette. ... Werde ich nun erlöschen?

Türklapp hinter der Sterbe-Schwester. Jetzt ist ihre Seele an uns vorbeigeschwebt, schluchzt Euline. Caminchen lächelt nur traurig, schwankt ein bisschen und hält sich am Türrahmen fest, streichelt dann mit dem kleinen Finger die tränfeuchte Wange der Freundin.

Großmütter im hinterberlin'schen nach-sozialistischen Land

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