Читать книгу Großmütter im hinterberlin'schen nach-sozialistischen Land - Gisela Kalina - Страница 8
OST-»EMANZEN«
ОглавлениеIm Park. Weshilda mit Hund: So Darling, brav. Fein still liegst immer bei der Nachbarin, Frau »Kamjenski«. Das soll aus dem Russischen sein: der Steinige. Caminchen sagens, das kenn’n wir von hiesiger Oma, von meiner lieben Starka im Spreewald. Klingt auch viel schöner halb-sorbisch: Caminchen − das Steinchen. Und sie ist ein Halb-Edelstein. Großzügig, eine Wiener spendiert sie für dich, das bist net g’wöhnt, my Darling, bei meinem schmalen Geldbeutel. Angst habens, hast du’s g’merkt? Angst vor dir Darling. Schmarrn! Lammfromm dein Charakter, hast noch niemanden hier auch nur an’knurrt. Und dein Fellglanz, die edle G’stalt, alles vom Feinsten. Du bist doch mein Trost in der neuen Einöde hier. Königlich hat zwar die eine gesagt, die Ält’re, die Euli-Euline... die sie attakiert hatten neulich, die Bub’n auf der Straß’n. Verkäuferin ist sie gewesen in einer »Kaufhalle«, wie sie im Osten so hatten. Die scheint extra ängstlich, von Schuld und geheimem Kummer soll sie so krumm g’worden sein. Und diese Floskel »nicht wahr?« streut sie in jede Rede. Wenn Caminchen was sagt, nickt und nickt sie immer verklärt. Sieht auch bissel vertränt aus... Lichtscheue Sorgen und Sünden? Hat sie gespitzelt für Stasi und Bonzen?
Komische Anreden habens einander g’geben. Die sich in deine Näh g’traut hat, die am wenigsten auffällt mit ihrer grauen Bekleidung, unscheinbar ist sie vom äußeren her, nur der stämmige Hintern fällt auf. Božena will sie g’nannt sein, verblüfft mit mopsiger Rundheit, alles kuglig und knollig: Stirn, Nase, Kinn und der vollbusig, dick-ärschlige Körper. Wie’s auf- und abdreht ihr Hinterteil, wenn sie mit dem Stock so daherstapft. … Halt! Hier kannst net dein Würstl, da schau her, hinüber zum Busch. Hundeklo kennens hier nicht? ... Weiter. Kommkomm! … Božena also: DU soll ich sagen zu allen, habens empfohlen ─ Lehrerin war sie gewesen in der Unrechtsschul, in der russisch-ostdeutschen. Und danach im g’samten, im richtigen Deutschland, da hat sie im Dienst bleiben dürfen, obwohl sie wahrscheinlich links wählt oder noch linker? Zu der Beisetzung von der Verstorbnen hat sie rote Nelken g’tragen, nicht wie vereinbart die gelbe Rose. Auch sie könnt beim Stasi g’wesen sein, vielleicht noch immer spioniert sie für Russland? Mit einem Bleistift-Stummel sah ich sie etwas notieren und schnell verstecken. Wie sie diktatorisch herausschaut unter der Grauhaar-Frisur! Diese Stimme und ihr Befehlshaber-Ton. Wenn sie lacht: Hoho-hoo! laut wie ein Kutscher. ... Pfui, Darling, weg da! … Frau Borman, hab ich einmal gesagt, da hat sie mich an’knurrt: Nicht dieser Name! Ich bin kein Bohrer. Drauf hat die Isolde sich zwischeng’mischt: He, manchmal bohrst du ganz nervig in gestrigen Ansichten rum...
Nein, halt, Darling, hier nicht entlang, siehst da die Wolke, es könnt nochmal Schnee...
Sind alle zur Arbeit gerannt in den jüngeren Jahren, trotz Heirat und trotz ihrer Kinder. Ingenieurin ist sie gewesen, die unlängst Verstorb’ne. Sie soll den siebenten Sinn g’habt haben. Sinds denn aberglaubsch, alle mit’nand? ... Was schaust so? Komm, komm! … Im Büro war unsre Caminchen gewesen, »Wissenschaftliche Mitarbeiterin« im Kraftwerk. Wohl nicht viel andres als eine Tipse? Ein Nam’ hat mir Neugier g’weckt: Ich sollt ein Junge sein, Isolde − Ichsollte. Oft sagens Lesbi zu ihr? Das klingt ja nach Schwul-Lesbizität? Da müss’n wir uns bald a’mal schlau machen, Darling. Sie sieht ziemlich flott aus, wenn auch ein bissel verkitscht die Bemalung: blondiertes Antlitz, Augenbrau-Dünnstrich mit g’schwungenem Gipfel. Und am Busen die Rosenbrosch, dran fingert sie ständig herum. … Was jetzt? Nein, hier neben dem Spielplatz darfst net markiern.
Kommkommkomm! Ja, dort ist’s möglich, am Baum. Nun mach scho’... und weiter. Isolde: Die Haare so kurz... wie an’ abgenutzte Schuhbürst, hat die Božena g’spottet, aber ich find, das passt scho’ für sie. Ja, schlank ist sie und auch beweglich, war auch amal so, jetzt aber... verdickt und verholzt von unendlicher Arbeit... die am Ende umsonst war. Bei allen ulkig z’sammengewurstelte Kleidung. Die knollige Božna unlängst mit Hose in Grau und Schuhe in Braun. Frau Caminchen, mit rosa… pfui, Darling! … …»Fach-Kräfte« warens, habens geprahlt. Isolde, die mit dem lesbischen Spitznam’: Krankenschwester sei sie gewesen. Fachkräfte? Büro, Ladentisch, Nachttopf-Entleerer, auch nicht so toll. … So, my Darling, nu komm, wir habn’s gleich g’schafft… Alle wohnen in ihrem umplatteten Käfig, eine, die knollige Božna schon im betreuten Heim. Nur unsre Nachbarin, Frau Caminchen… ach und jetzt wissen wir auch, warum sie ein Häusel hat neben dem unsrigen. Wegen der vielen Nachkommen hatt’ sie das Recht g’habt in der kommunistischen Zeit, da durften sie bauen. Ärmlich durch DDR-Konditionen, Zement und Holz waren rationiert.
Pfui, my Darling, nicht Exkremente anderer Köter beschnuppern. Igitt, weg da! … Ich wär beinah selbst in dieser dürftigen Enge verblieben. Gut, dass der Großvater uns weg’holt hat von der Starka-Großmutter im Spreewald. Nur in den Ferien hab ich herüberfahr’n dürfen. Zwischen zwei Großmüttern g’lebt und zwischen zwei Ländern. Und wegen dem Schreckens-Ereignis mit diesen Russen, als ich ein Kind war, bin ich g’blieben… Hier hätt ich vielleicht einen schlaueren Job, so gewieft wie die alle zusamm’ bin ich auch. Ja Darling, sogar berühmt war ich g’wesen mit meiner Spezial-Intell’genz. Als Kunst haben’s manche benannt. Obwohl, das macht’s auch nicht allein, diese... das Nachbar-Caminchen hat noch was andres, sie schaut so freundlich und harmlos, oft bissel müde und träumend ... Komm, Darling, weiter! … Sie kleidet sich zwar etwas... schlampig – wie sie im Garten umhergeht! Trägt woll’ne Pullover, die älter sind als sie selbst, sagt sie und amüsiert sich darüber. Und rosa Latzhosen hat sie oftmals am Leibe, bekleckste im Garten, und mit pieksaub’ren steigt sie aufs Fahrrad. So möcht ich mich net vor die Tür traun. Die wilden Haare, flüchtig gebündelt, wie ein aufgeplatzt’s Kissen schaut’s aus von der Fern. … Trotzdem, sie hat was. V’leicht kann ich doch wieder ei’m Menschen vertraun, offen und ohne Maske? Ach, my Darling, einmal hab ich mich lassen derblecken... vom Traum meines Lebens... und bin fast versunken... aaach... Werd sehn, wie ich mit den Weibeln hier auskomm. Bis jetzt schaut mich keine verkehrt an, als wüsst sie von meinem Skandal. ... Sie reden von Enkeln, von Kur und Theater, mal schaun, was ich mitmachen kann oder darf. Da schau her, meine Schöne, da samma daheim. Das neue Z’haus, ob’s Glück bringt? …
⸙
Man wusste schon einiges über die Neue: »West-Hilda vom Feinsten«. Oder glaubte zu wissen.
Die Neue mit dem kalbgroßen Köter. Zugewandert aus westlichen Welten. Hochgewachsen, mit kräftig beleibtem Körper in schicken Klamotten und oft breit berandetem Hut. Bayrisch-germanisches Kampfweib, spottete Božena, Isolde setzte noch einen drauf: Tonne mit’m Wagenrad. Dezent bemalt das Gesicht und barbymäßig drapiert die langen, mit grauweißen Strähnen durchsetzten Schwarzhaare, die sie für ihr Alter zu lang trug, war man sich einig. Die Hiesigen begnügten sich − außer Caminchen − mit der praktischen Ballfrisur; Euline, weiß mit bläulichem Schimmer, stets frisch vom Friseur geplustert. Auch Isolde ließ sich ab und zu »ver-jugendlichen« aus wechselnden Farbtuben.
Klatschgespräch: Westhildas Stupsnase passt eigentlich nicht zu der Riesengestalt, krittelt Euline. Nicht wahr?!
Genau, bestätigt Isolde. Manchmal stiert sie so in die Gegend, als wär alles um sie drumrum nur Luft. Erzählt doch mal weiter. Was wissen wir noch?
Also sie ist vergewaltigt worden nach dem Krieg äh... hier im Osten? Oder nee, ich glaub, nur ihre Mutter?
Der Russe hat sie mit Zucker bezahlt, nicht wahr?!
Genau, das hat sie Caminchen erzählt. Und die Mutter ist abgekr... ist gestorben? Und wie war sie rüber gekommen?
Die Großeltern im Schwarzwald haben die Waisenkinder aufgenommen, sie und den kleinen Bruder.
Nee, in Bayern?
Aufgenommen? Von wegen! empört sich Božena, die bis dahin geschwiegen hat. Das war doch wohl anders, wie ich gehört hab. Nur Hausfrau ist sie vermutlich gewesen. Und zweimal verheiratet war sie. Vom ersten geschieden... oder?
Keine Ahnung. Sie ist katholisch, da geht das Scheiden-Lassen nicht ganz so leicht. Das kriegen wir alles noch raus.
Und mit dem zweiten Mann gab’s krumme Sachen, hat Caminchen bisschen verplaudert. Irgendwie mit Geld war da was, nicht wahr?
Nee, Quatsch: mit ’ner anderen Frau.
Achtung, sie kommt mit Caminel und mit dem Hund. Jetzt Punkt, ihr Klatschtanten!
⸙
In Boženas Winzigwohnung, später beim Kaffee. Euline, nachdem sie die tränenden Augen betupft hat: Sag mal, Isolde, du suchst immer wieder nach einem Mann? Kaum zu schaffen, nicht wahr?! Die Passenden würden doch sicher Jüngere wollen.
Das muss doch kurios sein, antwortet Isolde in beleidigtem Ton, wenn die alten Kerle ihre schlappen Schwänze in die jungen Mädchen reinhängen lassen.
Oooch! empören sich alle. Isolde, wie sprichst du?
Und Božena mahnt: Ja, und mach endlich ’nen Punkt, definiere einen zur großen Liebe.
Höh, mal hatte ich einen, für den war ich die ganz große Liebe, hat er behauptet. Er wollte versinken in mir, nie wieder auftauchen. So was hat er gesäuselt in seiner Leidenschaft vor dem, na ihr wisst schon... Orgas-Schmuuus. – Nee, das geht nicht, hab ich gekontert. Wir müssen verschmelzen und ’n neuen Kern produziern. Aber das wollte er nicht, abgehauen ist er nach einem Jahr. So was Ähnliches ist mir mehrmals passiert. Darüber zu reden, hab ich kein’n Bock.
Aber warum musst du immer noch Männer anbaggern?
Isolde bürstet mit beiden Händen durch ihren Stoppel-Haarschnitt und richtet sich auf: Hehe, ich leide an mehrfach ungesättigter Liebessehnsucht. Nur kein Neid, Božena!
Das sollte doch jeder für sich entscheiden, beschwichtigt Caminchen. Mein Enkel, der Steffen, der hat mir zwar klar gemacht, als ich noch nicht einmal 60 war, dass die… hm... diese Art Liebe nicht mehr für mich in Frage kommt.
Das Pfefferkuchen-Liebesherz: Oma, sagt mein Enkel zu mir, Oma, in deinem Alter kannst du doch nicht mehr beurteilen, was man heutzutage unter Liebe versteht.
Ich weiß aber noch, antworte ich, wie die kleinen Kinder gemacht werden.
Aber Oma, das ist Ssssex, das ist doch nicht Liebe.
Ach so, auch heutzutage? wundre ich mich. Zu meiner Zeit...
Also Oma, ich glaub dir ja, dass du damals zu deiner Zeit... Vielleicht weißt du es ja noch theoretisch. Aber die ganzen Gefühle, die wir heute haben!
Woraus entnimmst du, frage ich etwas gereizt, dass ich mich nicht mehr erinnre?
Na, Oma, wenn ich dich höre: Ich liebe Bienenwachs-Kerzen, ich liebe märkische Kiefern, ich liebe den 17-Uhr-Tee. Das ist doch keine Liebe im Sinne von wahrer Liebe.
Seh ich ein. Also wirst du mich in das Geheimnis einweihen, was heutzutag »wahre Liebe« bedeutet. Also?
Theoretisch kann ich’s dir nicht erklären. Das würdest du nicht verstehn, aber ich werd’s dir am Beispiel klarmachen: In meiner Klasse, Thomas, – der Große, Dickliche, der mit dem Stoppelschnitt, wie du immer sagst. Also, der ist richtig verliebt in Anette. Das weiß jeder, wirklich. – Wie? Ja also, der hält seit mindestens einem halben Jahr um ihre Hand an, wie das in euern alten Büchern so ausgedrückt wird... Ja, und... die Anette lässt ihn zappeln, sie weiß nicht richtig, will sie ihn, will sie ihn nicht? Und erstens: Er muss sich in Mathe verbessern. Und zweitens: Er muss sein Verhalten in Englisch verbessern. Und drittens, bis zum Nikolaus will sie sich entscheiden. Trotzdem, er gibt nicht auf, er liebt sie eben. – Warum? Naja, sie ist wirklich nicht schlecht, blaue Augen, schlank, schon ein bisschen Busen. Und sie ist immer nett, lustig, hilfsbereit. Wenn sie lacht, das steckt richtig an. Als wenn ein Tischtennis-Ball runterfällt und dann so ausklickert. Mir gefällt sie eigentlich auch. Einmal, als ich mit ihr zusammen in ein Buch reingeguckt habe und ihre Locken kitzelten mich am Ohr, da hat’s mich durchrieselt, ganz angenehm. Aber sie ist eben schon belegt.
Früher, sage ich, war so was geheim. Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand was weiß... Volkslied. Kennst du doch.
Nein, heute ist die ganze Klasse live dabei, erklärt er. Thomas sagt immer ganz laut: Anette, ich liebe dich, Anette, für dich tu ich alles, Anette du hast den schönsten, äh... na, du weißt schon, Oma. – Die andern? Naja, viele ärgern sie, die Mädchen fragen: Anette, was macht eure Liebesgeschichte? Aber besonders die Jungs: Anette, wann habt ihr den letzten Zungenkuss gemacht, Anette, habt ihr schon gebu..., na, du weißt schon, Oma. Dann wird sie ganz wütig und schreit: Lasst mich mit eurer Scheiß-Liebesgeschichte in Ruhe! Aber er gibt nicht auf, er liebt sie eben.
So, aha. Und hat sie sich nun zum Nikolaus entschieden? erkundige ich mich.
Ja. Abgesagt. – Er? Hat am nächsten Tag ’ne andre gefragt, die Sabine, ob sie mit ihm gehn will. Die hat sofort ja gesagt. Daraufhin schenkt er der am andern Tag ein riesiges Pfefferkuchen-Herz mit der Aufschrift: Ich liebe dich! Dann wieder am nächsten Tag hat Anette, seine wahre Liebe, im Unterricht unter der Bank irgend’ne Hausaufgabe abgeschrieben. Er hat’s gesehn und gepetzt. Das fanden wir auch ein bisschen fies, aber er erklärte später, dass es Liebes-Verzweiflung war. Daraufhin haben alle Mädchen aus der Klasse ihn beschimpft und ein Embargo beschlossen. Keiner darf mehr ein Wort mit ihm sprechen. Nie wieder. An dem Tag wurde es eingehalten, sogar von uns Jungen.
Am nächsten Tag bringt Sabine das Pfefferkuchenherz wieder mit, zerbricht es und gibt’s ihm zurück – schweigend, sieht ihn nicht dabei an. Er nimmt’s und – beißt ab. Die ganze Klasse guckt zu, wie er genüsslich speist, besonders wir Jungs. Schließlich fragt Erik: Krieg ich auch ’n Stück?
Ich auch! Ich auch! schreit bald alles durch’nander. Er verteilt, alle essen mit, auch Anette. Im Nu war’s weg. Und zum Schluss sagt er: Und ich liebe doch Anette.
Das also, frage ich meinen Enkel, ist wahre Liebe, meinst du? Versteh ich nicht.
Ja, Oma, antwortet er, und damit war die Belehrung für ihn beendet: Das ist heute viel komplizierter. Das kannst du eben nicht mehr verstehen. Aber musst du auch nicht. Lieb du mal die warmen Wollhemden und deine alten Zeiten. Und vor allem mich. – Das genügt für dein Alter.◄
Isolde, da hörst du’s, die Enkel sollst lieben, nicht wahr?!
Jaa! Wenn ich das wüsste, ob mein Sohn da drüben in Kassel? Vielleicht hab ich ja dort noch Enkel? Ich glaub es allerdings kaum, dass seine jetzige Frau, wie soll denn ein Kind auf weißem Teppich aufwachsen? Keine Ahnung, dort bin ich unerwünscht.
Božena, von Schreibneugier geplagt, möchte mehr wissen: Erzähle, Isolde, ein weißer Teppich? Und warum nicht erwünscht?
Das braucht nicht jeder zu wissen, warum mein Sohn, er steht halt unter dem Filzpantoffel der Frau.
Nach einigen fragenden Blicken und peinlichem Schweigen stichelt Božena weiter: Aber du müsstest mal Nägel mit Köpfen machen, nicht mehr so flattern von einem zum nächsten.
Vielleicht eine Anzeige in einer Zeitung, wirft Weshilda vorsichtig ein: Sympathische SIE sucht…
Euline: Jaa: Attraktive... ältere äh... Dame sehnt sich...
Alle schnattern neue Vorschläge durcheinander: Zärtliches, leidenschaftlich einsames Herz, schick, extrovertiert...
Wartet mal, unterbricht Caminchen die fröhliche Formulier-Lust. Ich hab was aus einem Astro-Buch, das mir Joringel mal schenkte, ich kann’s auswendig, weil ich’s so lustig find: Waage m. aufgeschl. Verst., hoffnungsv. Herz., hat ihre Seele der Liebe geweiht; ihre ruhige Sinnlichkeit ist teuer und erlesen und nach neuester Mode verpackt.
Darf ich aus dem Album meiner Großmutter zitieren? fragt Weshilda nach allgemeinem Gelächter: Isolde wirst du genannt/du trägst eine Rose in der Hand/die sollst du tragen bis an dein Grab/dann nimmt sie dir ein Engel ab.
Da alle amüsiert auf Isoldes silberne Brosche schaun, die sie heute als Verschluß einer Jacke trägt, wehrt die sich: Ach, nun lasst mir doch meinen Rosen-Spleen, hängt schließlich Erinnerung dran.
Von der ganz großen Liebe, nicht wahr!? rät Euline
Ach Quatsch, winkt sie ab. Und ich hab alles schon durch: von sachlich formuliert bis tropfend von Gefühlsschmalz-Herz-und-Schmerz. Aber die meisten Männer, die sich auf Annoncen melden, sind ziemlich verknaupelt.
Was heißt denn das? fragt Euline pikiert.
Verknaupelt?
Krumm wie ein schief eingeschlagener Nagel. Oder Backen wie ’n Hängebauchschwein. Giftzahn-Blick, Säufer-Tropf-Nase, Grämlichkeitsfalten und Totschlag-Grimasse. Obwohl: Bin selbst eine Knitterlook-Oma und andrerseits, wenn ein Mann meine Seele anspringt wie unlängst, dann darf seine Hülle dickbäuchig oder auch lattendürr sein.
Seele anspringt? bohrt Božena wieder. Unlängst? Wann?
Sei nicht wunderfitzig. Aber was andres: Das Gräßlichste ist der Kartoffelblick, den die meisten haben.
Was ’n das?!
Zum Beispiel der Helmut, von dem ich Caminchen neulich erzählt hab. Der war ’ne Annoncen-Bekanntschaft. Durfte mich in der Wohnung besuchen, weil ich ihn ganz nett und einigermaßen ansehnlich fand. Und was erleb ich?! Er bringt beim zweiten Besuch einen riesigen Blumenkohl mit, der sei im Angebot in der Pücklerpassage und derart billig... Da hatte er sich enttarnt: Altersgeiz und Kohlkopf-Blick. Nee, danke, kochen will ich nicht für so einen Knacker. Ich hasse den Haushalt, und dann sogar Kohl, der die ganze Wohnung verstinkert. Und passt mal auf, die Story kommt erst, warum ich ihn rausgehaun hab: Ich fahr morgen nach Leipzig, sag ich zu ihm, meiner Enkelin, ach... öh Tochter, der muss ich helfen, deren Zwillinge sind krank, bisschen kochen für sie und die Kleinen betreun – da sagt der doch: Wieso musst du? Das stimmt nicht, du willst! – Nee, sage ich: muss. Das ist der Gluckentrieb, der ist unausrottbar: Erstens kommen dreimal die Enkel, dann nichts, dann nochmal die Enkel. Und danach kommt noch lange kein Mann, für den ich Kohlköpfe kochen soll. – Da ist er gegangen, tja. Ich hab keine Hoffnung, den Traum-Mann zu finden, in all den Jahren hat mir außer einer verrückt großen Liebe nur, tja echt verrückt war das und lang lang ist’s her – nur ein einziger auf den ersten Blick richtig gefallen. Auf den zweiten Blick einer, das war im letzten Jahr, der von Boženas Schreib-Club.
Jetzt wird Kaffee getrunken, fordert Božena, und dabei erzählst du, welcher das war, der dich entzü... berauscht hat?
Ach, den habt ihr doch alle gesehn, nee, der zweite Blick war es auch noch nicht, er schien gar zu gespenstisch dürr und die riesigen Ohren... aber was er dann von sich gab, das fand ich lustig und mein Herz hat wieder mal’n bisschen gezappelt. Ich kann nicht genau definier’n warum, drollige Storys über zwei Arbeitslose hat er gelesen.
Ach, mein Herr Plotzek von den Zeitzeugen, der aus dem Spreewald-Dorf, freut Božena sich. Der schreibt immer diese Plauschi-Geschichten. Den kannste nicht kriegen, ist verheiratet.
Impulsiv fragt Weshilda: Spreewald? Ich kenn aus meiner Zeit bei der Starka, meiner hiesigen Oma...
Weil Caminchens Teelöffel scheppernd und spritzend in ihre Tasse fällt, kriegt sie keine Antwort. … ...
Später, als sie bei einem Gläschen Wein sitzen, richtet Frau Westphahl – inzwischen längst Weshilda benannt – die Frage an die heutige Gastgeberin: Sie schreiben, Božena? Pardon du. Und was schreibens, wenn man die Frage stell’n darf?
Halt meine Vita. Und Storys, die ich so höre.
Euline nach einem Schniefen: Ist dein Leben denn so int’ressant? Ich höre noch deine Worte: Mit 6 Jahren bin ich in die Schule gekommen, mit 60 wieder heraus.
Der Lehrer lebt am Busen der Gesellschaft. Und exemplarische Geschichten, die mir zu Ohren kommen, schreibe ich auf.
Was für Geschichten?!
Na, zum Beispiel das Leben unsrer Verstorb’nen, wie sie es erzählt hat. Exemplarisch, weil zigtausend weibliche Leben so abgerollt sind hier im Osten.
Božena steht auf, kramt eine Weile in ihrer Schreibecke, wo ein Laptop steht, umrahmt von Büchern, Lexika, Zetteln...
Na, ihr wisst sowieso, dass ich schlampig bin, brubbelt sie. Die Schlafkoje wollt ich geschlossen lassen, aber na, eure Neugier... Übrigens wollte Joringel über ihr Leben selbst schreiben, das hat sie oftmals gesagt, aber sie hatte so viel-viel zu tun, hohoho.
Caminchen berichtet für »Weshilda« Westphahl: In ihrem letzten Leben, also hmm... nach Beruf und als die Kinder fort waren und der Mann verstorben, da hat sie am... hm »Busen der Natur« ihr Traumleben gelebt. Stundenlang in Wald und Wiese...
Bei Tröpfelwetter den Wald durchstrolcht, spricht Euline dazwischen. So hat sie immer gesagt, nicht wahr?
Hm... ja auch Jäger und Sammler hat sie gespielt. Schnittlauch, Holunderblüten, Haselnüsse. Und Pflaumen aus verlass’nen Schrebergärten schleppte sie heim in ihren Taschen der rosa Latzhosen, die auch ich von ihr... hm... oder im Büstenhalter verstaut, wenn sonst kein Platz mehr war...
Rosa Latzhosen? fragt Weshilda. Kurios. War das
Kommunistische Uniform? – In der Wendezeit, erläutert Isolde, als ihr Betrieb von volkseigen in privat umgewälzt wurde, wollte der neue, der Wessibesitzer, alles zur Müllkippe fahren, was an Berufskleidung und Sonst-Materialien noch da war. Auch sämtliche Bücher der Bibliothek – ihr wisst noch. Ein Gewerkschafter hat dann verhandelt – darauf haben die Arbeiter und Angestellten sich wegnehmen dürfen, was sie noch brauchbar fanden. Zu der großen Verteilung kam unsre Joringel als letzte dazu, da war kaum noch was da von den Möbeln, Tischlampen, Decken und Kissen aus Frauen-Ruheräumen usw., und da hat sie Bücher gebracht für die lese-besess’ne Božena. Arbeitskleidung war auch fast alles schon weg, Filzstiefel, gefütterte Jacken und so. Latzhosen waren noch, aber nur noch in rosa – Laborbedarf – zwanzig Stück, die wollte niemand. Joringel hat den ganzen Stapel genommen, sehr leichte Baumwolle, und sie hat ein paar an Caminchen verschenkt, auch selbst getragen und sich nichts draus gemacht, wenn andre glotzten.◄
Und Wildblumen hat sie gesammelt, eifert Euline, da hatten wir auch schöne Fotos, Joringel und ich: die wunderbar hellblauen Sterne, der... äh, Wegwarte und, äh... Wildbeeren zu Marmelade gekocht und verteilt. Ich hatte Bedenken bei der Konfitüre, mit der sie uns... weil äh... sie hatte oft so schwarzrissige Hände von ihrem Garten.
Ja, ich hab mal gespottet: Wie viel Pfund Erde sind drin?
Also, ich bitte euch, widerspricht lächelnd Caminchen, es war’n immer noch mehr Früchte dran als Kompost!
Und das Gärtchen, Weshilda, das müssen wir zeigen, wendet sich Euline wieder an die neue Teilnehmerin der Runde. Mit verklärtem Blick zum Foto der Toten berichtet sie: Da drüben im Sechsstocker, Erdgeschoss, hat sie gewohnt und einfach eine Tür an ihren Balkon gebastelt ... äh... die Wiese davor annektiert und bepflanzt, nicht wahr?! Und der Besitzer, die Stadt, hat’s geduldet... ’s war halt DDR-Zeit. Isolde hätte dann gern diese Wohnung...
Genau, hätt ich gerne, aber ein Enkel war schneller. Na, wir haben jetzt andere Pläne über das letzte Wohnen. Alle zusammen in einer…
Das ist noch lange nicht spruchreif, wehrt Božena ab, die aus der Kammer zurück ist mit einem Hefter. Erst müssen wir unsere Probe bestehn. Wir fahren zusammen nach Franzensbad, Tschechien, wohnen Zimmer an Zimmer.
Jedenfalls war das schön bei Joringel, nicht wahr? wispert Euline. Wenn wir dort beim Kaffee, äh... und ich hab euch fotografiert dort am Flieder und... winters hab ich... hat sie mir oft auf meine Schmerzen die Hand aufgelegt. Und Horoskope, äh... Wiedergeburt, sie war doch ein Glücksfall für uns und...
Wiedergeburt? staunt Weshilda. Glaubens an so etwas?
Darüber jetzt nicht! bestimmt Božena streng. Ich lese vor aus Joringels Erst-Leben, wie sie es nannte. So, wie sie’s erzählt hat.
Nein, halt, sagt Euline, vorher möchte ich von ihrem äh... Freund in den Wiesen... was ich damals... als sie den Eimer...
Božena unterbricht, etwas milder als sonst: Sei nicht böse, Euline, weil du das schon zehnmal erzählt hast, hab ich’s aufgeschrieben, fast mit deinen Worten, hab’s auch gleich mit rausgesucht, das lese ich jetzt als erstes. So. Ruhe!
Erotik in den Sommer-Wiesen: Wo warst du so lange? fragte ihr Mann, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
Ich war bei einem Freund, sagte sie trotzig.
Spinn nicht rum, zwei Stunden warst du weg. Also wo?
Na, ich sag doch: Bei meinem Freund. In den Wiesen.
Nun ließ er seine Maus ruhen. Nachdem er sie flüchtig von oben bis unten betrachtet hatte, schaute er wieder zum Bildschirm und brummelte mit halber Stimme: Ramponiert siehst du aus, ganz zerzaust.
Tja, so ist mein Liebhaber, provozierte sie, ziemlich grob.
Endlich drehte er seinen Stuhl vom Computer weg, rollte einen halben Meter in ihre Richtung und runzelte seine Stirn: Spinnst du mal wieder? Bei dem Wetter rauszugehn!
Ja, ich war in den Sacksi-Wiesen. Eine Hitze, oje ja, aber mich zieht’s halt unwiderstehlich in dieses flache, flimmernd verdorrende Land... Meine Augen schweiften umher, und da stand er, mein Freund, und lockte mit seinen dunkel strahlenden Augen. Ich ließ mein Fahrrad ins hohe Gras sinken, schnurstracks hin und mich gierig in seine Arme geworfen. Ja, gierig!
Wie du aussiehst, empörte er sich, überall Schrammen.
Ja, er ist brutal, dieser Liebhaber, steigerte sie sich und höhnte: Sofort umschlingt er mich, klammert. Wir kämpfen mit Leidenschaft. Tjaaa!! Er zerreißt mir die Bluse, meine schöne gestreifte, noch aus DDR-Zeiten, da! Beißt mir viele Wunden. Quatsch, ich übertreibe: Kratzt. Aber hier, in den Hals hat er seine Fingernägel geschlagen. Richtiges Blut, muss sogar ’n Pflaster drauf... und rotbefleckt ist die Latzhose. Na egal. Jedenfalls ist es ein tolles Erlebnis mit meinem Freund und ich kann nicht genug von ihm kriegen. Er ist ein wilder Geselle, kann aber manchmal ganz süß sein, haha, wenn ich seine richtigen Stellen erwische. ... Endlich reiße ich mich aus der Umarmung und trage –befriedigt! – seinen Samen nach Hause. … Da. Ein ganzer Eimer voll.
Ach so, gähnte er und wendete sich dem Computer zu. Der Brombeerstrauch. Aber streich sie durchs Sieb!
Nee, mach ich nicht, konterte sie. Unsere Enkel wünschen die Marmelade mit Körnchen, das ist aromatischer.◄
Die Enkel immer, knurrte er und sah nicht mehr auf.
Nach kurzem Schmunzeln und Räuspern und Eulines Geschniefe befiehlt Božena in Lehrer-Kommandoton: So jetzt les ich Joringels Lebenslauf. DDR-Story, ganz normal:
Eine DDR-Emanze. Wie bist du aus Thüringen in die grausige Kohle gekommen? hatten wir sie gefragt.
Durch meinen Herbert. Kran- und Baggerfahrer, Mann mit Geld und Motorrad. Schick, selbstbewusst und erwachsen. Ich war noch nicht 18, da nahm er mich, wir mussten heiraten, Wohnungen gab’s in der hintersten Lausitz und Arbeit erst recht. Ich hatte knapp ausgelernt, wir zogen nach Hoyerswerda. Als unsre Kinder größer wurden, bot man das Studium an: Frauenförder-Programm. Er war dagegen. Ich sagte ab, die Kinder sind noch zu klein. In mir flüsterten Hoffnung und Zweifel. Ob ich das schaffen könnte, ein Ingenieur-Studium? Die trauen’s mir zu. Und ich? In der Schule war ich nicht schlecht, an Oberschule konnt ich nicht denken, nach mir zu viele Geschwister, da sollten zuerst die Brüder auf höhere Schule. Aber mittlere Reife hatt’ ich. Zum Lernen hätte ich immer noch Lust. Aber pack ich das neben Beruf, Familie und Haushalt?
Der Gedanke bohrte weiter in mir. Zwei Jahre später drängelten die von der Gewerkschaft schon wieder: Ein Fernstudium boten sie an, da könnt ich mich nebenbei weiter kümmern um die Familie.
Er war schon wieder dagegen: Bringe selber genügend Kröten nach Hause, sagte er. Das hat seine Frau nicht nötig, sich abzuschinden auf einer Schulbank. Falls sie aber überflüssige Kräfte verspürt, dann soll sie ihn von den Haushaltspflichten befrein, das Treppe-wischen kotzt ihn schon ewig an, das Einkaufen, Abwaschen…
Ein wütender Streit: Das möchte ich wissen, wann du das letzte Mal die Treppe fegen musstest, schrie ich, das macht schon seit einem Jahr Katrin. Abwaschen seit Monaten Thomas, obwohl er erst elf ist. Und kochen und backen und putzen... und waschen und stopfen, da hast du noch nie geholfen, noch nie! Und hast du schon einmal in deinem Leben das Klo geputzt? Kein einziges Mal!
Ich muss ja auch schuften und mich schinden mit Überstunden, brüllte er zurück, in Dreck und Quiem, sitz ich auf’m brüllenden Pulverfass und wenn was schiefgeht, ein Zentimeterchen zu weit nach links geschwenkt und der Bagger kippt in’ Tagebau rein, na, dann is’ Holland in Not! Du den ganzen Tag an deinem lahmen Zeichenbrett, da wirste wohl ab’nds noch bisschen die Stube wischen können… Bei Wetter und Wind muss ich raus, sommers und winters bei Regen und Sturm… Reg dich bloß ab!
Ich regte mich ab, dachte er. Ging aber hin und unterschrieb meinen Antrag. Na warte, das zeig ich dir!
Am Studien- und am Haushaltstag, den damals wir Frauen hatten, lernte ich während des Reinemachens. Die Kinder versprachen zu helfen: Der Junge übernahm die tägliche Staubsaugerei, das Mädel die Waschmaschine.
Dann kamen fünf Durststrecken-Jahre. Wenn er am Abend vorm Fernseher saß, hatte ich Spickzettel neben mir und lernte Vokabeln und Formeln, bis er wie immer schön eingepennt war, mit offenem Munde schnarchte. Vorsichtig Lautstärke gedrosselt, ein Buch rausgeholt, Lehrbriefe studiert. Wenn ich zum Studientag fuhr, nach Dresden einmal im Monat, dann kochte ich vor, bereitete ihm eine schöne Nacht. Sein Murren blieb dadurch in Grenzen. Wenn eine Belegarbeit anstand oder die Prüfungen nahten, stand ich am Morgen um zwei Uhr auf, rechnete, knobelte, lernte noch während der Bahnfahrt. So bin ich Ingenieur geworden und in der Kohle hängen geblieben. Habe über dem Studium mein schönes Thüringen vergessen, wohin ich eigentlich so gern zurückwollte. Mich abgefunden mit den Wohnsilos in der Arbeiter-Stadt, mit den genormten Platten, der stinkigen Luft. Habe dann nach der Wende übrigens lange meinen Job behalten können. Er legte sich mit dem Wessi-Chef an, flog raus schon mit 54. Mich übernahm noch die Laubag, ich konnte bis 62 arbeiten. Dann hat’s mir selber gereicht, die bewaffneten Ellbogen für diese Zeit, die wollte ich nicht.◄
Alle haben schweigend den kurzen Bericht über den so langen Lebensabschnitt der verstorbenen Freundin gehört.
Wir müssten alle unser Leben aufschreiben, sagt Caminchen.
Wenigstens erzählen könnten wir’s uns, auch wenn wir schon manches von’nander wissen, schlägt Božena vor. Und weil sie vor Neugierde brennt auf die Geheimnisse der Frau »Vom Feinsten«, nickt Isolde. Euline schweigt, beugt sich vor, damit niemand in ihren Augen erkennt, dass ihr der Vorschlag gar nicht gefällt. Weshilda starrt blicklos ins Leere.
Gut, abgemacht, freut Božena sich, beim nächsten Treff fangen wir an oder bei unserer Kur, da sitzen wir oft im gemeinsamen Stübchen zusammen. Wer eigentlich teilt mit wem das Zimmer? Weißt du noch, meine Caminel, wir beide einstmals im Internat, ach diese glückliche Zeit möcht ich noch einmal...
Caminchen muss aber mit mir, beeilt sich Euline, nicht wahr, ich brauche doch Hilfe, komm allein dort nicht klar.
Wieso nicht, du wirst doch noch laufen können mit deinem Rolly, empört sich Isolde, und zum Einstieg in Wannen und Schlammpack gibt’s medizinisches Personal.
Pasmotrim, beruhigt Caminchen. Sie ist unsre Älteste, also!
Wenn ich eine Bitte äußern darf? fragt Weshilda. Möglichst erzählen Sie hier, nicht bei der Kur, ich möcht Sie doch kennen lernen. Bin auch bereit, von meinem Leben, obwohl… hab die meisten Jahre am Kochtopf g’standen, um uns was zu schaffen, letztendlich umsonst, weil... Nein, erstmal vielleicht von Kindheit und Jugend. Wie ich g’lebt hab zwischen zwei Ländern und...
Fahr mit, mach eine Kurz-Schnupperkur! empfiehlt Isolde.
⸙
JORINGEL: Da bin sogar ich gespannt auf die West-Hilda und ihre Vita. Ich darf ja bis jetzt noch planlos belauschen, das vertraute Großmutterkränzchen umrauschen. Mit dem Bewerten anderer Hominiden lässt man mir Zeit. Paar Fragen hätte ich zwar zum hiesigen »himmlischen« Chaos – die vorüberschwebenden Schatten und Schemen von Blumen-Kelchen und Bienen-Schwärmen und Menschen-Gestalten und and’ren Tierbildern – sind sie noch Suchende oder schon fertig für ewiges Sein oder Nichtexistenz? Ein Krokodil fällt mir auf, das kommt so oft hier vorbei. Und wo führt es hin, das Ganze, das bunte verwirrende Treiben? Kein Fragen vorläufig, weiter das Dösen genießen und die Meinen betrachten mit ihren Freuden und Ängsten und Rätseln. Da, Božena:
⸙
An der offnen Balkontür der Miniwohnung sitzt Božena, die grauhaarige Seniorin mit dem stämmigen Körperbau. Sie genießt die März-Sonnenstrahlen, ein Moorkissen wärmt ihr das Steißbein, den PC hält sie auf ihren Knien. Über die Straße zum Kindergarten richtet sie ihren Blick. Die Kleinen sind schon hineinbefohlen, ja, das dauert, bis alle Händchen gewaschen, Tischlein gedeckt… Sie sieht vor dem inneren Auge die eigenen Urenkel im fernen Kanada. Wie alt sind die jetzt? Die Jüngste jetzt auch schon schulreif… Sie weint ein bisschen, ruft sich zur Ordnung: Ich sehnsüchtle wieder chaotisch ins Blaue hinein. Will-muss doch schreiben. Noch fünfzig Minuten bis Mittagstisch, oh, es duftet nach Braten. Ranklotz, Božena, mach dich ans Werk! Für den Nachmittag ist Altweiber-Kränzel geplant. Heut bei Isolde, wieder bin ich gespannt auf ihr Liebes-Treiben, obwohl ich’s nicht gutheißen kann. Also, was notier ich jetzt noch vormittags?
Sie blättert in ihren Texten früherer Jahre. Viel eng beschriebene Blätter liegen in einer Mappe.
Von Kind an wollte sie schreiben. Der Lebens-Wettlauf hatte den Wunsch verdrängt – Liebe, Familie, Freunde, Beruf. Aber jetzt in den Abschiedsjahren will sie endlich ein Buch zustande bringen. Fängt das Ersehnte nun endlich an? Der Witz fällt ihr ein, den Isolde neulich erzählte: Die Katholiken sagen − Mit der Zeugung beginnt das Leben. Die Protestanten: Mit der Geburt. − Wenn der Hund tot ist, meint der Rentner. Die Bäuerin: Wenn mein alter Esel im Grab liegt und ich aus dem Küchengefängnis raus bin.
Der Partner, mit dem man die Jahre verbrachte, den man umsorgen musste und immer bekochen, weil mittags im Bauch seine Ess-Uhr rasselte, kreischte und er dann hunger-wütete manchmal... Boženas lieber alter Esel, der... ach: immer nur Arbeit kannte für die Äcker und Ställe, erst Einzelbauer, dann Genossenschafts-Chef, schließlich auf dem Bezirksamt für Landwirtschaft. Ein schaffenswütiger Fleißmensch – wofür sie ihn liebte, auch wenn sie selbst zu kurz dabei kam, manchmal fluchte beim Zwiebeln-Schälen, Kohl-Schnippeln, Schnitzel-Panieren. Aus ihm hatten sie einen Sesselpforzer gemacht, und von Zeit zu Zeit quälte ihn nachts der Albtraum: Seine Pferde hatte er nicht versorgt, die Pferde mussten gefüttert werden, das schreckte ihn oft aus dem Schlaf. Und ich xantippig zu diesem Gefährten. Ein Meckerduett viel zu oft, wegen nichts. Trat sie jetzt ans Waschbecken, kam das Erinnern: Wie hast du hier rumgesaut, der Spiegel von deinem Zahngeputz ist schon wieder verschweint... – Du hast gestern genau so, und überhaupt… hick, hack, weshalb nur? Warum Rechthabe-Sucht, warum?◄
Weil meine Schreiblust niemals gestillt war, seufzt sie. Ach lieber Walter, die Kinder und Enkel sind fern und du liegst schon Jahre unter der Erde. ... Viel hat sie seitdem noch nicht… Ja: Du musst dein Leben ändern! Jetzt im Heim, im »Betreuten Wohnen« wird endlich mehr Zeit sein, hofft sie. Beeile dich Božena, auch du steigst bald zum… Grab? Himmel? Orkus? Oder wirst wieder geboren? Joringels herrlich gesponnene Träume. Ich glaub zwar nicht dran, aber darüber müssten wir wieder mal reden in unserem Altweiber-Club, sonst quatschen sie oftmals bloß Schnick-Schnack. Ich muss vernünftige Themen erzwingen und die Erste bleiben an Oberfreundin Caminels Seite. Jetzt gibt’s noch mehr Konkurrenz, die »Dame« aus Westland mit dieser Angeber-Hündin. Ich werd mal demnächst skizzieren-notieren, wie sie unnahbar-starrblickend durch unsre Straßen stolziert. ... Und aber ich... über mich...
Oh, meine Schreibsucht! Geschichten hab ich schon viele im Kasten. Wie aber kann ich sie spannungs-dramatisch zusammenflechten? Es fällt mir kein Plot ein. Und keine zündende Einstiegs-Idee, effektvoll und Neugier erweckend? So wie man ein Reisigbund aufflammen lässt, dann Holzscheite nach und nach auflegt, die wunderbar brennen, eins mit dem andern und eins nach dem andern und...? Oh, mein Gedächtnis, wo hatt’ ich das denn gelesen? … Ach, witzlos. Von Scheiterhaufen wollen die Heutigen lesen, wo Menschenfleisch brutzelt und Augäpfel platz... brrrr, schaurig-schön?! – Oder ein Krimi? Ja, Krimi ist Weltmacht. Mit blut-bebilderten Rätseln müsst es folglich beginnen, gruselig, grausig, entsetzlich, sonst würde es kaum einer lesen. ... Nein! Es war mir schon eklig genug, dass mein Walter fast jeden Abend die Film-Leichen in unser Wohnzimmer holte. ... Oder sollt ich die 100 vorhandenen Storys bündeln durch einen Blutsauger-Geist aus dem Jenseits? Die Sucht der Leserwelt füttern nach unklärbar mystisch Gespenstischem? Schuldbeladene, böse Seelen erfinden, die als Tollwut erkrankte Flattermaus-Wesen uns alle ins Dunkle ziehn woll’n zu Skeletten und faulendem Fleisch? Pfui Ekel, solch Vampir-Geplämper. … Man könnt in Geschlechts-Innereien wühlen wie diese jungschen Schreib-Hyster-Zicken? Da wird man gleich Super-Bestsellerin. – Nein, nein und abermals nein! Das sind keine Themen für mich, auch wenn Volk sich Gänsehaut wünscht und wohliges Kribbeln auf seinem Penis. ... Sollt ich etwa erzählen, womit sich Altweiber-Körper rumquälen? Die Hosen runter, die jenseits-modernen, ausgebattelten Liebestöter der Großmutter-Garde? Waschlapp-Geschichten, Coli-Bakter-Fantasien und die Angst beschreiben, ob der Darmausgang dicht hält?◄
Božena schüttelt energisch den Kopf. Blättert noch hier und da in den Seiten und spricht mit sich selbst, murmelnd und seufzend. Plötzlich holt sie tief Luft und lächelt begeistert: Ha, die Idee: Heureka – ich hab’s! Ja, Freundin im Jenseits, du hast mir schon oft zu guten Gedanken verholfen. Also umstülpen alles und nochmal von vorn. Und du wirst mir helfen, Joringel.
Nach diesem inneren Freudenschrei schreibt Božena endlich, poltert ab und zu »hohoho«, liest sich laut vor, knurrt grimmig und glücklich. Das werd ich ausbauen zum Rahmen. … So, Punkt! Nun auf zu den leckeren Speisen. Wonach duftet’s? Ja, heute Mittwoch, Ess-Glück-Tag. Hoch! Wo ist meine Krücke? Au, aua, aaach, meine knirschende Hüfte und mein gemästeter Korpus. ... Klage nicht Božena. Unsrer Euli geht’s schlechter. Ob sie Parkinson hat, wie Caminchen vermutet? Auch die Neue, Westhilda, läuft etwas steif und komisch kurzschrittig?
⸎