Читать книгу Großmütter im hinterberlin'schen nach-sozialistischen Land - Gisela Kalina - Страница 9

VERMARXT

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Im Carl-Blechen-Karree. Božena sitzt Kaffee trinkend im »Shopping-Palast« des Stadtzentrums, neben Tasse und einem Cremetörtchen liegen Bücher: Zwei alte Frauen und Die Müdigkeitsgesellschaft.

Sie blättert, bemerkt nichts um sich herum. Weshilda tritt an ihren Tisch: Da schau her, die Frau Božena, Grüß Gott, darf ich mich zu Ihnen setz’n?

Ah, Guten Tag, selbstverständlich. Nehmen Sie Platz!

Anfangs quält das Gespräch sich um Wetter, Kaffee und Straßenbahn-Rhythmus. Auch die Frage, wie sich’s in Cottbus lebt, wird nur mit kurzen Floskeln bedient. Doch dann fängt Božena Feuer und erzählt begeistert, wie sie Seite an Seite mit vielen Einwohnern um das Schulgebäude gekämpft und endlich durch Leserbriefe, Unterschriften und Wortmeldungen vor den Wahlen erreicht hat, dass dieser schön-alte Backsteinbau in den neuen Einkaufskomplex integriert worden ist... Demokratie im Kleinen, die funktioniert vielleicht!? schließt sie.

Woher stammt der Nam’ Carl-Blechen-Karree? erkundigt Weshilda sich.

Ein Sohn unserer Stadt, berühmter Maler, vorvor’ges Jahrhundert, klärt Božena auf. Und dass nirgends in diesem großen Komplex eine einz’ge Erinnerung angebracht ist, das regt mich so auf. Nur Reklame: Klamotten, Kaufrausch, Klimbim. Die Geldgier-Gesellschaft suggeriert falsche Wünsche. Niemand fragt, wer Carl Blechen war, obwohl die Jugend Vorbilder braucht, ob nun von Kunst inspiriert oder von Religion, von mir aus auch Fußball, vom friedlichen Sport − aber das reicht doch nicht aus, wie man sieht.

Westhilda, die eine Weile wie abwesend ins Leere gesehn hat, schaut sich um. Sehr junge Mädchen bummeln vorüber, mit sehr kurzen Röckchen, gewaltigen Schenkeln und Speckringen um den üppigen Nacktbauch. Jungen schlendern mit Flaschen, rülpsen laut provozierend.

Božena schämt sich für ihre Stadt: Darf ich mal fragen, sagt sie, ist es, wo sie herkommen, auch so arg mit der Jugend? Hier hat sich das erst in den letzten Jahren – nach der Wende – entwickelt.

Nein, bei uns im Dörflichen wenig. Ja, in den Städten, da liegt manches im Argen. Aber die Religion − wie Sie schon sagten − die Gottesfurcht in den Elternhäusern überträgt sich auch auf die Kinder. ... Sind Sie sehr gläubig?

Božena schweigt verblüfft, und Weshilda, die aus der Zeitung weiß, wie viele Ostdeutsche in den sozialistischen Jahren zu Atheisten verkommen sind, präzisiert ihre Frage: Sie glauben doch an ein höheres Wesen?!

Božena wiegt ihren rundlichen Kopf hin und her, verzieht belustigt die Lippen. Dann spuckt sie es aus: Einen guten Kommunisten hat Gott noch nie verlassen!

Jetzt guckt Weshilda verblüfft, fast erschrocken: Kommunisten!? sagt sie. Aber der Kommunismus ist doch… vollkommen unnatürlich!

Unnatürlich? fragt Božena fassungslos.

Dass alle gleich sind, das passt nicht zum Menschen, bekräftigt Weshilda. Und... aber leider muss ich nun heimwärts. Mein Darling, die Hündin wartet. Bhüatsi!◄

Ach nein: Sie sagen’s ja anders: Auf Wiederschaun!

Božena nickt und schweigt verärgert. Sie bestellt sich noch einen Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirsch. Denkt nach, wie sie antworten muss: Was ist natürlich? Ja, der Wolf frisst den Hasen und alle Fleischfresser... schlussfolgernd daraus wäre das Raubtier-Verhalten auch für Homo sapiens – also menschen-natürlich?! So weit wird sie dieser West-Hilda folgen, scheinbar folgen, wenn noch mal diskutiert wird, diskutiert werden muss. Krieg ist eine »menschen-natürliche Sache«, wird sie das Argument der Westphahl fortsetzen. Und Milliardäre, die ihren Kötern brillantene Halsbänder kaufen und andrerseits Mütter, die mit ihren Kindern zusammen verhungern − das soll von Natur gegeben sein!? – Nur bis dahin, kühl und ohne Aufregung muss sie die Fragen stellen. Und die Freundinnen, die ja ein anderes Gesetz in sich tragen − sie müssen mit diskutieren. Leider diesmal kommt’s als Thema doch nicht in Frage, sie wollen ja Isoldes letzte Amouren bequasseln und die Neue ausforschen.

Knurrend steht Božena auf, greift die Gehhilfe und stockert zum Bus, halblaut vor sich hin protestierend: Unnatürlich der Kommunismus? Unglaublich. Empörend!

Caminchen, wie immer mit kleinem Rucksack auf ihrem schmal-graden Rücken und Weshilda, groß und üppig gewachsen, mit breitrandigem Hut auf dem Kopf, streben zum Achtgeschosser, zu Eulines Behausung. Unterwegs bei der Sternenbäck-GmbH, Rest eines großen Back-Kombinats der DDR-Zeit, kaufen sie etwas Kuchen, denn, sagt Caminchen, Euline fällt es schon schwer, sie hat sicher nicht allzu viel da und Božena mit ihrer Gefrä... mit ihrem Groß-Appetit nörgelt sonst leicht.

Ein paar mal hat hier unser Kaffeeklatsch-Treffen getagt, erklärt sie, aber da störte uns... hmm... das Kassen-Klappern und Kunden-Verlangen und das Bitte! und Danke! und Schön’ Tag! noch Nachbrüllen... Kinder quaken und manchmal ist’s laut wie im Hühner... hm Entenstall. Aber vor allem das Publikum hat uns genervt, zu viele Ohren.

Wie? wundert sich Hilda.

Zwar Božena findet das lustig, sie wollte die »Seele« des... hm, neu-ostdeutschen Volkes studieren. Arbeitslose und einsame Alte hocken da rum, tja... besonders an warmen Tagen, da stell’n sie Stühle und Tische nach draußen, wenn Klärchen hier in die Ecke scheint, so schön geschützt vor dem Wind. Verkrümmte Männer und... da am Ecktisch die jungen Frauen, die ihre Krabbelkinder dreckige Krümel aufessen lassen, um die Wette mit Spatzen und Käfergetier. Jetzt bei der Wärme, zeigen sie Nacktfleisch, ich muss mal Isolde zitieren: Pech, dass die Sonne ihr Fett nicht abschmilzt. Gemein! … Tätowiert sind sie und... na lassen wir das. Ist mir peinlich, wie unser Volk so... hmm, verloddert: Da auch die Trinker, bewaffnet mit Flaschen. Ich kann’s zwar verstehn, denn wer in der Platte wohnt, der kuschelt sich hier in die Sonnenstrahlen. Jedenfalls konnten wir nichts Intimes besprechen, es ist zu sehr Volks-Tummelplatz, und so muss auch Euli uns turnusmäßig bewirten, obwohl’s ihr schwerfällt. Gleich sind wir da.

Wart mal, Caminchen, ich hab noch paar Fragen am Herzen. Ich will Klarheit, mit wem ich’s zu tun hab: Božena hat sich als Kommunistin bezeichnet, war’s ein Scherz oder ist es die Wahrheit? Und zweitens: Habt ihr, hast du sie gesehn, deine Akte bei dieser Spitzel-Behörde?

Ach jey, nein, wir sind kleine Lichter gewesen. Hm, Božena ja, obwohl sie nicht in der Partei war, Kommunistin, so sagt sie von sich, aber mit Nachdruck erst nach der Wende, vorher hat sie besonders kritisch gesprochen.

Dann könnt sie sehr wohl vom Stasi g’wesen sein, hat euch woll’n provozieren, etwas Verbot’nes herauszusagn?!

Nein, niemals! Ich kenn sie von Kind an, wir sprechen vollkommen offen. Sie redet verquer, aber immer gradraus.

Aber sie hat doch in Moskau studiert?!

Zusammen mit mir. Gemeinsam war’n wir als Kinder in Wiesenburg auf der Spezialschule für die russische Sprache. Gemeinsam in Moskau ein Studium begonnen, bis...

Und wer war beim Stasi? Unter fünf Frauen, die alle im Berufsleben g’standen sind, muss ein Spitzl g’wesen sein?!

Caminchen verdutzt: Ja, nach der Wende da stand’s in der Zeitung, andauernd... aber in Wirklichkeit kenne ich keinen.

Unsicher bin ich ein bissel, zweifelt Weshilda kurz vor der Wohnungstür, ob ich willkommen bin, ob sie über mich reden, dass ich mich reindrängeln tu und...

Hm... aber wieso denn? Das lass meine Sorge sein. Komm!

Im Wohnzimmer ist der Tisch mit künstlichen Blumen geschmückt, mit billig geblümten Tassen aus chinesischer Produktion in schillernd changierenden Farben, einst in Eulines Kaufhalle glücklich erstanden und von Božena heimlich als »kitschig« bewertet. Auch Eulis Puppen finden bei ihr keine Gnade, auf der oberen Kante des Sofas sitzen annähernd zwanzig gesammelte Exemplare: in Spreewälder und in anderen Trachten. Auch Stoffbälge mit glubschrunden Augen, Andenken früherer Reisen. Enkel-Ersatz, weiß Božena, verkneift sich deshalb den Spott, wirft einen Blick auf ein Foto mit schwarzem Florband, darauf Eulines Tochter, umarmt von ihrem zweiten Mann Dieter.

Caminchen geht in die fensterlose, neun Quadratmeter kleine Küche, die von Weshilda bestaunt wird. Durch eine Regalwand, halb gläsern, ist sie vom Wohnzimmer abgetrennt. Sie packt den gekauften Kuchen aus und stellt ihn auf die »Durchreiche«, unter die mit Nippes bestellten Glasscheiben.

Das haben fast alle Wohnungen in DDR-Bauten, erläutert sie für Weshilda. Oh, Euli, ich staune, was hast du da Leck’res versteckt?

Och, sei still, das soll Überraschung sein, flüstert Euline.

Isolde ist noch nicht da? Ah, es klingelt, da stürmt sie rein.

Hallo, liebe Leute, was mir passiert ist, ihr glaubt’s nicht! sprudelt sie raus. Ich komme vom Walking, war auch durch Büsche gekrochen nach wildem Thymian, Schnittlauch und so, schüttle danach die Klamotten gleich aus dem Fenster, damit nicht die Wohnung voll Gräser. Irgendwas ist dabei runtergeflattert, hab’s nicht verfolgt, weil ich abgelenkt war, zwei Frauen stritten sich lautstark da unten. Ach, dacht ich, guckste nachher. Unter die Dusche, da klingelt’s. Ich in den Bademantel und an die Tür, da steht ein Nachbar und bringt mir – hehehe hee– mein’n Schlüpfer.

Isolde, du bist ja wirklich sehr… hmm... extravagant!

Als ob du Männer anlocken wolltest, nicht wahr!

Seid bloß nicht zimperlich, ihr wart doch alle am Nackt-Badestrand in unsern früheren Zeiten, außer vielleicht Euline.

Sehr oft sind wir mit Dieter nach Prerow gefahren, sagt die beleidigt. Aber Caminele nicht, weil ihr Russki-Mann Ilja...

Ach, regt euch mal ab, es war nur mein Liebestöter.

Aber trotzdem Isolde, du bist unmöglich, nicht wahr!

Und der Mann, der dir deine Buchse gebracht hat, dem war das wohl gar nicht peinlich? fragt Božena höhnisch.

So isses, der ist nicht so pinglig, ist einer von den Normalsten im Haus, ihr ahnt nicht, wie manche jetzt sind seit der Wende. Das müsste man glatt mal aufschreiben, wie sie verblöden, doch wartet mal: Hatte nicht dieser, dein Zeitzeuge, Božena, im vor’gen Jahr in der Bibliothek ein Satirchen gelesen vom Affen-Werden und so?

Ja, solche Hochhaus-Storys hat mein Plotzek verfasst, ja, über Aff-werdung des Menschen, ich kann ihn fragen. ... Tja, die nicht gen Westen Gewanderten, brubbelt Božena – sie stibitzt sich ein Schlagsahne-Kleckschen und sagt provozierend – die sitzen im Mumienland hier und verblöden. Aber die drüben gelandet sind, da rennen auch manche in Sackgassen rein. Fünf Mädchen aus meinen letzten Abi-Jahrgängen leben z.B. in München. Um die vierzig sind sie inzwischen, Angestellte bei Versich’rung, Bank, Immobilien. Als Single glücklich, erzähl’n mir die Eltern, verheiratet mit ihrer Arbeit sind sie, manche verplempert sich als »Geliebte« ihres Chefs aus dem »Oberen Mittelstand«. Kotz!

Ja, bestätigt Caminchen traurig, meine Enkelin in Cuxhafen macht auch so’n Quatsch, leider... …

Als die Freundinnen später am Kaffeetisch sitzen und sich zuerst den gekauften Kuchen reinlöffeln – da erzählt Euline von einem Nachbarn: Weil wir letztens das Thema Männer... hab’ ich auch eine Neuigkeit, äh äh... bei mir schräg gegenüber – dort der Balkon auf meiner Höhe – da lebt jetzt ein, äh... älterer Mann, ein verrückter. Der Balkon ist voll mit Kartons und obwohl er schon vier Wochen dort wohnt, mit dem Auspacken hat er’s nicht eilig. Ich bin fasziniert, wie der humpelt und trotzdem noch viel unterwegs ist, äh... Fährt oft mit dem Fahrrad, einen silbrigen Kasten am Gepäckträger aufgeschnallt, so wie ein tragbarer Computer sah’s aus, … äh... ach so, Laptop heißen die Dinger, ach ja... ’Ne Ewigkeit bis der das festgezurrt hat, und dann steht er minutenlang, wie ein Maikäfer, der pumpt, bevor er abfliegt, schließlich hebt er ein, äh... sein langes Bein rüber, fährt los, langsam, aber – man glaubt’s kaum – hält dabei noch ’ne Zig’rette im Mund und ein altmod’scher Krückstock hängt am Lenker und neulich hat er sogar noch eine, äh... eine schwarze Klappe über dem einen Auge...

Die anderen hören kaum zu, aber Božena sagt mit vollem Mund: Was sagst du? Augenklappe und langer, klappriger Kerl, der noch Fahrrad fährt?! … Hört sich an wie Plotzek, mein Zeitzeugen-Hobby-Kollege, der mit den Plauschi-Geschichten. Nee, aber der kann das nicht sein, wohnt im Spreewald

Isolde, neugierig: Der? Hehe, wenn der’s wäre? … Also was gibt’s nun als Überraschung?

Oh Frankfurter Kranz! Hast du den selber gebastelt, Euline?

Ja, nein... eine Nachbarin, die oftmals, äh... mit mir. …

Aus dem Rucksack Caminchens dudelt ein Handy. Die springt auf, verharrt einen Moment, weil ihr schwindlig ist, dann tritt sie auf Eulis Balkon. Nach 10 Minuten kommt sie zurück und berichtet:

Mein Urenkel-Mädel in Rosenheim. Fast jeden Tag ruft sie mich an, weint manchmal ein bisschen und all ihre Kümmernisse klagt sie ins Telefon... mir... hmm... ins Herz. Aus dem kind-pubertätlichen Gleichgewicht ist sie, weil ihre Eltern... der Vater fand Arbeit in Bonn und nach einer Weile hatte er dort eine andre. Die Mutti kriegte dann eine halbe Stelle in Dresden, holte das Kind von mir weg und seitdem bin ich nur noch tröstendes Ohr. Der Vati fehlt ihr so sehr. Und in der Schule: Dauernd war Zoff mit den Mitschülerinnen; Kleinzicken-Cliquenkrieg: Die trägt ein rosa T-shirt, oder: Ihre Hosen sind zu weit oder zu eng, usw. Aber jetzt, unten in Rosenheim, wo Mutti und Kind nun gelandet sind, kommen noch andre Probleme dazu: Das Mädel ist ziemlich stämmig gebaut, und damit die andern nicht mosern, sie sei dick und verfressen, isst sie die Frühstückstulle heimlich in einer Kabine im Klo. Und man mockiert sich wegen des sächsischen Dialekts – und Freundinnen find’t sie gleich gar nicht, weil sie den katholischen Kirchentamtam nicht mitmacht, denn sie ist ja als Atheistin erzogen. Ihre Mutter, mein Ehrgeizling-Enkelkind, wenn die spät abends heimkommt, manchmal auch nachts, sitzt das Kind vor der Glotze und friert. Hmm... die Klagemauer kann ich nur sein. Zum Überfluss wohnen sie in einer Gegend mit kahl-nackten Straßen, fast ohne Baum, ohne Strauch, und sie liebte so sehr meinen Garten. Jetzt wo alles blüht, kann ich mich gar nicht recht freun, hmm... Auch in Dresden konnt sie noch stromern über die großen Höfe zwischen den sozialistischen Platten, aber jetzt: Wie kann ich helfen?◄

Hach, die leckere Torte! wirft Isolde leise zwischen die ratlosen Seufzer der Großmutter-Runde.

Ich kann oft kaum schlafen, klagt Caminchen weiter. Immer muss ich an meine Nachkommen denken, die in vielfachen Nöten stecken. Gestern rief mich Enkelin Gesa an. Architektur hat sie studiert, fand noch keinen Job, lebt davon, Hunde zu malen nach Fotos, die man ihr übers Internet schickt. Sie war sehr talentiert, weil’s aber Architekten gibt wie Sand am Meer...

Ja, brubbelt Božena, Planlosigkeit. Der Markt nennt es Freiheit, aber in Wirklichkeit – das ist gewollt, ist System!

Was könnt ma’ tun? fragt nur Weshilda. Auch ich hab ein’ ähnlichen Fall, mein Enkel in Celle...

Božena sieht sie aufmerksam an, möchte mehr hören. Aber Isolde winkt ab: Nichts kann man tun. Wir hatten mal Demokratie probiert, in kleinerer Dimension, sind wochenlang auf die Straße gegangen mit einem Plakat gegen die Rodung der Bäume am Ufer der Spree. Ergebnis: Ein kurzes Gespräch mit dem Bürgermeister und ein Mini-Artikel in einem Mikro-Eckchen der Zeitung – aber geändert hat sich rein gar nichts, die Sauerei ging munter weiter.

Der Anblick der Torte verhindert weitere Klagen, sie verteilen endlich und schmausen mit Wonne. …

Guckt mal, freut sich Euline. Jetzt steckt mein neuer Nachbar den Kopf raus... kommt, nein, geht wieder rein.

Alle bemühen sich zur Balkontür, Isolde voran, aber das Objekt der Neugier zeigt sich nicht mehr.

Ein angenehmer Mann ist der Neue, erklärt Euline. Das Gegenteil von dem vorher, der hatte ’nen Köter, äh... den sperrte der auf den Balkon raus, immer wenn ich mein Mittagsschläfchen bei offenem Fenster, äh… dann jaulte das Vieh und ich kam nicht zur Ruhe. Ich hab ihn drauf angesprochen, aber er ließ seinen Hund weiter kläffen. Da habe ich mich versündigt, den Alten oftmals zum Teufel ... und... äh... meine bösen Wünsche... er ist gestorben.◄

Sie seufzt und betupft ihre Augen: Äh... meine Erbsünde... Nun hab ich ein schlechtes Gewissen.

Ja, mein Kollege Plotzek ist ein passabler Mann, trumpft Božena auf. Auch wenn er am Stock geht wie ich.

Erkunde mal, ob er’s ist! fordert Isolde. Wär int’ressant.

Božena stampft mit dem Stock auf. So, heimwärts. Wann sehn wir uns? … Kränzchen? Bei Lebbi? Wsjo jasno, in Ordnung.

JORINGEL: Noch immer schwebender Zustand. Bin ich wirklich oder dremmle im halbtoten Dschumm nur? Egal. Die alte Neugier hält mich bei meinen vertrauten Urmutter-Wesen. Was hatten sie grad noch palavert von diesem Plotzek und von »Volk« im Plattenwohnhaus? Ah, über die Story aus seiner Serie »Mein Freund Plauschi und ich« die klick ich mir raus:

Anteil der Nicht-Arbeit an der Affwerdung des Menschen.

In unsrer »Platte«, sage ich zu meinem Freund Plauschi, als ich ihn wieder beim Einkauf treffe, in unserer Platte ist es ziemlich triste geworden. Früher wusste man über jeden einzelnen aus dem Eingang, wie wo was er arbeitet, wohin er in Urlaub fährt, welches Hobby er treibt usw. Wir kannten uns alle unter’nander und dies und das wurde ganz offen miteinander beplaudert. Jetzt hat sich das alles gewendet-gewandelt. Ich bin nur noch im Bilde über die WandanWand-Nachbarn. Weil man eben sinnlos rumlungert, lauscht man und gafft man den öden Tag lang in der Gegend umher. Frau Müller ist Putzteufel und ihr Mann flüchtet nach draußen mit Hund, Frau Meier ist schlampig und ihr Mann brüllt öfters, dass er auf der Müllhalde lebt, Herr Schmidt kann nie genug Sex kriegen, man hört sie oft jammern: Heute nich, kriegst Stück Schok’lade....

Sagge mal, unterbricht Plauschi mich grinsend: Hast du ’nen eignen Horch und Guck?

Ich schäm mich ja, dass ich ein Klatsch-Wasch-Weib bin, nee, aber ich wollte was Ernstes erzählen. Das Klima in unserm Haus hat sich gründlich verändert. Die Arbeit haben hüllen sich in Datenschutz sichere Schweige-Mäntel, sie gehen bei Nacht und kommen bei Dunkel, müssen ja auch unser Essen erschuften. Die Abgewickelten verstecken sich mehrstenteils hinter zugeknöpften Gesichtern. In der Jugend studierten wir bei Marxengels: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Jetzt lehrt die Marktwirtschaft: Anteil der Nicht-Arbeit an der Aff-Werdung des Menschen.

Hä? Aff-Werdung? Übrigens Engels, Friedrich.

Weeß ik doch, ey. Also ich meine die Aff-Werdung normaler Leute. Beispiel: Einer bei uns im Haus, der is’ Doktor Ing., bloß das nützt ihm nichts mehr, außer dass es an seiner Wohnungstür prankt. Das Schild, vergoldet, hat ihm seine Frau seinerzeit als Geschenk zum 40. aus dem Westen kommen lassen. Nach der Wende wollten sie bauen, sie schenkte ihm zum 50. schon die Mülltonne mit der riesigen Aufschrift DR. SCHULZE. Dann brach sein Betrieb weg; er humpelte eine Weile so rum, wurde grau und geduckt, wie ein geprügelter Gorilla. Einmal traf ich ihn in der Straßenbahn als Kontrolleur und er erzählte, dass er mehrere Mini-Jobs tätigt, nicht wegen Geld, sondern um unter Leute zu kommen. Befragungen, Reklame austragen und so. Aber seine »Frau Dr. Schulze« nörgelte, bis er nun ihren Spuren folgt. Die verbringt ihre Tage damit, auf jeder Hochzeit zu tanzen, wo’s was gratis gibt. Wo sie ’ne kostenlose Untertasse oder ’n Strumpfband oder ’n Zahnstocher bekommen kann, taucht sie auf mit ihm im Schlepptau. Von Vernissagen und Jubiläen hamstern sie irre Trophäen: Osterhasen, Faschingsnasen, Balkonkasten-Rasen... Bei jeder Verkostung, wo man umsonst an ’nem Kaffee schnuppern darf, fressen die sich durch: Machen sich zum Affen.

Dein geprügelter Gorilla tut mir leid, sagt Plauschi. Aber wart mal... das ist für mich diiie Gelegenheit: Ich hab nämlich von meinen Kaffeefahrten auch diverse Kleinigkeiten, die könnte man denen doch vermachen: Klositzhüllen, Pipidillen, Bloblodollen… Da wär ick dir dankbar, wenn wir alles an’ Mann bringen täten, an Doktor Ing. und Frau Doktorin Gattin. Kostenlos!

Sagge mal? frage ich meinen Freund Plauschi. Du hast dir die gleiche Affen-Art erwählt wie diese Dame?

Nee, grinst er, wir bräuchten halt Platz für wat Neuet.◄

Caminchens offene Veranda. Lesbikchen kommt später, verkündet Euline. Sie hat Ren-dez-vo-us.

Deinen »Wissensdurst« musst du beherrschen, wenn sie da ist, mahnt Caminchen die neugierende Božena. Sie wird schon berichten. Worüber woll’n wir inzwischen palavern?

Über unsre verflossnen, äh... ddr-lichen Zeiten. Hilda hat ein ganz falsches Bild über uns, nicht wahr?

Die nickt kurz, schüttelt den Kopf, sagt: Alle gleich wart ihr oder solltet ihr sein? Das ist doch unmöglich und wenn, dann ganz furchtbar. Wenn alle Männer die gleich gelben Hüt’ tragen müssen und Frauen ein graues Dirndl. Das habens doch angestrebt eure Gleichmacher-Kommunisten?!

Nein, ach, im individuellen Bereich war... hmm...

Lies mal bei Marx, knurrt Božena. Halblaut nur, denn eigentlich weiß sie nicht mehr, wo man das findet, bei Marx oder Engels, Lenin? ...Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen... Du hast falsche Bilder, belehrt sie stattdessen. Die Gleichheit für alle, das war prinzipiell gemeint, für die Lebensgrundlagen. Vorteile oder jetzt heißt’s »Privilegien«, die waren begrenzt, wenn man’s mit heute vergleicht. Bergleute, die unter Tage, glaub ich, kriegten eher ein Auto, standen nicht auf Wartelisten der Normalbürger.

Aber die Oberen, widerspricht Euline, für die wurden Extrawürste gebraten, nicht wahr, die hatten Armaturen aus Edelstahl, wir mussten uns mit Plastik-Hähnen rum-ärgern.

Aber... hmm, Gutes gab’s auch, erinnert Caminchen in ihrer bedächtigen Art. Jedem Volksmenschen sollte preiswerter Wohnraum zugeteilt werden, nullacht-fuffzen zwar, alle fast gleich. Wohnsilo, Käfighaus spotteten wir. Andrerseits: Niemand war obdachlos und... das war fast geschafft, aber da... Sie bricht ab, gähnt. Entschuldigt, bin furchtbar müde.

Und dort hinein kaufte sich jeder, nicht wahr, eine fast gleiche Schrankwand, den Fernseher auch... oder...

Jajaja, erregt Božena sich. Identische Grünpflanzen hatten wir alle, pflegeleichte, sonst gingen sie ein bei unserm berufstät’gen Leben. Monstera, Gummibaum, Cyperngras. Jammert nicht!

Es klingelt und kurz darauf sitzt Isolde – etwas atemlos – mit am Tisch und verkündet: Ich muss was erzählen, aber erstmal ... aaah danke, ’n Kaffee.

Sie trägt ein hellgrau-silbernes Kleid, vorn eine echte, leicht entblätterte Rose in ihrer neuen Haarfarbe: weinrot.

Also, ich wollte zum Rendezvous, bin total aus der Puste, konnt mich auch nicht mehr umziehn, auf meinem Balkon hat’s nämlich gebrannt. Ja genau, und zwar durch den oberbeknackten Kerl über mir in der Platte. Schon paarmal haben wir uns beschwert, aber der Vollidiot schmeißt weiter alles Mögliche runter. Mülltüten segeln, Rester aus Bierflaschen tröppeln, Zig’retten-kippen, noch glimmend, wirft er abwärts, und wenn der Wind richtig steht, dann wedelt’s den Scheiß zu uns untendrunter und diesmal hat’s mich. Ich hatte Knüllpapier rausgestellt, wollt es später nach unten. Auf einmal seh ich Flammen hochschießen. Da musste ich löschen und dann: Zu dem hoch, hab paar deftige Takte gebrüllt, hö, das wär nichts für eure empfindsamen Ohren. So ist das in unsern Platten. Tja, Hilda, wir leben mitten im dämlichen Volk.

Mach mal ’n Punkt, mahnt kopfschüttelnd Božena, wir sind selbst Volk und viele Vernünftige wohnen dort.

Die andern wenden sich wieder zu Hilda, berichten: Wenn kein Bäcker ums Eck war, aßen wir gleich oder ähnliches Brot, drei Sorten gabs vom Konsumkombinat oder vier? Gleiches Schreibpapier kauften wir, Klopapier, Butterbrots...

Genau so isses, spottet Isolde. Klopapier war ohne Blümchen, dagegen jetzt die Vielfalt zum Popo-Abwischen: Herzchen und Schmetterlingstänze und … und …und.

Ja, nicht wahr?! Da haben wir in der Wendezeit mächtig gestaunt, äh... über die tolle Auswahl im westdeutschen Handel. Ein Bekannter ließ sich im Baumarkt mit, äh... mit den zwanzig Klodeckel-Sorten fotografieren, die dort ausgestellt waren.

Jaajaajaa, zugegeben! spottet Božena. Sie greift die Kaffeekanne und sarkaspert lautstark: Es war tatsächlich ein schmerzlicher Mangel, dass alle 17 Millionen Einwohner der DDR auf gleichen Klobrillen ka... chch... sitzen sollten. Nicht ein bisschen bunte Vielfalt am Hintern! Sooo ein Eeelend! Wer will noch Kaffee?

Ach, Božena, hör auf, du willst schon wieder die negativen Seiten unsrer, äh... Mager-Wirtschaft verleugnen, nicht wahr. Es kam doch vor, dass im Hochhaus vor der gleich aussehenden Tür mit dem fast gleichen Schlüssel, weil der, äh... in der falschen Etage...

Jetzt muss ich etwas erzählen, freut sich Isolde. Passt auf:

Alle gleich. – Ich hab auch mal was Irres erlebt, im Urlaub mit gleichen Bungalows und einheitlich minimal’n Möbeln. Das war ganz am Anfang, als man die ersten Ferienplätze gekriegt hat von der Gewerkschaft. Um 19nert 60 war’s gewesen, an einem See in Mecklenburg hatte ich einen ergattert, und mit einer Kollegin bewohnten wir eine von ungefähr zwanzig Hütten, damals noch Holz, später bauten sie so was aus irgendso Platten, weil Holz, ja das wurde wohl in die BRD exportiert. Jedenfalls alle Häusel war’n gleich von außen und auch von innen. Zwei Betten drin, Tisch, Stühle, Schrank. Besen und so vier, fünf Ausstattungsdinge, unter anderm zwei Zinkeimer. Das Essen gab’s zentral in einer größ’ren Baracke am südlichen Ende der Siedlung, die Toiletten am nördlichen, bisschen abseits. Das war für uns ziemlich weit, und nachts benutzten wir die Eimer für klein’re Geschäfte. … An einem Abend hatten sie ein Fest veranstaltet, mit Musik und Tanz, und Bier gab’s und Bratwurst. Wunderschön war das, so unter freiem Himmel zu tanzen, hach, wir genossen es. Aber irgendwann verspürte ich ein biologisches Bedürfnis, natürlich ging ich nicht sofort, kniff zusammen, tanzte weiter, bis die Kollegin, mit der ich den Ferienplatz vom Betrieb bekommen hatte, mich beiseite nahm: Kommste mit, flüsterte sie, ich muss mal pullern? – Ja, gab ich zur Antwort, noch ein Tanz.

Und dann rannten wir außen rum um das Camp, weil das schneller ging, dachten wir, aber da war ein Kartoffelacker und die Bauern hatten ’ne Strippe gespannt, damit ihnen niemand das Feld zertrampelt, und über die sind wir in der Finsternis mit Karacho gestolpert, ich flog sogar hin, und dabei ist natürlich schon ein Tröpfchen in die Hose... und weil wir so lachen mussten, gleich noch... hehe... na das will ich nicht ausmal’n. Jedenfalls war’s jetzt höchste Zeit, zur Toilette hätten wir’s nicht geschafft, also stürzten wir in den Bungalow, rissen im Dunkeln die Schlüpfer runter und rauf auf die Zinkeimer, dass es laut trullerte. Da ging plötzlich das Licht an und eine Männerstimme fragte empört: Was’n hier los?! – Wir waren im Nachbar-Bungalow auf den gleichen Zinkeimern gelandet. O, Gott, war das peinlich... .◄

Ja, dagegen, unterbricht Euline, später war’s, äh... Luxus, nicht wahr, wir nannten es Urlauber-Intensivhaltung, wenn wir in drei Schichten eingeteilt waren zum Essen, dann raus an den Strand oder äh... Mittagsschlaf in den Betten, die im ganzen Kurort verstreut waren, oder wenn man Glück hatte, einmal Dieter mit mir im neuen Gewerkschafts-Heim, na... das war schön, nicht wahr!?

Ja genau, absolut. Aber gleich, gleich, sogar die Zinkeimer gleich, das war eben doch noch nicht Paradies.

Hilda schaut zu Isolde und fragt: Ihr wart alle gleich arm?

Hm... jey... arm auf hohem Niveau, bestätigt Caminchen.

Reich auf niedrigem Pegel! verbessert Božena scharf. Dazu eine Story zum Thema Vielfalt, Spass und Klopapier:

Denkaufgabe: Sachverhalt: Familie N. aus Ostberlin hat fünf Kinder. Für die ersten vier, in DDR-Zeiten, also unter den Bedingungen der sozialistischen Planwirtschaft geboren und aufgewachsen, kauften die Eltern einen Kombi-Kinderwagen. Kurz nach der Wende warfen sie ihn weg; er war zwar noch heil, sah aber ziemlich zerrunkst und unmodern aus.

Das jüngste Kind, ein später Nachkömmling, wurde bald danach geboren und wuchs in der Bundesrepublik Deutschland, also in der Marktwirtschaft auf. Für ihn kauften die Eltern vier Kinderwagen: Weil sie die wunderbare Vielfalt der westlichen Warenwelt noch nicht kannten, erstanden sie zuerst einen preiswerten, hübsch geblümten Babywagen, der aber bald zu klein war. Ein größerer wurde angeschafft. Drittens ein Sportwagen und viertens ein klappbarer Leichtwagen zum Mitnehmen im Auto. Ich fasse zusammen: Ein Wagen für vier Kinder, vier Wagen für ein Kind.

Frage: Welches Wirtschafts- bzw. Gesellschaftssystem ist dem anderen um wie viel Prozent überlegen?◄

Kopfschütteln, Schmunzeln, Lachen. Isolde kritisiert die hochgestoch’nen Wortbomben aus der alten Zeit: Ge-sell-schafts-system! Phhf!

Nur Hilda schüttelt den Kopf. Das sind andre Probleme. Aber was mich auch interessiert: Wie ist man um’gangen mit denen, die anders g’dacht hab’n, die sich der Gleichmacher-Ordnung nicht angepasst haben? Sie war’n doch nicht »gleich«berechtigt, sondern hatten Nachteile g’habt? So was hat man bei uns in den Zeitungen oftmals gelesen, das kann doch nicht alles erdacht g’wesen sein. Und noch eine Frage an Božena: Wie hat sie... wie hast du persönlich... in der Buchhandlung hab ich eine Broschur liegen sehn LügVaterland war der Titel und »Erziehung in der DDR«. Hast du mit Lügen die Kinder erzogen?

Nuu? Direkte Lügen, kann man’s nicht nennen, springt Isolde für Božena ein. Im Weglassen hab’n sie die Wahrheit vermauschelt, ich erzähl mal ’nen passenden Witz zu dem Thema, den von Kennedy und... ja genau, der passt! Also: Chruschtschow zu Besuch in den USA. Unter anderm auch Sportwettkampf zwischen den beiden Staatschefs, natürlich gewinnt der jüngere schlanke US-Präsident. Und danach steht in unserer Zeitung ND: USA-Besuch, dedede, Wettkämpfe dedede... schließlich: Chruschtschow belegte einen hervorragenden zweiten Platz, Kennedy wurde nur Vorletzter.

Die Lügen der Westpolitik sind doch viel krasser, faucht Božena ziemlich verärgert und höhnt: Ich glaube an die Unantastbarkeit und Würde jedes einzelnen Menschen. In Wahrheit meinen sie: Ich glaube an die Käuflichkeit des blöden Volkes!

Großmütter im hinterberlin'schen nach-sozialistischen Land

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