Читать книгу Großmütter im hinterberlin'schen nach-sozialistischen Land - Gisela Kalina - Страница 6
GLUCKENGLÜCK
ОглавлениеKränzchen drei Wochen später. Die Seniorinnen treffen sich heute im Hause Caminchens.
Ich beneide dich, dass du die Hellerau-Möbel noch hast aus unsern sozialistischen Zeiten, sagt Isolde. Ich hab meine zum Sperrmüll...
Wo bleibt denn unsre Euline? unterbricht Božena.
In diesem Moment klingelt es. Vom Fenster aus sind zwei Mädchen zu sehen, die Erwartete zwischen sich eingehakt. Isolde springt auf, eilt zur Gartenpforte, Božena folgt ihr. Was ist passiert?
Ich… huhu… bin üü... überfallen, schluchzt Euline. Am heller… lichten Tage… überfallen worden.
Sie ist gestürzt. Hier ist ihr Stock, erklärt eines der sehr jungen Mädchen, offensichtlich Schülerinnen, die sich dann eilig davonmachen.
Um Gottes Willen, überfallen? Am hellerlichten Tage!? Bist du verletzt? Komm erst mal rein! … Wer hat dich denn… und wieso bist du wieder ohne den Rolli? bestürmt Božena das kleine gekrümmte Frauchen. Die anderen geben ihr stumme Zeichen, dass sie ihre Neugier bezähmen soll.
Nun bricht es aus Euline heraus. Sie heult inbrünstig, laut und mit Text: Ich huhuu... habe denen doch gar nichts... geta-han, nicht wahr... ganz junge Männer... nein Kihi-inder noch... Jugendli... und mich beschi-himpft...
Sie säubern die schluchzende Freundin, setzen sie auf einen Sessel. Božena zückt ein Bleistift-Stummelchen aus ihrer Hosentasche und ein Mini-Notizheft: Das müssen wir melden, mindestens in der Schule. Euline, erzähle!
Aber die zittert, schnappt nach Luft, bringt keinen Ton raus.
Ach, Herzl Euline, ganz ruhig, tröstet Caminchen und streichelt ganz sanft die Wange der Freundin. Da, trink, hier ein Wasser. Ich bin auch schon... hm... überfallen worden. Soll ich erzählen? Wirklich, Euline? … Nachdem mein Ilja gestorben war. Die erste Zeit bin ich oftmals zum Friedhof gepilgert. Und einmal wurd ich verfolgt und...:
Überfallen. Ich dachte, ich hätt ihn erschlagen, ganz sicher bin ich bis heut nicht. Das war in den Jahren kurz nach der Wende, ich stand noch voll im beruflichen Leben. Manchmal taucht der Tote vor meinem inneren Auge auf: Mit Blut an der Schläfe liegt er bleich und reglos zwischen den Gräbern... Hm, also: Am Abend kam ich vom Grab meines Mannes, schlenderte durch die Trauerbeet-Reihen, ging träumend den Hauptweg entlang. Plötzlich wird mir so anders, ich merke, dass mir einer nachkommt. Ach, denk ich, nimmst mal den Seitenweg da, damit du ihn loswirst. Aber horch nur, der folgt mir. Ich beschleunige meine Schritte, er auch. Angst packt mich, denn es dämmert bereits. Er kommt immer dichter heran… hmm... irgendwann packt er mich an der Schulter. Ich – drehe mich um und haue ein Eisenbündel an seinen Kopf, meine stählerne Waffe.
Damals – mein Alltag war voller Pflichten – zu jedem Teil meines Lebens gehörte ein eherner Öffner. Gartentür, Haus. Fahrrad. Die Schlüssel der älteren Töchter von deren Wohnungen, wo ich helfend noch ein- und ausging. Ach, und ein rundes Metall-Ding, Geschenk von den Enkeln mit Aufschrift »Beste Oma der Welt«. Viele dienstliche Schlüssel. Und ja, fast vergessen: den vom Haus der Uroma in Saspow; tagsüber stand ja dort alles offen, aber abends wurde richtig verriegelt mit einem riesigen eisernen Werkzeug, wie fürs Himmelstor, spotteten meine Enkel. Und diese ganze, mit vier Ringen verkoppelte Ladung Metall donnerte ich dem Verfolger ans... Hirn. Mehr weiß ich nicht, denn ich rannte in Panik zum Hauptweg zurück und zum Bus. Erst als ich drin saß, dachte ich nach. Möglich, dass er gar nichts Böses beabsichtigt hatte, nur fantasierte, seine verstorbene Alte schwebe über die Gräber? Viele Tage erwartete ich in der Zeitung: Alter Mann erschlagen. – … Ermordet von mir.◄
Äh, nein, Caminchen, du würdest nie so zuschlagen, sind sich die Freundinnen einig, dass einer tot liegen bleibt. Wolltest jetzt nur Euline ablenken von ihrem Schrecken.
Aber ich, behauptet Isolde. Ich werd in der Wut zum Tier.
Mein »Attentäter« vergisst mich nicht. An der Kreuzung beim Bahnhof wurd ich überfallen, hehe, an der Haltestelle der Straßenbahn: Ich komme spät abends vom Sport, mein Fahrrad war grad kaputt an dem Tag. Alles autoleer, ein einziger Mensch sitzt auf ’ner Bank, und da bin ich natürlich rüber bei Rot. Plötzlich fängt der an zu krakeelen: Du olle Schachtel, kannste nich’ warten auf Grün!?
Ich werfe einen Blick auf die zerknautschte ältliche Männergestalt und sage: Sei still, du Kleener, is’ nicht dein Bier! Und geh weiter. Plötzlich – er muss ziemlich ruckartig aufgestanden sein und hinter mir her – reißt er mich rum an der Schulter, beschimpft mich unflätig. Ich lass mir das nicht gefallen natürlich, schubs ihn weg und geh weiter, aber wieder packt er mich grob. Ich boxe ihm eins vor die Nase... Gerangel. Plötzlich erscheinen zwei Männer, ansehnliche Typen mit Anzug und Schlips, die reißen uns auseinander und der eine sagt zu der Jammergestalt: Heute kannste deine Alte mal nicht verprügeln.
Sie halten ihn noch in der Zange und ich verschwinde. Danach bin ich geschockt. Nicht wegen des »Überfalls«, nein, damit wär ich allein klargekommen. Aber weil meine Befreier mich eingestuft haben als die »Alte« von dem runtergeschlunzten Klappergestell mit schnapsiger Fahne – das hat mir ’nen Schock versetzt. ... Seh ich etwa so aus?◄
Herausfordernd schlägt Isolde die Beine übereinander. Alle, sogar Euline, lächeln nachsichtig und betrachten die Freundin: den gepflegten, heute weißblond gefärbten Bürstenschnitt, die noch sportlichen Waden, das auf die Farbe der Bluse abgestimmte Make-up und die Brosche, die glitzernde Silberrose.
Kommt drauf an, welche Haarfarbe du an dem Tage..., möchte Božena sticheln, aber ein Blick von Caminchen bringt sie zum Schweigen. Jetzt kein Wort mehr davon, bittet die Gastgeberin, sonst kommt Euline gar nicht zur Ruhe, sie kann später berichten... Es ist eingegossen und alle sehen erwartungsvoll der echt Dresdner Stolle entgegen. Isolde greift nach einer Zeitschrift vom niedrigen Beitisch, obenauf das Porträt eines Schauspielers und die Aufschrift: »Über den Sinn des Daseins im 21. Jahrhundert«. Aber Caminchen nimmt ihr das Journal sanft aus der Hand, wirft einen Blick drauf, bevor sie es weglegt, und murmelt: Mädel, du immer mit deiner Neugier aufs »starke Geschlecht« ... hm... und der Artikel da in der Zeitung – manche Männer suchen immer nach Sinn. Uns Frauen geht’s besser: Uns ist er... hm, in den Schoß gefallen.
Für diesen leicht hingeworfenen Satz erntet Caminchen Heiterheit und Božena sagt: Wieso gefallen. In den Schoß gestoßen wurd uns der Sinn des Lebens. Geschossen!
Worauf Euline, die immer noch mit heulig geröteten Augen in ihrem Sessel halb liegt, halb sitzt, wieder ein Wörtchen von sich gibt: Wie meinst du das?
Isolde verdreht die Augen. Keine antwortet.
Božena, wie immer von Widerspruchslust geplagt, nimmt ihren Teller vom Tisch auf den Schoß und brubbelt: Und wieso suchen nur Männer? In mir blubberten früher trotzdem die Fragen nach dem »Wohin« und »Wozu« und »Weshalb«?
Ja genau, stimmt Isolde zu. Früher, jetzt hat sich’s gelegt.
Ja, in der Jugend, gibt Caminchen zu. Aber dann nach dem Kinder-Kriegen? Ist man doch gar nicht zum Fragen gekommen. Das Brüllen der Säuglinge hat Antwort gegeben, das Schürz-Zipfeln der Küken und die... hmm ja... die Verrücktheiten der Pubertätlinge, wie Božena sie immer benennt und die… Fress-Sucht der jungen Erwachsenen. Und später, als die Kleinsten oft bei mir abgeladen wurden oder die Halbstarken mit uns in den Urlaub...
Sie seufzt ein bisschen und bricht ein Stück Stolle ab. Entschuldigt, ich muss euch jetzt weiße Tassen hinstellen, sagt sie. Die fünft-letzte Meißner ist mir kaputt gegangen und ich will... Sie steht auf und tritt an die Bilderausstellung – eine mit Enkel-Porträts voll tapezierte Wand – zeigt auf ein Foto: Ich will sie diesen vier Kindern hier schenken.
Den Mädels von deiner Elise, erklärt Euline. Aber sie hätten für uns doch grad noch gereicht? mäkelt sie.
Nee, wahrscheinlich kommt heut noch jemand. Meine Nachbarin, Frau Hildegard Westphahl.
Die West-Hilda vom Feinsten?! stößt Božena etwas heiser heraus, bemüht, ihre Abneigung nicht zu zeigen.
Die mit dem Kalbshund? fragt Euline entsetzt.
Lebenssinn hatt’ ich ja auch im Beruf, nimmt Božena den Gesprächsfaden wieder auf. Und seit mein Nachwuchs da war, hab ich tatsächlich nie nach Sinn fragen müssen, der war immer und doppelt und dreifach vorhanden.
Caminchen mit vollem Mund: Ach, mehr als zehnfach.
Aber, denkt Božena laut weiter: Eigentlich müssten wir jetzt danach fragen. Denn der Beruf ist geschafft und die, hoho: die Brutpflege auch erledigt. Unsre Kinder stehn sicher im Leben, die Enkel und Urenkchen größtenteils leider weit weg, über den Globus, mindestens über Europa ver-globalisiert, ho: vergloballert. Und, aber wir, was könn wir noch tun? Unser Glucken-Dasein – beendet. Der Lebenssinn, der uns – Caminchen hat Recht – in den Schoß gepflanzt war, ist abhanden gekommen.
Die heutigen jungen Frauen, sagt Caminchen bedächtig, die sind arm dran. Hmm.... verfallen genauso der Such-Sucht wie Männer. Zum Beispiel meine Corinna, studiert und studiert. Geschnuppert hat sie zwei Jahre bei Schauspiel und Film-Kunst, dann wollt sie in London mit Medien... jetzt... aber sie kommt nicht zu Potte. Wann will sie fertig werden, sie ist über dreißig?
Kinder kriegen vielleicht mit fünfzig?! höhnt Božena.
Hm ja, wenn die Eltern Geld haben, sind sie so »frei«.
Caminchen atmet tief durch und spricht weiter: »Frei« von ihrer biologischen Pflicht. Aber kann man wider Natur glücklich sein?
Alle nicken nachdenklich, schweigen.
Und wie kommt das? empört Caminchen sich weiter. Vielleicht durch das Zuviel, hm... London, Peking und Honolulu... sie probieren, verwerfen, was andres oder ’nen andern und verlieren... hm... Jahre. Zwar... bei uns konnte auch was schiefgehn, wenn wir einen Idioten erwischt hatten, den wir irgendwann zum Tempel raushaun mussten, aber...
Dazu kann Isolde sicher das lauteste Klage-Lied singen, stimmt Božena zu. Über die Kerle, die du dir auf den Hals geholt hattest, bevor du schlau wurdest oder vielleicht endlich noch wirst. Wie auch immer, die meisten von uns alten Schachteln haben vernünftig Kinder groß gezogen und…
Genau, so isses, sagt stolz Isolde und haut sich die Faust auf die Brust. Ich sogar ganz allein. Heute ist’s doch ein Jammer, wie die jungen Frauen den Lebenssinn abschieben, Monat für Monat.
Abtreiben, nicht wahr? verbessert Euline mit wieder normaler Stimme, froh, dass sie verstanden hat. Äh, aber, wir hätten doch auch die Pille genutzt, äh... wenn wir sie damals... nicht wahr?!
Schniefen, Kauen. Kaffee-Nachschenken.
Vielleicht, sagt Božena kauend. Meine zweite Enkelin ist auch so ein tragischer Fall. Sie hat ihn vertagt, ihren
Kindertraum. Ein kleines Haus am Stadtrand von Blankenburg bewohnt sie mit ihrem Mann – das sie noch abzahlen müssen und an dem sie noch viel herumwerkeln. Das Badezimmer wird in diesem Jahr fertig, hellblau gekachelt und der Zierrand in dunklerem Blau und Gold, mit Meeresjungfrauen. Die Küchenwand – nächstes Jahr – soll rosarot werden, dazwischen Kacheln mit Rafaels Engelsputtchen, schon günstig gekauft in Polen. Mitte dreißig sind sie jetzt beide. Sie verdient am meisten, aber auch er bringt ordentlich Geld nach Haus. Dass er sich ohne Studium zum Computer-Fachmann selbst qualifiziert hat, darauf sind sie sehr stolz. Für die ganze Stadtverwaltung von Halberstadt wartet er die Geräte, betreut und belehrt sie, die »Sehr geehrten Damen und Herren«, mit modernster Hardware and Software, als Spezialist ist er unentbehrlich. Ein Babyjahr zu nehmen an Stelle der Frau wäre unklug, dann hätte ein andrer den Arbeitsplatz, einer mit Hochschul-Ausbildung. Und für sie ist ein Kinderjahr völlig undenkbar, denn man schätzt sie in ihrer Firma als unverzichtbare Kraft. Sie arbeitet gern, denn sie ist Sprachtalent und hat Menschenkenntnis, das muss in den Genen liegen, vielleicht, hohoho, hat sie’s von mir. Als sie klein war, wünschte sie sich fünf Kinder, als Teenager hatt’ sie den Traum geträumt, Germanistik zu studieren. Brotlose Kunst, hieß es in Zeiten der Wende. Sie lernte bei einer Bank und nun ist sie Makler für Immobilien. Glücklich leben sie – sagen sie – mit Haus, Gärtchen und ihren drei Katzen. Sogar den Kater hat man jetzt, weil er kastriert ist, im Griff. In seiner Sturmzeit markierte er überall sein Revier, einmal bespritzte er ihre weinrot-samtene Ausgeh-Hose. Jetzt ist er sauber und friedlich: ein riesiges, dickes Baby. Sein Lieblingsplatz ist das Fußende des Ehebetts. Er als einziger darf dort den ganzen Tag faul sein. Sie wärmt sich an ihm die Füße, wenn sie am Sonntag den neuesten Bestseller verschlingt oder manchmal alte Gedichte liest. Rilke, Hölderlin, Goethe und Lasker-Schüler. Oder was ganz Modernes... ◄
So, und nun Punkt. Das hatte ich wohl schon erzählt?
Isolde nickt, während Euline wieder ihr linkes Auge betupft. Ich hatte immer gehofft, sagt die, indem sie sich in ihrem Sessel ganz nach vorn schiebt, ich hatte geglaubt, dass auch Männer sinnvoll leben. Nicht nur die... äh... die großen Asse, wie Schauspieler, Künstler… äh... die ganz durchschnitt… die ihrer normalen Arbeit nachgehn und treu dabei helfen, Kinder und… nicht wahr, sogar Enkel großzuziehen!?
Nach dieser langen Rede nimmt sie einen Schluck aus der Tasse, rutscht im Sessel wieder nach hinten.
Das liegt oftmals auch am Geschick der Frau, sagt Caminchen. Man musste den Mann richtig einspannen ins Familien-Geschirr.
Wie willst du den Charakter der Männer anschirren? protestiert Isolde. Dieser schwanzgesteuerten Monster?!
Isolde, mach mal ’nen Punkt! ermahnt Božena streng. Du bist doch selbst... wankelmütig. Wie viele Männer hast du zum Teufel gejagt?! Und deine Sprache, sag’s etwas gewählter: gesteuert von der unteren Magnetnadel, so vielleicht.
Ja, hehe, das ist lustig, und aber: Die große Liebe kam eben nur ein- oder... na, höchstens zweimal.
Und warum hast du nicht zugegriffen? Erzähle Isolde!
Nee, das ist keine spannende Story. ’S war Schicksal.
Nach erwartungsvoll und enttäuschtem Schweigen sagt schließlich Caminchen: Na, heute nicht, aber irgendwann kannst du’s erzählen. Hmm, ja... und die Männer sind wirklich anders gewickelt, aber das ist halt die Kunst, sie trotzdem zu steuern.
Sie holt tief Luft: Ich sag’s rundheraus, wie es war. Manches hat man gedeichselt... hm ja... sogar mit bloßer... ich nenn’s mal
Sexuelle Berechnung. Von mir zum Beispiel hätt ich niemals gedacht, dass ich mich freiwillig anbiete zum Sex, um damit Vorteile rauszuschlagen. Und doch hab ich’s gemacht: Mich prostituiert ─ aus Berechnung. Zu meiner Verteidigung: Nicht für mich wollte ich etwas erkaufen. Am wenigsten für mich.
Das ist ganz allmählich gewachsen in unsrer Ehe. Im Lauf der Jahre war das Feuer runtergebrannt, man ist zur Arbeit gerannt und abends in der Wohnung neben’nander hergelaufen und weil die Betten Seite an Seite gestanden haben, ist es eben – bei uns meist samstags und mittwochs – dazu gekommen, ohne dass es einen besonders aufgeregt hätte. Dann kam man in das Alter, wo die Hormönchen weniger wurden, und ich hatte kaum noch Lust auf diese Sachen. Wenn er nicht ab und zu indirekt aber unübersehbar sein Bedürfnis gemeldet hätte, wäre nichts mehr gelaufen. Mit der Zeit wurde klar, dass man seinen schwieriger werdenden Charakter nur damit ein bisschen im Griff halten konnte. Wenn ihm die gewissen Bett-Dinge fehlten, bemerkte ich, wie er den ganzen Tag vor sich hin schwieg, dazu mufflig-freudlose Mienen aufsetzte, als sei ihm die ganze Welt eine Last. Bald wurde sein Ausdruck leidend, er antwortete nur noch brummig-gereizt, wenn überhaupt. Schließlich schnauzte er von früh bis zum Abend um sich herum, so dass die ganze Familie erschrocken das Weite suchte und heimlich bei mir anfragte: Was hat er denn nu’ bloß wieder? … Dann wusste ich, es ist wieder mal nötig und ich gab ihm Zeichen, als hätte ich Bedürfnis. Und er lud mich zu einem Glas Rotwein und wurde nett und weich. Hinterher war er wieder ein Mensch und kümmerte sich bereitwillig um Familie, Garten, Haushalt und Welt. Hm. Er war wieder ein verlässlicher Tragbalken in meinem Mutterleben.◄
Bewusste... äh, Prostitution?! staunt Euline verblüfft.
Ja, so war’s, stimmt Božena zu. Da musste man durch, auch wenn es lästiger wurde, je älter man war. Aber eine knurrige Atmosphäre ist schwerer zu ertragen als dieses manchmal etwas schmerzhafte Theater alle paar Tage oder dann Wochen.
Schmerzhaft!? sagt Euline erschrocken.
Naa, nicht nur, man schwebte zwischen Qual und Wonne, aber so musste man halt den Angetrauten an den Familienkarren fesseln, damit er nicht sonstwo den »Sinn des Lebens« sucht oder vielmehr hinträgt, hoho.
Isolde mokiert sich: Ja, gucke, so also habt ihr das Eheschiff durch die tückischen Wellen geschaukelt. Siehst du, Euline, wenn wir das gewusst hätten! Aber bei dir wär’s kaum so gegangen, dein erster Mann Josef, der hätte ’nen Harem gebraucht und der zweite hatte immer das junge Fleisch deiner Tochter vor Augen.
Isolde, sei still, mahnt Caminchen und streicht tröstend über Eulines Handrücken. Wenn jemand darüber reden will, dann mein Herzl selbst.
Jaja, schon gut. Sie will eben ihre schlimmen Geheimnisse nicht von der Seele schütten, obwohl es gut für sie wäre. Aber eure »Prostitution«: Da war also gar keine richtige Liebe mehr zwischen euch, sondern nur Zweckgeschäft?
Na, nee, das allein hätt sicher auch nicht gereicht, um die Chose zusammenzuhalten, schließlich… hmm ja, es hat zwar auch manchmal gekracht und gedonnert… hm, aber das war mehr Ent-Rostung der Ehe und hinterher...
Caminchen sieht Božena auffordernd an: Lies doch diese Geschichte vor, hier hast du den Text zurück, gefällt mir ganz gut, vielleicht am Schluss noch... nee, lass es so. Bin froh, dass wir drauf kommen, sonst hätt ich die Rückgabe wieder vergessen.
Das hat mir mal eine Kollegin geschildert, sagt Božena. Und so ähnlich ist’s manchmal bei uns auch gelaufen. ... Ohren auf!
Ehe-Entrostung. Eine Reise war geplant, und am Ende musste sie heulen. Mit andern Worten: Es hatte mal wieder gerumpelt in der Ehekiste. Die große Liebe war ja schon lange abgeleiert, aber man hatte sich an das Leben mit dem alten Kerl doch gewöhnt.
Natürlich ist die Ehe zu anderen Zeiten besser gelaufen. Zum Beispiel, als er ein paar Jahre auf Montage gearbeitet hat und nur an Wochenenden nach Hause kam. Da gab’s nie Streit und sie war immer die Liebste und Beste. Das waren die Jahre, als er die sogenannten Großbauten des Sozialismus mit aufgebaut hat, Stadthalle oder Palast der Republik und so, da mussten sie immer mal mächtig ranklotzen und zum Schluss gab’s Hauruck-Aktionen: Bis in die Nacht um zwei, andern Morgen trotzdem um sieben auf der Matte stehn. Ja, und wenn so was geschafft war, dann hat er sich mit seinen Kollegen sinnlos betrunken. Vor Freude. Und sie hat Geschenke gekriegt von seinen fetten Prämien, und er war happy und die Ehe lief. ... Seit der Wende gibt’s auch solche Objekte mit Termindruck, wo die beinahe Tag und Nacht arbeiten, damit irgendein Haus oder Bürogebäude noch vor Winter bezugsbereit ist. Wenn sie damit fertig sind, betrinken sie sich auch. Aber vor Angst: Wie es weitergeht, ob sie einen neuen Job finden, ob sie es bis zur Rente schaffen und so. … Ja, er hat’s schon schwerer als sie. Deshalb erträgt sie ja auch weitgehend seine Launen. Aber an dem Tag hatte er mit seinem Genörgel ihre Stimmung permanent runter-gepeitscht. Frühstück: Wieso ist kein Honig da? fragt er in provozierendem Ton, obwohl eigentlich ausgemacht war, dass er sich mit drum kümmert, um die ewige Einkauferei für den ewigen dicken Bauch. Denn er isst auch das meiste und er legt Wert auf dies und das und große Mengen.
Sie antwortet auf sein Geknurre: Weil ich vor der Reise gestern noch Rasiercreme gekauft habe, für dich. Und neue Nachtwäsche, für dich. Und eine Schirmmütze. Für dich. Und darüber die Fresskäufe vergessen habe.
Mittags kriegt sie den nächsten Anschnauzer um die Ohren. Das Essen steht nicht pünktlich auf dem Tisch. Da ist sie wohl mit schuld, denn sie weiß ja, dass er zum bellenden Tier wird, wenn er hungrig ist. Aber den ganzen Vormittag hatte sie gekramt und gepackt, damit für alle eventuellen Fälle und Wetter nichts fehlt. Er dachte wohl, dass er der einzige war, der arbeitet, indem er das Auto entplünderte, putzte, was längst vorher erledigt sein sollte.
Kurz vor der Nacht stellt er fest, dass sie vergessen hat, seine Lieblingshose aus der Reinigung zu holen.
Du kriegst aber auch nichts in Griff! hat er gebrüllt. Sie hat zurückgebrüllt, was sie alles in Griff gekriegt hat an dem Tag: Frühstück hin- und weggeräumt, Mittag gekocht, hin und weggeräumt, Vesper hin, weggeräumt, Abendbrot hin, weg. Abwaschmaschine gefüllt, geleert, gefüllt. Wohnung gemoppt. Treppe gefegt und gewischt, Fenster der Hausordnung geputzt. Sein Lieblingshemd gewaschen, gebügelt. Und als er abends seinen Krimi guckte: Klopse für die Reise gebraten, Waschbecken hinter ihm hergeputzt wie jeden Tag, Klo entstunken wie jeden dritten Tag...
Alles selbstverständlich, hat er zur Antwort geknurrt. Da ist ihr der Kragen geplatzt. Eigentlich war ihre Reiselust sowieso nicht groß, und lange hatte sie gehofft, ein bisschen krank zu werden. Aber ihm zuliebe war sie gesund geblieben, wollte ihm nicht die Freude verderben. Aber wenn sie so ein blödes Kalb ist, das nichts auf die Reihe kriegt, dann ist es besser, wenn er sich von ihr erholt. Kann überlegen, ob er überhaupt zurückkommen will, zu einer, die nichts, aber auch nichts auf die Reihe kriegt.
Ich – komme – nicht – mit, hat sie ganz ruhig gesagt.
Ab ins Schlafzimmer und ihre Koffer wieder ausgepackt. Demonstrativ geknallt mit Schranktüren, Kofferdeckel und allem, was sich knallen lässt... Er sitzt im Wohnzimmer und kaut schweigend, hassblickend sein zweites Abendbrot: Eine Scheibe Wurst mit Käse drauf.
Am andern Morgen steht er spät auf, redet mit weicher Stimme, aber das Thema nicht berührend, geschweige denn sich entschuldigend, immer um den heißen Brei drumrum. Sie bleibt abweisend, pampig, will nicht umkippen. … Eisiger Abschied. Er rast wie verrückt um die Straßenecke, fährt fast den Hund der Nachbarin übern Haufen.
Ein ruhiger Tag. Gardinen gewaschen. Flurschrank entrümpelt. Aber die ganze Zeit klemmt es komisch im Bauch. Abends, als sie grade mit Buch ins Bett gehen will – der Fernseher ist gar nicht erst angeschaltet – klingelt das Telefon: Ich wollte dir wenigstens mitteilen, hört sie seine knarrige Stimme, dass ich heil angekommen bin.
Da muss sie heulen. Ganz überraschend.◄
Da haben wir ja allerhand durchgehechelt in unsrer Altersweisheit, sagt Božena nach einem Schluck Kaffee und gibt dem Wort Weisheit einen ironischen Unterton. Aber zurück mal zum Thema: Zu welchem Zweck wir jetzt existieren. Wenn wir nur essen, trinken, uns verlustieren, sind wir ...das grasende Vieh!
Es klingelt. Caminchens neue Nachbarin, inzwischen hinterrücks West-Hilda genannt, hoch gewachsen, schwarz bemantelt und mit Hut, steht vor der Tür.
Meinens, ich sollt meine Hündin mit reinbring? hören die Freundinnen drinnen. ... Ihre anderen Gäste, was sagns dazu?
Ein lautloser Seufzer geht durch das Zimmer, Blicke werden gewechselt unter hoch gezogenen Brauen.
Das Gespräch lahmt dann, dreht sich abtastend-neugierend um Kaffee und Stolle, um Straßenglätte und um die schöne Dogge, die draußen wartet. Euline gibt endlich − mit stockender Stimme − einen Bericht über ihr Schreckens-Erlebnis. Bis das Telefon klingelt. Da versiegt das Geplauder fast ganz. Wie so oft ist ein Enkel Caminchens dran, Rico, und sie verschwindet − mit dem Hörer am Ohr − nach nebenan. Bald erheben sich Božena und Isolde: Wir gehn, das kann dauern, hab’n heut genug palavert.
Die Nachbarin, ein bisschen erstaunt, schließt sich an.
Euline, soll ich dich heimwärts begleiten? bietet Božena an.
Nein, ich wart auf Caminchen, hab doch Zeit.
Die winkt Abschied aus ihrer Schlafzimmertür, ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen: Macht’s gut, bis zum nächsten... bei dir Božena, in deiner Winzigwohn...
Ja, jetzt sind sie weg, spricht sie ins Telefon. Nein, halt, Tante Euline sitzt noch im Zimmer, na... Ja, Rico, die wartet geduldig. … Ja, erzähl mal! Hast Elvira getroffen?...
Hab Sorgen mit meinem Nachwuchs, sagt Caminchen danach zur Freundin. ’N schön’n Gruß von Rico!
Trotzdem bist du glücklich, weil sie anrufen, ich hab keinen Enkel und bin... selbst schuld.
Aber meine lieben dich, tröstet Caminchen. Karli z.B. ..
Ja, nicht wahr, der war mein Herzensschatz. Einmal hat er gefragt: Warum weinst du so oft, Tante Euli? Und ich ihm erzählt, wie sie mein Kind, äh, gestohlen… und als es groß war, hab ich es wieder bekommen, aber es wollte mich nicht und daran ist es gestorben. Und da, äh... da: Du hast ja jetzt mich, hat er gesagt: Du hast ja jetzt mich! Und... äh... mir ein Küsschen gegeben. Da musst ich erst recht nochmal weinen.
Kommt Karli zu Weihnachten her?
Weiß nicht. Los! Zum nächsten Treff kommst du mit Rolli!
⸎