Читать книгу Fahrplan ins Glück - Gisela Rieger - Страница 10

Eine Prinzessin hatte anlässlich ihres Geburtstags die Frauen aus den benachbarten Adelshäusern zu einem Teekränzchen eingeladen. Nach dem Empfang diskutierten die Gäste eifrig über die Frage, worin wohl die wahre Schönheit liege. Die unterschiedlichen Meinungen wurden lebhaft diskutiert, so dass die Gespräche auf der Terrasse eher dem Geschnatter in einem Entenstall glichen als den Worten adliger Damen.

Da man sich nicht einig wurde, ging die Prinzessin ins Schloss und kehrte mit einer kleinen diamantenbesetzten Krone zurück. Sie fragte ihre Gäste, ob diese Krone nun eher wertvoll oder schön sei. Und schon wieder wurden unterschiedlichste Meinungen hin- und hergerufen.

Die Prinzessin sah von der Terrasse aus, dass ihre Töchter mit den Kindern ihrer Gäste vergnügt im Garten beim Spielen waren. So winkte sie ihre Dienerin herbei, reichte ihr die kleine Krone und gab ihr die Anweisung, jenes Kind im Park auszuwählen, dem die Krone am besten passe, und welches am schönsten damit aussehe.

Die Dienerin setzte die Krone als erstes auf den Kopf der ältesten Tochter der Prinzessin, doch dieser war sie zu viel zu klein. Dann versuchte sie es bei der jüngsten Tochter der Prinzessin, doch der war sie viel zu groß. So ging sie weiter zu den anderen Mädchen, aber bei keinem einzigen war sie der Meinung, dass die Krone auch zu der Trägerin passen würde.

Zu guter Letzt ging sie zu einem Kind, das in einfachen Kleidern schüchtern am Rande des Gartens verweilte, und siehe da, die Krone passte dem Kind wie angegossen.

Die Dienerin nahm das Kind bei der Hand und führte es zur Prinzessin: „Verzeiht mir, meine Gebieterin“, sprach die Dienerin, „dass ich die Krone diesem Kind gegeben habe, denn dies ist meine Tochter. Aber in meinen Augen passt ihr die Krone am allerbesten, und sie sieht damit am allerschönsten aus!“

Die Gäste waren gerade dabei, sich über die anmaßende Dienerin zu empören, als die Prinzessin um Ruhe bat und sagte: „Meine Damen, meine weise Dienerin hat mich lediglich in meinem Glauben bestätigt, denn auch ich bin der festen Überzeugung, dass es nur das Herz ist, das wahre Schönheit zu erkennen vermag!“

Schön ist alles, was man mit Liebe betrachtet.

Christian Morgenstern