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ОглавлениеEine leichte Brise strich über den See, trieb kleine Wellen auf, die schwappend an die Ufermauer im Hafen von Pella schlugen. Die Sonne stand grell am Himmel und warf funkelnde Kreise auf das Wasser. So hell war es, dass Simon die Augen davon wehtaten und er ständig blinzeln musste. Er griff in seine Taschen, fand aber nicht, wonach er suchte. Er hatte seine Sonnenbrille zu Hause in Ronco vergessen. Wie ärgerlich! Die hätte er wirklich gebraucht an diesem Tag.
Langsam schob sich jetzt eine Wolke vor die Sonne und ein Schatten legte sich auf den See, wurde nach und nach länger. Nur die kleine Insel vor Pella lag noch in hellem Licht mitten im Wasser, wie angestrahlt. Simons Blick ging auf die andere Uferseite, wo eine Dunstwolke aufquoll, hier und da so durchlässig, dass sie für Momente die Sicht freigab auf in halber Höhe in den Hügeln gelegene Dörfer, Kirchen mit ihren Glockentürmen, blühende Obstbäume in sattem Grün, hochgewachsene Palmen.
Trotz der bevorstehenden Ereignisse war auf dem Wasser an diesem Nachmittag nicht viel los. Ein paar Angler waren in Ruderbooten unterwegs, und eine große Segelyacht nahm gerade Kurs auf das nördliche Ende des Lago d’Orta, wo die Zacken einer ersten Alpenkette in das Himmelblau stachen, überzogen mit klirrendweißem Schnee. Dort oben war es noch bitterkalt. Aber unten am See war es warm, sehr warm für den Monat April. Der Sommer lag schon in der Luft.
Simon hatte seinen alten Peugeot in Ronco stehen lassen, war mit seiner eben erst gebraucht erstandenen Vespa in das nur drei Kilometer entfernte Pella gekommen, gefolgt von Nicola auf dem Fahrrad und Buffon, ihrem Terrier, der auf seinen kurzen Beinen erstaunlich gut neben Simons Ziehtochter mithielt. Sich gegen das Auto zu entscheiden, war weise gewesen. Zwar kannte Simon auch die versteckten Ecken in Pella, wo er immer noch eine Nische für seinen Wagen fand, aber heute war der kleine Uferort bis auf den letzten Platz zugestellt. Es war der Donnerstag vor dem Karfreitag, der in Italien kein Feiertag war, aber eine Ferienwoche stand bevor, es herrschte bereits Osterstimmung und für den Nachmittag war ein Halbmarathon rund um den See angesagt.
Ganz Pella schien auf den Beinen zu sein und auch von weiter her waren viele Leute an den See gekommen, sportlich aussehende Frauen und Männer in enganliegenden, knallbunten Trikots, sehnige ältere Herren mit nackten Waden und unter den Zuschauern Familien mit manchmal etwas dickleibigen Kindern und junge Frauen in sommerlichen Outfits und mit zu großen Sonnenbrillen auf der Nase.
In gut einer halben Stunde würde der Lauf beginnen, nicht weit weg von der Schiffsanlegestelle in Pella, wo vor wenigen Monaten eine neue Bar aufgemacht hatte, in der Simon gerne seinen morgendlichen Cappuccino trank und die jetzt vollkommen überlaufen war. Eigentlich hatten Simon und Nicola vorgehabt, dort noch ein schnelles Bier zu trinken, bevor es losging, aber der Trubel schreckte sie ab, und sich mit dem Hund in eine überfüllte Kneipe zu quetschen, war ohnehin keine gute Idee.
Auf der großen Wiese vor der Bar tummelten sich so kurz vor dem Start die Läufer; Frauen und Männer, Ältere und Jüngere, einige auf dem Rasen stehend, andere sitzend, trafen letzte Vorbereitungen, machten Dehnübungen, befestigten ihre Startnummer auf der Brust, füllten ihre Wasserflaschen, rieben sich mit Sonnencreme ein, bis Arme und Gesichter fettig glänzten. Die Sonne war wieder hinter der Wolke hervorgekommen, brannte mit einer für die Jahreszeit ungewöhnlichen Intensität auf die Köpfe. Am Anlegesteg neben der Bar hatten ein paar Boote festgemacht, schaukelten schwappend in Wind und Wellen, und gerade legte wieder eines der Verkehrsschiffe an, das noch mehr Menschen an Land entließ, weitere Zaungäste für den Marathon.
»Paolo.« Es war Nicola, die das fast schrie und dabei die Arme über dem Kopf schwenkte. »Ciao.« Jetzt entdeckte auch Simon Nicolas Freund unter den Ordnern, die sich ebenfalls auf der Wiese versammelt hatten und letzte Hinweise von einem älteren Mann in einer orangefarbenen Schutzweste bekamen.
Simon kannte Paolo, war aber nicht auf dem Laufenden, ob die beiden noch ein Paar waren oder nur noch gute Freunde. Seit Nico in Turin Tiermedizin studierte und nicht mehr bei ihm in Ronco lebte, war er nicht mehr mit allen Details ihres Lebens vertraut, obwohl sie sich immer noch sehr nah waren. Es war ein paar Jahre her, dass sie plötzlich bei ihm vor der Tür gestanden hatte, mit einem großen Rucksack und ihrem Saxofon, nachdem er ihr halbes Leben lang keinen Kontakt zu ihr gehabt hatte. Dafür hatte ihre Mutter nach dem Ende der Beziehung gesorgt – aus enttäuschter Liebe zu ihm. Ihren richtigen Vater hatte es in Nicos Leben nicht gegeben, denn der hatte mit seiner Tochter nichts zu tun haben wollen. Richtiger Vater? Was war das bloß für eine Formulierung, dachte Simon spontan. War er etwa nicht ihr richtiger Vater? Für ihn und für Nicola war er das zweifellos. Und jetzt stand sie neben ihm am Hafen von Pella und er sah der jungen Frau mit dem knallroten Haarschopf dabei zu, wie sie Luftsprünge machte, um ihren Freund auf sich aufmerksam zu machen, und er dankte dem Schicksal, dass sie in sein Leben zurückgekehrt war.
Paolo hatte nun auch Nico entdeckt, winkte zurück, zuckte aber bedauernd die Schultern, tippte auf seine Uhr und wandte sich ab, um sich einer Handvoll Kollegen anzuschließen, die die Wiese über die Uferstraße verließen, in Richtung Süden, vermutlich, um entfernter gelegene Streckenposten aufzusuchen. Andere näherten sich mit Listen in der Hand der Startlinie, drängten dort die Zuschauer zurück, nahmen ihre Positionen ein. Einer trug ein Megafon um die Schulter, das noch nicht zum Einsatz kam. Lange konnte es aber nicht mehr dauern, bis es losging.
Simon war missgelaunt. Hätte Nicola nicht darauf bestanden, sich den Marathon mit ihm anzusehen, wäre er lieber zu Hause geblieben. Denn eigentlich hatte er selbst mit auf die Strecke gehen wollen. Hatte sich wochenlang darauf vorbereitet, seinen Weinkonsum reduziert, war jeden Morgen den steilen Weg von Ronco, seinem Heimatort direkt am Seeufer, in den höher gelegenen Dorfteil, nach Ronco superiore, gerannt, zwanzig Minuten hoch bis zu einer kleinen verträumten Kapelle, war atemlos dort oben angekommen und dann in schnellem Lauf über Stock und Stein den Weg wieder hinuntergerannt.
Vor zwei Tagen war es dann passiert. Er war über eine Wurzel gestolpert und der Länge nach hingefallen. Eigentlich hatte er Glück im Unglück gehabt, sich nur sein linkes Handgelenk verletzt. Allerdings war das heftig angeschwollen und hatte scheußlich wehgetan. Nicola war gerade aus Turin für einen Osterbesuch in Ronco angekommen, hatte ihn in ihren kleinen Panda gepackt und sofort ins Krankenhaus nach Omegna gefahren, wo man die Hand röntgte, feststellte, dass nichts gebrochen war, und ihm einen Verband anlegte. Die Ärztin hatte ihn mit dem strengen Rat nach Hause entlassen, die Hand in der nächsten Zeit ruhig zu halten. Inzwischen waren die Schmerzen und die Schwellung etwas abgeklungen und Vespa zu fahren, ging gerade noch. Aber an einen Halbmarathon war nicht zu denken.
Buffon jaulte kurz auf, schnappte dann nach einem Mann im Trikot, der ihm offenbar auf die Pfote getreten war und jetzt erschreckt einen Satz zur Seite machte. »Passen Sie doch auf Ihren Köter auf, Signora!«
»Scusi.« Nico zog den Hund an der Leine zu sich. »Komm, Simon«, sagte sie, »lass uns ein Stück weiterfahren, hier ist mir zu viel los. Vorne an dem Strand in Lagna ist doch eine Stelle, wo wir den Lauf besser und auf einem längeren Stück verfolgen können.«
»Muss das wirklich sein?«, antwortete Simon, ohne seine Unlust zu verbergen.
»Ist die Frage ernst gemeint?«
»Ja klar, ich weiß wirklich nicht, was wir da sollen.«
»Das hättest du auch eher sagen können«, fuhr Nicola in gespielt ungehaltenem Ton fort. »Aber ich habe schon verstanden. Du findest es im Moment nirgendwo nett, weil du zum Zuschauen verdammt bist. Ehrlich gesagt nervt das ein bisschen. Sei doch froh, dass du dir diese Strapaze nicht antun musst.« Sie machte eine Pause. »Vor allem in deinem Alter«, setzte sie noch lachend hinzu, als er weiter schwieg, nahm ihn aber zugleich liebevoll in den Arm.
Seine gut drei Jahrzehnte jüngere Ziehtochter provozierte ihn gerne mit seiner Angst vor dem Älterwerden und traf dabei einen empfindlichen Punkt. Simon hatte jetzt die Mitte fünfzig überschritten, war aber eigentlich noch so gut in Form, dass er bei diesem Marathon wahrscheinlich auf den vorderen Rängen gelandet wäre. Zumindest in seiner Altersgruppe. Wenn nur diese blöde Hand nicht dazwischengekommen wäre. Die Wut über seinen Unfall ließ ihn nicht los. Er hasste es, die Verletzlichkeit seines Körpers zu spüren. In jüngeren Jahren hätte er den Sturz einfach weggesteckt, davon war er überzeugt.
Jemand tippte Simon von hinten auf die Schulter, auch Nicola spürte die Bewegung und gab sofort seinen Arm frei. Simon drehte sich um. Carla. Maresciallo Carla Moretti. Die Polizistin, die er in den letzten drei Jahren mehrmals, wenn auch eher zufällig, bei der Ermittlung in Mordfällen begleitet hatte. Seine Zweisprachigkeit als halber Italiener und sein kriminalistisches Gespür als ehemaliger Polizeireporter bei einer deutschen Zeitung waren ihr nützlich gewesen, meistens zumindest, denn nicht immer war sie mit seinen eigenwilligen Aktionen einverstanden gewesen. Carla – die er schätzte und mochte und die ihm mit ihrer nüchternen Art und ihrer herben, ein wenig jungenhaften Ausstrahlung fast zu gut gefiel. Wenn da Luisa nicht wäre … Seine italienische Freundin, die in Frankfurt lebte. Doch Luisa ging gerade ohnehin eigene Wege und der Gedanke an sie versetzte ihm einen Stich. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn über Ostern zu besuchen, dann aber plötzlich abgesagt, angeblich, weil sie dringend auf einer ihrer Baustellen gebraucht wurde. Luisa war Architektin und an einem Hochhausbau in Frankfurt beteiligt. Simon hatte ein leiser Zweifel beschlichen: Arbeiteten die tatsächlich auch über die Feiertage?
Er schob den Gedanken an sie von sich, irritiert über sein Misstrauen, das wahrscheinlich vollkommen grundlos war, und wandte sich Carla zu. Sie trug Uniform und wie immer sah deren tiefes Dunkelblau an ihrer schmalen Silhouette ausgesprochen elegant aus. Offenbar war sie dienstlich beim Marathon unterwegs, und sie war nicht allein. An ihrer Seite stand ein attraktiver Mann, nicht uniformiert und vielleicht Mitte dreißig, wie sie. Wer war das? Simon kannte ihn nicht, hatte ihn noch nie gesehen.
Carla setzte ihre Uniformkappe ab, strich sich schwungvoll das kurze pechschwarze Haar aus der Stirn, nickte Nicola freundlich zu, streichelte Buffon zärtlich über die Schnauze, strahlte Simon aus ihren grünen Augen an und streckte ihm ihre Hand entgegen: »Salve, Simone, come va? Ich dachte, Sie laufen hier bestimmt mit?« Im selben Augenblick entdeckte sie den Verband an seiner linken Hand und biss sich auf die Zunge. »O je, was ist denn passiert, Simone?«
»Halb so wild«, sagte er. »Ich bin hingefallen und habe mir das Handgelenk verletzt. Aber es wird schon wieder.«
Carla insistierte nicht. Im Herunterspielen persönlicher Befindlichkeiten war sie Simon sehr ähnlich und verstand sofort, dass sie besser nicht weiter nachhakte. »Das ist Piero, aus Mailand«, stellte sie ihren Begleiter vor.
Die beiden Männer nickten sich zu, freundlich, aber wortlos. Carla fuhr erneut mit der Hand durch ihr widerspenstiges Haar, das sich einfach nicht in Form bringen ließ, und wandte sich an Nicola: »Puh, ist das heiß heute. Und du machst einen Osterbesuch am See?«
»Ja, ich bleibe nur ein paar Tage. Mal wieder ein bisschen Seeluft schnuppern, das tut auch Buffon gut.«
»Und deinem Vater auch«, erwiderte Carla mit verschmitztem Grinsen. »Der vermisst dich, glaube ich.«
Woher wollte Carla das wissen?, fragte sich Simon. Es war eine ganze Weile her, dass er und die Polizistin sich zuletzt begegnet waren, und außerdem sprachen sie über persönliche Dinge eigentlich nicht miteinander, auch wenn sie sich mochten und zweifellos zueinander hingezogen fühlten. Jedenfalls Simon zu Carla. Und inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass das auch umgekehrt zutraf, vor allem, seit sie sich beim letzten Fall vor mehr als einem Jahr doch etwas nähergekommen waren. Aber sie waren beim Sie geblieben, ein Zeichen dafür, dass sie beide, aus welchen Gründen auch immer, es für angemessen hielten, eine gewisse Distanz zueinander zu halten.
»Die Frage ist allerdings, ob er auch mir guttut«, sagte Nicola lachend zu Carla und hakte Simon wieder unter.
An der Startlinie hatte sich inzwischen ein großer Pulk von Läufern formiert und es sah ganz so aus, als ob der Marathon gleich starten würde.
»Ich muss los«, sagte Carla, »der Job ruft. Bestimmt laufen wir uns nachher noch über den Weg. A dopo.« Sie setzte ihre Kappe wieder auf, hob die Hand zu einem Gruß in die Runde und verschwand in ihrem leicht burschikosen Gang in Richtung der Startlinie, gefolgt von ihrem Mailänder Freund, den sie dazu allerdings nicht aufgefordert hatte, was Simon aufmerksam registrierte. Es ging ihn zwar nichts an, aber es hätte ihn doch sehr interessiert, wer das war.
Simon blickte Carla immer noch nach, als einer der Ordner sich am Start gewichtig in Stellung brachte, eine Pfeife im Mund, dann die rote Fahne mit Schwung senkte. Das Signal ertönte. Die Läufer setzten sich in Bewegung, in einem riesigen Pulk, erst langsam, dann an Tempo zulegend, etwas chaotisch und sich hier und da ins Gehege kommend. Bestimmt dreihundert Teilnehmer waren es, die eng zusammengedrängt die ersten Schritte machten, den Rhythmus noch suchend. Einer der älteren Läufer wäre in dem wilden Gemenge fast gestrauchelt, fing sich aber wieder. Dann wurde der Raum zwischen den Sportlern schnell größer, und schon hatte sich eine Spitzengruppe vom Hauptfeld abgesetzt.
Simon folgte nun doch Nicolas Vorschlag und sie machten sich auf den Weg weiter nach Süden, zu dem Strand in Lagna. Oben am Parkplatz stellten sie Vespa und Fahrrad ab und gingen zu Fuß hinunter zum Ufer, wo der Marathonparcours auf einen erdigen schmalen Pfad führte, parallel zu einem lang gezogenen Strand, der im Sommer bei den Einheimischen besonders beliebt und mit dem unverstellten Blick auf die vorgelagerte, rundum mit alten Häusern bebaute Isola San Giulio eine der attraktivsten Stellen am See war. Hier mussten bald die ersten Läufer eintreffen und mit Abstand dann der Pulk. Das Feld hatte sich inzwischen wahrscheinlich schon sehr gestreckt.
Nicht nur Simon und Nicola waren auf die Idee gekommen, den Marathon hier, an dieser übersichtlichen Stelle, zu verfolgen. Hinter der Absperrung ballten sich erwartungsvoll die Zuschauer, und vor dem Kiosk mit ein paar Tischen und roten Plastikstühlen hatte sich unter hohen Bäumen eine Schlange gebildet. Simon blickte auf das Treiben, ließ die muntere Atmosphäre auf sich wirken, hoffte, dass sie ihn anstecken würde, aber unwillkürlich musste er zurückdenken an ein Ereignis im Winter des letzten Jahres, was seine Stimmung eher noch etwas mehr verdüsterte.
Genau hier an diesen Strand war vor gut einem Jahr eine tote Nonne angeschwemmt worden, ermordet, eine wunderschöne junge Frau, gerade mal zwanzig Jahre alt. Nur wenige Monate zuvor war sie aus Deutschland in das Kloster auf der Insel gekommen. Allein bei dem Gedanken an diese Geschehnisse, ausgerechnet in der Weihnachtszeit, spürte Simon eine ähnliche Beklemmung wie damals. So scharf, als wäre es gestern gewesen, tauchten die Bilder wieder vor ihm auf, der frostige Morgen, an dem alles angefangen hatte, der verwaiste Strand, die zierliche Frau mit der Wunde am Hinterkopf, die Leichenträger, die sie in den Zinksarg hoben und abtransportierten. Aber unvermittelt rissen ihn jetzt die ersten Läufer und das Gejohle, mit dem die Schaulustigen sie empfingen, wieder aus seinen dunklen Gedanken.
In der Spitzengruppe waren gut zwanzig Läufer, darunter zwei Frauen, die, ohne aus dem Tritt zu kommen, zu den Wasserflaschen griffen, die ihnen die Ordner entgegenhielten, sie dann im Weiterlaufen über ihren Köpfen ausschütteten, statt aus ihnen zu trinken. Der Himmel war nunmehr wolkenlos und von der kühlenden Brise nichts mehr zu spüren, der See still und spiegelglatt, die Isola San Giulio ragte flirrend aus dem Wasser wie an einem brütend heißen Augusttag. Wieder einmal dachte Simon, wie perfekt sie war, sozusagen der Inbegriff einer Insel, so klein und rund und kompakt, wie ein Modul aus einem Modelleisenbahnkatalog. Simon wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Die Hitze machte ihm langsam zu schaffen, und je mehr er schwitzte, umso weniger bedauerte er es nun, dass er an dem Marathon nicht teilnahm. Wahrscheinlich war es besser, seinem ohnehin manchmal stolpernden Herz die Anstrengung bei diesen Temperaturen nicht zuzumuten.
Wieder näherte sich eine Gruppe Sportler, wieder brandeten Applaus und Gejohle auf, auch Anfeuerungsrufe, die einzelnen Läufern galten. »Avanti, Carlo, forza Silvana!«
Simon machte es Spaß, die Teilnehmer zu beobachten – dieses vielfältige Spektakel unterschiedlicher Laufstile. Da gab es Geschmeidige, die rund liefen wie eine Nähmaschine, und Hektiker, die sich eigenartig zuckend bewegten. Andere waren so schleppend unterwegs, dass man um sie fürchtete, sich fragte, ob sie die lange Strecke überstehen würden. Es gab die Nervösen, die Bedächtigen und die Dynamischen. Unter denen, die eher schleppend auf der Piste unterwegs waren, entdeckte Simon auch seinen Erzfeind, Davide Longhi, Chef der regionalen Tourismusbehörde. Einer, der am See etwas zu sagen hatte, auch wenn das meist nicht zu dessen Bestem war, fand jedenfalls Simon. Ein Wichtigtuer, mit dem er schon öffentlich aneinandergeraten war, ein Schnösel, der, wenn er Simon begegnete, stets ein abfälliges ciao, tedesco, auf den Lippen hatte. Dem hätte er es bei dieser Gelegenheit gerne gezeigt, schoss es Simon durch den Kopf. Also doch schade, dass er nicht mitlaufen konnte!
»Avanti, Davide«, schallte es schon aus dem Publikum, und es klang ganz nah. Simon wandte sich um und entdeckte nur wenige Meter entfernt den ihm nicht weniger verhassten Bruder des Managers, Claudio Longhi, mit hochrotem Kopf, seine Leibesfülle in ein sportliches Trikot gezwängt, auch wenn er hier nur Zuschauer war. Aber besser so, dachte Simon. Um den hätte man sich wirklich Sorgen machen müssen …
Simon drehte sich um, schaute wieder nach den Läufern, die jetzt in einem großen Feld an ihm vorbeizogen. Wo war eigentlich Nicola? In dem ganzen Trubel und weil seine Aufmerksamkeit dem Marathon und den Longhis gegolten hatte, hatte er sie aus den Augen verloren. Er blickte sich suchend um. Nichts. Auch Buffon war nirgendwo zu sehen, kein Laut von ihm zu hören. Dann entdeckte Simon ihren roten Haarschopf in der Schlange am Kiosk, wo sie sich wahrscheinlich ein Eis holte, vielleicht sogar auch eins für ihn, und er beschloss, ihr entgegenzugehen.
Aber was war das? Mit einem Schlag hatte sich die Geräuschkulisse verändert. Die Anfeuerungsrufe waren verstummt, irgendetwas musste passiert sein, Aufregung lag spürbar in der Luft. Die Zuschauer reckten die Köpfe, blickten alle in dieselbe Richtung, zu der Gabelung gut zweihundert Meter weiter, wo der Uferweg hinter einer Mauer verschwand. Eine tückische Stelle, wie Simon von seinen eigenen Joggingrunden wusste. Da gab es am Boden ein paar tief im Erdreich verankerte Wurzeln, über die man leicht stolpern konnte, auch wenn sie vor jedem Wettlauf in knalligem Orange markiert wurden.
Die Situation hatte sich im letzten Herbst noch verschlimmert, weil ein Hochwasser den Boden weiter ausgehöhlt und die Wurzeln noch mehr freigelegt hatte. Wenn man genau hinsah, erodierte seither eigentlich der ganze Strand.
Jetzt stockte der Marathon an der Stelle, wo die Wurzeln waren. Einige Läufer waren stehengeblieben, bückten sich, gingen in die Knie, und tatsächlich sah es aus der Ferne so aus, als läge dort jemand am Boden. Vielleicht war einer der Läufer über die Wurzeln gestolpert? Die Ordner waren sofort dorthin geeilt und hatten alle Hände voll damit zu tun, die Zuschauer auf Abstand zu halten. Auch Simon war neugierig, aber Voyeurismus lag ihm nicht, also hielt er sich zurück und blieb, wo er war. Er wartete auf Nicola, die jetzt mit zwei Eistüten in der Hand und mit Buffon hinter sich auf ihn zugelaufen kam. »Was ist denn da vorne los, hast du eine Ahnung, Simon?«
»Nein, habe ich nicht. Sieht so aus, als ob da jemand gestürzt ist. Oder umgefallen. Das wäre ja auch kein Wunder bei der Hitze.«
»Da siehst du es. Ich habe es dir gleich gesagt. Gut, dass du nicht mitgelaufen bist …«
Jetzt riss Simon doch der Geduldsfaden. »Behandle mich bitte nicht ständig wie einen alten Mann.«
»Okay, okay. Komm, dann schauen wir mal, was da los ist.« Sie ergriff Simons Hand und zog ihn in Richtung der vermutlichen Unfallstelle. Etwas widerwillig gab Simon nach.
In der Ferne ertönte jetzt ein Martinshorn und kurz darauf kämpfte sich auf dem schmalen Uferweg ein Rettungswagen mit Blaulicht durch die Menge. Dahinter ein Motorrad der Carabinieri. Als die Maschine auf gleicher Höhe mit Simon war, erkannte er trotz des schweren Helmes, wer sie lenkte: Carla. Auch sie bemerkte ihn aus den Augenwinkeln und nickte ihm zu.
Verdutzt nickte Simon zurück. Das war schon wieder etwas, was er nicht von ihr gewusst hatte. Carla war zweifellos sportlich und trotz ihrer schmalen Gestalt robust, aber auf einem Motorrad hatte er sie noch nie gesehen. Jetzt zog es ihn doch an den Ort des Geschehens, unter die Schaulustigen, dorthin, wo Carla war.
Er hielt sich allerdings weiter im Hintergrund, wie auch Nicola. Beide vermieden sie aufdringliche Blicke. Aber es reichte, um zu begreifen, was dort los war. Ein nicht mehr junger und ziemlich stämmiger Mann lag seitlich auf dem Boden, die kräftigen Beine unter den Shorts in eigenartig gekrümmter Haltung, offenbar nicht bei Bewusstsein. Vielleicht hatte er einen Kreislaufkollaps, womöglich sogar einen Herzinfarkt erlitten. Arzt und Rettungssanitäter gingen routiniert ihrem Job nach, und es vergingen keine fünf Minuten, bis der Mann, mit der nötigen medizinischen Ersthilfe versehen, auf eine Trage gehoben, in den Krankenwagen verfrachtet und abtransportiert wurde.
Der Marathon ging weiter, einer nach dem anderen hatten sich die Läufer nach anfänglichem Zögern wieder auf den Weg gemacht, und es dauerte nicht lang, bis fast alle Teilnehmer den Strand passiert hatten und auch die Zuschauer sich allmählich verliefen.
Carla kam auf Simon zu. Sie hatte ihre Uniformjacke geschultert, sah in ihrem hellblauen Polizeihemd verschwitzt und erschöpft aus, sogar ihre grünen Augen waren ungewöhnlich matt. Ihr Mailänder Begleiter war nicht mehr an ihrer Seite, und Simon verkniff sich die Frage, wo er abgeblieben war.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie.
»Wissen Sie, was mit dem Mann passiert ist?«, fragte Simon zurück.
»Nein, aber der Arzt schien sehr besorgt. Könnte sein, dass er das nicht überlebt.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ja, Sie etwa nicht? Es ist Franco Borletti, ein Reis-Unternehmer aus Vercelli. Der war in letzter Zeit öfter in der Zeitung. Fragen Sie mal Ihren Kollegen Gianluca Rossi von Il Giorno. Mit dem sind Sie doch befreundet, der kann Ihnen sicher mehr erzählen.«
Der Name Borletti löste tatsächlich eine vage Erinnerung bei Simon aus, er musste etwas über ihn gelesen habe, aber was es gewesen war, fiel ihm im Augenblick nicht mehr ein. Eigentlich ließ er sich nur ungern bei Gedächtnislücken auf die Sprünge helfen, schon gar nicht von Carla, aber dann fragte er doch: »Und was war mit dem, was ist an diesem Borletti so interessant, dass er damit in die Zeitung gekommen ist?«
»Trinken wir einen Espresso zusammen? Den könnte ich jetzt gut gebrauchen. Und wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen dann kurz etwas dazu.«
»Ja, einverstanden.« Carla ahnte wahrscheinlich nicht, wie sehr er sich über ihren Vorschlag freute. Es war selten vorgekommen, auch in Zeiten, in denen sie sich häufiger begegneten, dass Carla ihm einen Barbesuch antrug, einfach so, ohne jeden beruflichen Hintergrund.
Sie wandte sich an Nicola: »Und was ist mit dir? Also mit euch?« Wieder strich sie Buffon über die Schnauze, der ihr den Kopf entgegenstreckte und sich ihre Geste wohlig gefallen ließ. Der Hund war ihr ähnlich ergeben wie Simon. »Was ist, kommt ihr beiden auch mit?«
»Nein. Mir reicht es für heute, ehrlich gesagt. Ich drehe oben noch eine kleine Runde mit Buffon, und dann geht es mit dem Fahrrad zurück nach Ronco. Da hat der Hund noch genug vor sich. Der ist ja auch nicht mehr der Jüngste.« Sie grinste Simon an.
Das mit dem Hund war wohl nur ein Vorwand, ahnte Simon. Nicola wusste von seiner Schwäche für Carla und gönnte ihm offenbar die Zweisamkeit mit der Polizistin. Obwohl sie es ihm niemals verzeihen würde, wenn er eine Affäre mit Carla hätte, da war er sich sicher. Dafür war Nicos Faible für Luisa zu ausgeprägt. Vielleicht wollte sie auch nur ihre Sticheleien wiedergutmachen.
Sie drückte Simon einen Kuss auf die Wange, rief Buffon zu sich, der gerade hingebungsvoll eine weggeworfene Eistüte ausschleckte, und verschwand mit dem Hund zu ihrem Fahrrad. »Ciao, junger Mann, wir sehen uns später«, rief sie Simon noch grinsend zu, als sie schon fast um die Ecke war.
»In der Bar an der Anlegestelle?«, fragte Carla und verschwand ebenfalls zu ihrem Motorrad.
Zehn Minuten später saßen sie sich beim Espresso gegenüber, draußen auf der Terrasse, wo es nicht mehr so heiß und außerdem der Wind wieder aufgefrischt war und für etwas Kühlung sorgte. Die Bar war weniger voll als vor dem Lauf, und sie hatten Glück und sofort einen freien Platz ergattert.
Seit Lino seine Bar in Pella zugemacht hatte und aus dem Ort verschwunden war, ohne dass jemand wusste, wohin, war die neue Bar am Anlegesteg der Verkehrsschiffe Simons Stammplatz für den morgendlichen Cappuccino geworden. Er hatte allerdings eine Weile gebraucht, um sich umzustellen und an die neue Bar zu gewöhnen, obwohl sie schön war, die Terrasse einen wunderbaren Blick auf den See und die Insel bot und die Brioches gut schmeckten. Aber es war eben doch etwas ganz anderes als die alte Bar mit Linos volltönendem Bass, der lauten Espressomaschine, den Plastiktischen und dem stets laufenden Fernseher. Und zum Cappuccino gab es auch nicht mehr seine Frankfurter Nachrichten, das Blatt, das Lino immer für Simon vorgehalten hatte und für das Simon viele Jahre als Polizei- und Gerichtsreporter berichtet hatte. Solange, bis er sich plötzlich auf seine halb italienischen Wurzeln besann – seine Mutter war Italienerin –, sich für das Leben in Italien entschieden und das Haus am Lago d’Orta gekauft hatte. Das war inzwischen schon bald acht Jahre her. Und jetzt war mit der Printausgabe der Zeitung das letzte Stück Papier aus Simons Leben verschwunden und auch die Antwort auf die Frage, wie die Eintracht gespielt hatte, gab ihm nun das iPad.
Simon war keiner, der überfälligen Gewohnheiten nachtrauerte, und schon gar keiner, der in das Lamento über den angeblich zunehmenden Kulturverfall einstimmte. Aber es war natürlich ein Zeichen für den Wandel des Bel Paese, dass die alten Bars verschwanden und modischer und schicker gestrickte an deren Stelle traten. Am besten, fand Simon, hielt man sich jedoch immer noch an den sizilianischen Schriftsteller Tommaso di Lampedusa und seinen viel zitierten Satz aus dem Gattopardo, dass sich alles ändern muss, damit alles bleiben kann, wie es ist. Und für Kontinuität in der neuen Bar sorgte ein Quartett von Frauen, die sich früher jeden Morgen bei Lino getroffen und ihr Kartenspiel jetzt in die neue Bar verlegt hatten.
»Und was ist nun mit diesem Franco Borletti?«, fragte Simon und schnupperte an seinem duftenden Espresso, bevor er ihn mit einem Schluck austrank.
»Sie müssten ihn eigentlich aus Ihrer Küche kennen, Simone. Sie sind doch ein guter Koch, soviel ich weiß.«
»Naja, ich bemühe mich jedenfalls … Wenn Sie mögen, serviere ich Ihnen mal eine Kostprobe«, antwortete Simon.
Carla ging auf dieses durchaus ernst gemeinte Angebot nicht ein, verrührte den Zucker in ihrem Espresso, kippte ihn dann ebenfalls in einem Zug herunter, sah ihn an. »Riso Borletti, die Marke sagt Ihnen vielleicht etwas?«
»Ja, das habe ich, glaube ich, schon mal gehört.«
»Die machen Risotto-Reis, Carnaroli, Arborio, Roma, alles, was Sie wollen, aber im großen Format, auch Fertiggerichte mit Reis, also das, was Sie so im Regal im Supermarkt finden. Wahrscheinlich nicht ganz Ihr Fall, wie ich Sie kenne. Bei Ihnen geht es in der Speisekammer bestimmt etwas gehobener zu.« Carla sah nicht mehr so erschöpft aus und in ihren Augen war der alte Glanz, als sie ihn verschmitzt anblickte.
Diesmal war es Simon, der ihre Bemerkung überging.
»Borletti hat seine Reisproduktion bei Vercelli«, fuhr Carla unbeirrt fort. »Und ist vor ein paar Wochen damit in die Zeitung gekommen. Er soll Ware ausgeliefert haben, die Spuren von Unkrautvernichtern enthielt, und da gab es einen Krankheitsfall. Die Untersuchungen laufen aber noch. Er hält sich bedeckt, behauptet, das seien Manöver, Angriffe von Leuten, die ihm und Riso Borletti an den Kragen wollten, die Konkurrenz, auch die politische …«
»Wieso die politische?«
»Er ist ein Lega-Mann, ist in der Kommunalpolitik in Vercelli aktiv.«
»Also bei den Rechtspopulisten?«
»Ja. Aber ich weiß nichts Genaues darüber. Ich beschäftige mich nicht mit Politik, ist ja auch nicht mein Job. Jedenfalls steckt Borletti wohl ziemlich in Schwierigkeiten.«
Simon wollte noch eine Frage stellen, aber kam nicht dazu. Carlas Handy klingelte.
Sie ging sofort ran. Eine Weile hörte sie nur zu, dabei wurde ihre Miene mit einem Schlag sehr ernst. »Danke für die Information«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang noch etwas tiefer als üblich. »Ich kümmere mich darum. Und melde mich gleich wieder bei Ihnen.«
Sie legte ihr Handy zurück auf den Tisch, schwieg. Simon schaute sie erwartungsvoll an. Ihm war klar, dass sie gerade eine wichtige Information erhalten hatte.
Schließlich beugte Carla sich zu Simon vor, sah ihn an und sagte mit leiser Stimme: »Das war der Arzt aus dem Krankenhaus in Borgomanero. Borletti ist tot. Und die Symptome seien eindeutig, sagt der Arzt. Borletti ist vergiftet worden.«