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Eine halbe Stunde später saßen Simon und Carla auf der Terrasse einer Trattoria an der schönen Piazza Cavour in der Altstadt von Vercelli. Es war noch früh am Abend, aber nicht mehr so heiß. Sie bestellten beide Paniscia, einen nach einem alten Bauernrezept zubereiteten Risotto mit viel Butter, roten Zwiebeln, dem Weißen vom Speck sowie in kleine Brocken geschnittener Salami, dazu tranken sie einen Rotwein aus Ghemme, den Simon so mochte. Es schmeckte köstlich, und die laue Abendluft tat ihnen gut.

»Und, Simone?«, fragte Carla. »Was halten Sie von der Signora? Was sagt Ihnen Ihre Spürnase?«

»Sie war es nicht.« Er griff zu seinem Glas, trank einen kräftigen Schluck Wein. »Obwohl mir natürlich zwischendrin durch den Kopf gegangen ist, ob sie nicht einfach nur besonders raffiniert ist.«

»Ich verstehe, was Sie meinen.«

»Aber ich habe das dann wieder verworfen. Die anderen möglichen Spuren sind viel plausibler. Außerdem scheint sie ein Alibi zu haben. Der Verwalter wird das vermutlich bestätigen, denke ich.«

»Das sehe ich auch so.« Sie hob ihr Weinglas. »Salute, Simone. Und danke, dass Sie mitgekommen sind.« Eigentlich wusste Simon nicht, wofür sie sich bei ihm bedankte. Er war den ganzen Tag über nur Statist gewesen. Aber vielleicht unterschätzte er auch seine Rolle.

Carla nahm den letzten Bissen von ihrem Risotto auf die Gabel, hielt jedoch auf halbem Weg inne. »Ich werde morgen Stefano nochmal dahin schicken«, sagte sie. »Der soll mit dem Verwalter reden und mit den Mitarbeitern. Und sich ansehen, was da alles an Drohungen reingekommen ist und sich nochmal mit den Kollegen in Vercelli verständigen.« Jetzt war der Bissen in ihrem Mund gelandet und sie kaute genüsslich, griff zu ihrem Glas und schickte noch einen Schluck Wein hinterher. Dann schob sie den Teller ein Stück von sich weg, sichtlich zufrieden, und sah Simon neugierig an. »Wo ist eigentlich Ihre Freundin? Luisa? Kommt die nicht über Ostern hierher?«

»Nein, sie ist in Frankfurt, sie kann nicht kommen«, erwiderte Simon kurz angebunden. Und wie immer interpretierte Carla seine wortkarge Auskunft richtig, belästigte ihn nicht mit weiteren Fragen, bestellte für sie beide Espresso und die Rechnung.

Als sie die Trattoria verließen, war es dunkel geworden. Sie hatten beschlossen, noch ein paar Schritte durch die Altstadt zu machen, bevor es zurück an den See ging. Alle Restaurants an der Piazza Cavour waren jetzt voll besetzt. Es brummte von Menschen und Stimmengewirr lag über dem Platz. War es der verfrühte Sommer, der so viele Leute auf die Straßen brachte?

In diesem Moment legte sich über das Palaver ein neuer, unbekannter Ton. Ein Rauschen und ein Trommeln, das nach Stockschlägen klang und aus der Richtung der Basilica di Sant’Andrea kam. Das Stimmgewirr verebbte, die Menschen in den Kneipen und auf der Piazza verstummten, und alle Blicke richteten sich auf die Ecke, an der die Via Bava auf die Piazza mündete und aus der jetzt ein unruhiger Lichtschein fiel, der immer heller wurde.

»Ach du meine Güte«, sagte Carla. »Das ist die Processione delle macchine, die da gleich um die Ecke kommt. Ich habe vollkommen vergessen, dass die ja heute stattfindet.«

»Macchine?«, fragte Simon erstaunt. »Autos?«

Die Antwort auf seine Frage erübrigte sich. Was da im Schein von Kerzen und Fackeln im Schritttempo näherkam, jetzt die Piazza Cavour erreicht hatte und ganz dicht an Simon vorbeizog, hatte gar keine Ähnlichkeit mit Autos, sondern es waren lebensgroße, bunte Holzfiguren auf Podesten, die kräftige Männer in weißen und schwarzen Mönchskutten auf ihren Schultern durch das nächtliche Vercelli trugen. Es sah nach schwerer Arbeit aus und es war ein bisschen wie Kino, dachte Simon. Jedes Podest stellte eine Szene dar, wie Bilderfolgen aus einem Film. Da wurde Jesus gerade von zwei Soldaten grob gepackt, dann – auf dem nächsten Podest – war er allein, stand aufrecht, das Kreuz geschultert. Das war alles sehr eindrucksvoll, aber auch ein bisschen schaurig, fand Simon.

»Um was geht es da?«, wandte er sich an Carla, die, wie er sich erinnerte, in Religionsfragen wesentlich kompetenter war als er.

»Das ist ein uraltes Ritual. Die Prozession findet schon seit dem 18. Jahrhundert statt. Immer am Karfreitag um dieselbe Zeit. Ich hatte völlig vergessen, dass es heute Abend wieder so weit ist. Die einzelnen Wagen stellen die Stationen des Kreuzwegs dar. Es ist ein bisschen wie bei euch in Deutschland bei den Karnevalsumzügen. Jede Bruderschaft hat ihren eigenen Wagen und ihre eigene Skulptur. Die da zum Beispiel stellt die Dornenkrönung dar.«

Sie zeigte auf eine macchina mit einer Jesusfigur in tiefrotem, um die Lenden geschlungenem Tuch, umringt von drei Männern, die dem Gottessohn den dornigen Kranz aufsetzten.

Simon hatte Carla aufmerksam zugehört, fand ihren Vergleich mit dem deutschen Karneval aber vollkommen unpassend. Sie war bestimmt noch nie in Köln oder Düsseldorf gewesen. Was da an ihnen vorüberzog, hatte mit den knalligen Pappmaché-Karikaturen der rheinischen Narren wenig gemein, es waren inbrünstige Schmerzens-Inszenierungen, ein theatralischer Auftritt, dem sich selbst ein so nüchterner Geist wie Simon kaum entziehen konnte.

Carla schaute auf ihre Uhr. »Simone, es wird leider Zeit für mich. Ich muss zurück, ich muss noch aufs Revier in Omegna. Da gibt es jede Menge Schreibkram zu erledigen. Tut mir leid, Sie würden das hier bestimmt gerne noch weiterverfolgen.«

Sie hatte recht. Simon fiel es tatsächlich schwer, sich von dem Spektakel loszureißen. Aber Carlas Job ging natürlich vor. »Kein Problem«, sagte er. »Sie wissen ja, dass ich mit Religion nicht viel am Hut habe, allerdings schon ziemlich neugierig bin. Und das hier, das ist wirklich sehr interessant, und ich muss zugeben, auch bewegend.«

Carla kam nicht dazu, ihm zu antworten. Ihr Handy klingelte.

»Pronto.« Sie hörte eine ganze Weile schweigend zu. »Das sind tatsächlich überraschende Neuigkeiten«, sagte sie schließlich, und es klang ernst. »Ich bin noch in Vercelli, wollte aber gerade zurück an den See starten. In spätestens eineinhalb Stunden bin ich auf dem Revier.«

Sie steckte ihr Handy zurück in die Jacke, sagte aber nichts, schien die Information, die sie gerade bekommen hatte, noch zu verarbeiten. Simon blickte sie fragend an. »Neuigkeiten?«

»Ja, das war Stefano. Die Flasche, aus der Borletti getrunken hat, ist gefunden, und der Giftstoff analysiert worden, ein Unkrautvernichtungsmittel. Ob es das ist, das bei Borletti entwendet wurde, werden wir sehen. Jedenfalls war es ein Stoff, der sehr schnell wirkt. Es ist also möglich, dass er die Flasche unterwegs an einem Stand von einem Ordner bekommen hat. Und zwar erst kurz bevor er am Strand in Lagna zusammengebrochen ist.«

Carla kramte unvermittelt in ihren Taschen, suchte nach ihrem Autoschlüssel. Sie war verstummt. Simon fragte sich, was mit ihr los war. Irgendetwas stimmte nicht. Aber dann wendete sie sich ihm genauso abrupt wieder zu und sah ihm direkt in die Augen. »Sie kennen doch diesen Paolo Morandi?«

»Ja, warum? Er ist oder war, das weiß ich nicht so genau, der Freund von Nicola.«

»Er ist bei uns auf dem Revier, Simone.« Sie machte eine Pause. »Stefano spricht gerade mit ihm. Er war Ordner an diesem Stand. Und er ist offenbar einer von den militanten Umweltaktivisten, die den Shitstorm gegen Borletti veranstaltet haben. Meine Kollegen verdächtigen ihn. Er könnte es gewesen sein, der Borletti die Flasche mit dem Gift gegeben hat.«

Acqua Mortale

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