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Hinter der Ausfahrt nach Ghemme, einem kleinen Ort, in dessen Hinterland es ein paar Rebhänge gab, die einen weniger bekannten, aber von Simon besonders geschätzten piemontesischen Wein lieferten, wechselte die Landschaft längs der Autobahn ihr Gesicht. Sie näherten sich schnell Vercelli – und nun war rundum Wasser. Hier begann das Reisanbaugebiet, das größte in Europa, wie Simon wusste, seit er im letzten Jahr schon einmal mit Carla in diese Gegend gefahren war. Soweit das Auge reichte, weitete sich eine flache, kunstvoll von Kanälen und Schleusen durchzogene Landschaft mit riesigen, fast geometrisch angeordneten und mit einem Nivelliergerät auf gleichmäßige drei Zentimeter Höhe eingeebneten Feldern, die jetzt im späten April meist geflutet waren. Gespeist wurden die Kanäle unter anderem von einer großen Wasserader, dem Canale Cavour. Das von einem Politiker dieses Namens im 19. Jahrhundert erdachte geniale Bauwerk brachte das Wasser des Po über ein weitläufiges Netz in die Reisfelder und schuf so die Voraussetzungen für deren großflächige Bewirtschaftung. Eigens dafür angestellte Arbeiter, die acquaioli, sorgten dafür, dass das mit System geschah, kontrollierten die Schleusen und dosierten die Wasserzufuhr.

In den von Erdwällen eingefassten Becken stand spiegelglatt das Wasser, hier und da ragte eine schiefe Pappel am Wegesrand hervor oder säumten Büsche die Kanäle. Ein paar Fischreiher spähten nach Beute, und in der Ferne erhob sich eine Schar Enten aus dem Wasser. Mittendrin lagen weit verstreut und isoliert die Landgüter, kleine Bastionen, oft in Backstein gemauert, die den Reis für den Risotto lieferten, den Carnaroli und den Arborio – Köstlichkeiten der piemontesischen Küche, die Simon gerne selbst zubereitete, am liebsten mit Steinpilzen oder mit Spargel oder mit Gorgonzola und Birnen oder …

Es war eigentlich eine eher eintönige Landschaft, die sich dort in der platten Ebene bis zum Horizont und im Norden auf die gewaltige Westalpenkette zu streckte. Aber je nach Jahreszeit und Wetter veränderte sie vollkommen ihr Gesicht und entfaltete ungeahnte und immer wieder neue Reize. Bei Simons letztem Ausflug mit Carla in der Weihnachtszeit war sie in dichten Nebel gehüllt und im Dunst verschwommen, und das hatte sehr poetisch ausgesehen. Jetzt brannte die Sonne auf die Felder herunter, versilberte das Wasser in den Becken und setzte die ganze Ebene in ein hartes Licht mit scharfen Konturen.

Um diese Zeit waren früher Saisonarbeiterinnen aus ganz Italien in das Reisgebiet gekommen, um sich für einige Wochen für das Unkrautjäten, die monda, zu verdingen. Es war Schwerstarbeit gewesen, stundenlang standen die mondine mit gebeugtem Rücken bei oft glühender Hitze im Wasser der Reisfelder, das damals noch viel höher war. Aber so hart der Job war, zugleich war er für die meist jungen Frauen eine der wenigen Möglichkeiten, Geld zu verdienen – und für ein paar Monate der familiären Kontrolle zu entkommen. Stattdessen waren sie allerdings der Willkür der Gutsbesitzer ausgeliefert. Riso Amaro, Bitterer Reis, hieß der 1949 gedrehte Spielfilm mit Silvana Mangano, der die Saisonarbeiterinnen in Szene gesetzt hatte, ein Meisterwerk des italienischen Neorealismus, für Simons Geschmack allerdings etwas zu melodramatisch.

Aber die Zeit der mondine war schon lange vorbei. Inzwischen hatte man für die Unkrautvertilgung andere und, wie im Fall von Franco Borletti, vielleicht manchmal bedenkliche Mittel dagegen gefunden; der gesamte Reisanbau war mechanisiert und von den Reisgütern, früher richtige kleine Dörfer, waren die Menschen weitgehend verschwunden. Das blieb auch so, wenn im Herbst die Landschaft erneut ihr Gesicht veränderte, das Wasser abgelassen wurde, die Felder gelb wurden, die Körner in den Rispen reif waren und das Rohprodukt schließlich mit Mähdreschern geerntet wurde. Bis dahin hatten die Reispflanzen mindestens hundert Tage im Wasser verbracht, von der dort gespeicherten Wärme und den fruchtbaren Sinkstoffen profitiert.

Aber nicht nur der Reis gedieh gut im Wasser, wusste Simon. In den überfluteten Wiesen wuchsen auch die Quälgeister der kommenden Wochen und Monate heran. Sie waren eine Brutstätte für Stechmücken, die eine solche Plage sein konnten, dass sie mit Helikoptern aus der Luft bekämpft werden mussten. Im Sommer saßen viele Reisbauern in Schutzkäfigen auf ihren Terrassen, um sich dieser Peiniger zu erwehren.

Beim Blick vom Auto auf die weiten Wasserflächen hatte Simon schon das helle »bssssss« der Stechmücken im Ohr. An seinem See blieb er allerdings weitgehend von ihnen verschont, denn da tauchten sie nur an manchen Tagen auf, je nach Wetterlage, vorzugsweise wenn es schwül war, und am liebsten in der Dämmerung. Dann konnten die Sommerabende auch auf seiner Seeterrasse unangenehm werden. Von Nicola, der angehenden Tiermedizinerin, wusste Simon, dass nur die Weibchen stachen, um mit dem Blut ihre Brut zu versorgen, und damit kehrten seine Gedanken zu der möglichen Giftmörderin zurück.

»Wohin fahren wir denn zuerst?«, wandte er sich an Carla. Sie hatten die Autobahn verlassen, näherten sich Vercelli und Carla folgte nun den Anweisungen ihres Navis.

»Zu ihm nach Hause. Zu der Frau, mit der er zusammengelebt hat. Der Deutschen, von der ich Ihnen schon berichtet habe. Ich hoffe, wir treffen sie an. Bei Borletti zu Hause geht niemand an den Apparat. Ich habe das schon mehrmals probiert, wollte mich bei ihr ankündigen. Ich muss ihr die Nachricht vom Tod Borlettis noch überbringen, wenn sie es nicht schon anderweitig erfahren hat. Und vielleicht weiß sie ja irgendetwas, ich baue da ganz auf Sie, Simone …«

»Und das Krankenhaus hat sie nicht schon längst informiert?«

»Nein, nur die Ehefrau. Die Geliebte nicht, das dürfen sie ja nicht.«

»Wie hieß die nochmal?«

»Berger, Signora Berger. Sonia Berger.«

»Und wie alt?«

»Weiß ich nicht, deutlich jünger als er jedenfalls. Ich habe mir Fotos von ihr angesehen, die hat Stefano mir besorgt, aus dem Netz.«

»Und?«

»Vielleicht um die dreißig. Keine Schönheit, aber ganz hübsch. Und blond natürlich.«

Das Wohnviertel am Stadtrand von Vercelli, durch das Carla jetzt den Jeep lenkte, war ausgesprochen luxuriös, beiderseits der Straße reihten sich Villen und Palazzi in weitläufigen Parks mit uralten Bäumen, ausladenden Zedern und sich schlank in den Himmel streckenden Zypressen und Palmen.

Vor einem mit Efeu bewachsenen, schmiedeeisernen Tor bremste Carla den Wagen ab, parkte ihn auf der anderen Straßenseite hinter einem ebenfalls hochpreisig aussehenden Sportwagen mit Hamburger Kennzeichen. Das Tor zur Villa stand halb offen, wie Simon schon im Vorbeifahren aus dem Auto heraus erstaunt bemerkte. Carla überprüfte noch vorsorglich ihr Halfter – in dieser Hinsicht war sie stets vorsichtig –, dann stiegen sie beide aus dem kühlen Wagen. Schlagartig überfiel sie wieder die Hitze dieses verfrühten Sommertages.

Es gab kein Namensschild am Tor und niemand öffnete auf Carlas Klingeln. Schließlich nahmen sie den Kiesweg zu der etwas höhergelegenen Villa, vorbei an einem großen Springbrunnen mit verwitterten Drachenköpfen, aus deren weit aufgerissenen Mäulern nur ein Rinnsal floss. Umso üppiger gediehen rund um die Villa Bougainvillea und Oleander, Wildrosen und Magnolien. Schwerer Blütenduft hing in der warmen Luft. Carla schien jedoch kein Auge für die botanischen Schönheiten zu haben, wirkte im Gegenteil beunruhigt und steckte Simon damit an, denn auf den siebten Sinn der Polizistin, das wusste er inzwischen, konnte man sich verlassen. Vielleicht fürchtete sie aber auch nur die Begegnung mit einem Wachhund. Keine unbegründete Sorge, wie Simon aus schlechter Erfahrung wusste. Auch er hatte daher schon nach einer Hundehütte oder einem Wassernapf Ausschau gehalten, aber nichts dergleichen auf dem Grundstück entdeckt.

Am Ende des Kieswegs führte eine weiße Marmortreppe hoch zum Eingang der Villa, mit tiefen Stufen, die gesäumt waren von Zitronenbäumen voll reifer, sattgelber Früchte. Auch die schwere Eichentür oben stand einen Spalt offen. Carla griff zu ihrer Waffe, stieß die Tür mit dem Fuß vollends auf und mit einem knappen, unmissverständlichen Blick signalisierte sie Simon, dass er ihr nicht folgen sollte.

Natürlich hielt er sich nicht daran und ging ihr nach. Er würde doch die Polizistin in einer womöglich gefährlichen Situation nicht allein lassen. Sie war eine mutige Frau. Vielleicht aber in diesem Fall doch etwas vorschnell? Denn eigentlich, ging es Simon durch den Kopf, brauchte sie einen Durchsuchungsbeschluss. Aber Carla war wohl der Meinung, dass Gefahr im Verzug war. Allerdings sollte sie dann besser Verstärkung anfordern, überlegte Simon. Aber er hielt den Mund. Mit seinen notorischen Alleingängen war er zweifellos der Falsche, um ihr solche Ratschläge zu geben. Inzwischen war sie schon ein Stück weiter, sah sich im Eingang vorsichtig nach allen Seiten um, entdeckte kopfschüttelnd Simon hinter sich, der beschwichtigend die Hände hob. Aber sie ließ ihn gewähren, ob nun aus Resignation oder weil sie doch froh über seine Begleitung war.

Die Halle, in die sie kamen, war mit dunkelrotem Marmor gefliest und bis auf einen alten Sekretär und einen riesigen Wandspiegel vollkommen leer. Eine geschwungene Steintreppe führte hoch ins erste Stockwerk, linker Hand stand die Tür zum Salon des Hauses offen. Ein Kamin, ausladende Sofas und Sessel, pastellfarbene Wände, Bleiglasfenster, ein Kristalllüster an der Stuckdecke. Aber keine Menschenseele, alles still und ausgestorben.

Es war unheimlich. Etwas stimmte hier nicht, das spürten Carla und Simon unabhängig voneinander. Sie schwiegen und spitzten beide die Ohren.

»Ist da jemand?«, rief Carla schließlich, die Pistole im Anschlag. Keine Antwort. War das Haus leer? Oder versteckte sich irgendwo jemand? Und wo war Sonia Berger? Der Sportwagen vor der Tür musste eigentlich ihrer sein. Warum war sie dann nicht da? Vielleicht machte sie nur einen Spaziergang, dachte Simon. Aber wer weiß.

Auch Carla gab keine Entwarnung. Noch immer lag die Pistole schussbereit in ihrer Hand. Jetzt ging sie damit auf die Treppe zu, nahm gewohnt forsch die ersten Stufen. Simon wollte ihr wieder folgen, aber diesmal war der Blick, den sie ihm zuwarf, so eindeutig, dass er sich fügte und tatsächlich zurückblieb.

Er würde dann eben das Parterre und den Eingang im Auge behalten, während Carla im oberen Stockwerk unterwegs war. So konnte er reagieren, falls doch jemand plötzlich auftauchen sollte, ein Verfolger oder Sonia Berger selbst. Vielleicht machte die doch nur einen Spaziergang, führte den Hund aus und kehrte plötzlich ins Haus zurück. Dann könnte er ihr den unangemeldeten Besuch kurz erklären. Er würde also Wache stehen, solange Carla sich oben umschaute, und gab ihr so wenigstens etwas Schutz.

Über ihm tat es einen Schlag. Simon fuhr zusammen. Das kam aus dem ersten Stock. Jetzt zögerte er keinen Moment, schon war er am Fuß der Treppe, nahm mit Schwung die ersten Stufen. Aber da kam Carla ihm bereits entgegen, die Pistole abgesenkt und mit entschuldigendem Blick.

»Tut mir leid, Simone, ich habe Ihnen bestimmt einen schönen Schrecken eingejagt, bin aber bloß über einen Hocker gestolpert, also alles okay. Und da oben ist auch niemand. Es sieht eigentlich alles ganz normal aus. Keine Unordnung. Kein Blut. Die Schränke voll mit Kleidern. Vielleicht ist die Signora nur mal kurz weg und gleich wieder zurück.«

Simon atmete tief durch. Es dauerte einen Moment, bis sein Herz wieder ruhig schlug und er ihr antworten konnte. »Mag sein, ja. Obwohl es schon sonderbar ist, dass hier alle Türen offen stehen. Ich vermute, in diesem Haus gibt es einiges Wertvolles zu holen. Da schließt man doch eigentlich die Türen hinter sich zu, wenn man es verlässt, oder?«

»Eigentlich ja. Zumal da oben im Ankleidezimmer reichlich Schmuck herumliegt und der sieht nicht gerade billig aus. Also waren jedenfalls keine Einbrecher am Werk. Die hätten den mitgehen lassen.« Sie steckte ihre Pistole weg. »Ich nehme mir nochmal die Räume hier unten vor. Sie halten bitte weiter den Eingang im Blick, Simone, ja?«

Simon nickte.

Carla wandte sich nach rechts zur nächstgelegenen Tür, griff doch wieder zu ihrer Waffe, bevor sie sie mit Schwung öffnete. Sofort wich sie zurück. Simon war mit einem Satz bei ihr, blickte ihr über die Schulter. Der Raum sah aus wie ein Schlachtfeld. Es musste das Arbeitszimmer von Franco Borletti sein. Anders als der elegante Salon war er nüchtern und zweckmäßig eingerichtet. Am Schreibtisch waren alle Schubladen aufgezogen, ihr Inhalt wild auf dem Boden verteilt. Der Schreibtischstuhl umgeworfen, die Regale weitgehend leer geräumt, die Ordner zum Teil geöffnet. Kein Computer war zu sehen, aber ein Netzkabel und ein Drucker.

Hier hatte zweifellos jemand etwas gesucht. Aber was? Konnte das Sonia Berger gewesen sein? Hatte sie etwas mit dem Tod ihres Geliebten zu tun? Aber warum hätte sie so ein Chaos anrichten sollen? Wo war sie? Warum stand ihr Auto dann vor der Tür? Wenn sie es nicht war, war es Borlettis Mörder, der hier im Arbeitszimmer gewütet, den Schreibtisch durchwühlt und den Computer mitgenommen hatte? Und hatte Sonia Berger den Eindringling vielleicht überrascht, ihn bei seiner hektischen Suche gestört? Was hatte er gesucht? Den Computer hatte er, so wie es aussah, mitgenommen. Und hatte er womöglich auch der Deutschen etwas angetan? Simon wusste, dass Carla die gleichen Fragen durch den Kopf schossen. Im Moment gab es darauf keine Antworten. Alles war mehr als rätselhaft.

»Ich muss die Kollegen hier in Vercelli informieren«, sagte Carla und zückte schon ihr Handy. »Wir brauchen außerdem die Spurensicherung, das sollen die Kollegen ebenfalls übernehmen. Dieser Sonia Berger ist auch etwas passiert, das sagt mir mein Instinkt.«

Acqua Mortale

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