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Carla trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Die Uniformjacke locker geschultert, stand sie mitten in Borlettis Arbeitszimmer, neben ihr ein ebenfalls uniformierter Kollege aus Vercelli, der leise und eindringlich auf sie einredete. Bei seinem Eintreffen hatte er Carla überschwänglich mit Handschlag begrüßt, ihre Hand dann einen Moment zu lange festgehalten, bis sie sie ihm entzog. Die beiden mussten sich von irgendwoher kennen, vermutete Simon.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung und ein weiterer Carabiniere waren damit beschäftigt, alles in dem chaotischen Raum zu fotografieren und die verstreuten Gegenstände und Unterlagen in Kisten zu packen, während Simon sich abseits hielt, das Geschehen beobachtete, sich aus der Distanz jedes Detail einprägte, ganz wie er das früher als Polizeireporter an einem Tatort immer gemacht hatte.

Er sah Carla an, dass sie endlich aufbrechen wollte; für sie gab es in der Villa nichts mehr zu tun. Der Kollege bemerkte ihre Ungeduld nicht, redete weiter auf sie ein, und sie wurde immer unruhiger. Schließlich strich sie sich, wie um ein Aufbruchssignal zu senden, die Haare aus der Stirn, setzte ihre Kappe auf und fiel ihm unvermittelt ins Wort. »Kommen wir doch bitte zurück zur Sache, collega«, sagte sie in schroffem Ton.

Der Carabiniere verstummte und sah sie überrascht an.

»Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, hat das Verschwinden von Signora Berger mit dem Mord an Franco Borletti zu tun«, fuhr sie eine Nuance freundlicher fort, als ob sie sich selbst bei einem Übermaß an Schroffheit ertappt hatte. »Sie halten mich jedenfalls auf dem Laufenden über das, was Sie herausfinden.«

»Selbstverständlich informiere ich Sie über alles, Maresciallo«, erwiderte der Polizist, trotz Carlas rüdem Tonfall höflich und fast etwas zu bemüht. »Wir tun, was wir können, um die Signora zu finden. Hier in Vercelli war sie nicht gemeldet, und eine Handynummer von ihr haben wir auch nicht. Das Auto da draußen gehört jedenfalls ihr und zugelassen ist es auf sie in Hamburg, das haben wir schon überprüft, und wir haben jetzt auch ihre deutsche Adresse.«

»Und was ist mit den Nachbarn, vielleicht haben die ja etwas mitbekommen von dem, was hier passiert ist?«

»Da sind wir dran. Einer von unseren Leuten hört sich gerade in der Nachbarschaft um. Und wir werden natürlich Kontakt mit den Kollegen in Deutschland aufnehmen. Darum kümmere ich mich gleich persönlich. Es könnte ja sein, dass es für das alles hier eine einfache Erklärung gibt, ein Streit zum Beispiel, und die Signora Berger ist nach Hamburg zurückgefahren.«

Carla schüttelte den Kopf. »Ohne Auto?«, fragte sie lakonisch. »Außerdem sieht es hier danach wirklich nicht aus«, fuhr sie fort, »und Sie sollten auch nicht vergessen, dass wir einen Toten haben, dem die Signora Berger nahegestanden hat und der vergiftet wurde. Ich fahre jetzt jedenfalls zu dessen Firma und spreche mit seiner Frau. Ich hoffe, die weiß mehr und kann uns weiterhelfen. Wir hören dann voneinander.«

Carla drehte sich abrupt auf dem Absatz um und verließ schnurstracks den Raum, ohne Simon irgendein Zeichen zu geben. Einen Moment zögerte er, dann folgte er ihr unaufgefordert. Sie war rauer im Umgang geworden, das stand fest. Immer schon war sie beherzt, energisch und direkt gewesen, keine Umwege gegangen. Womit sie Simon von Anfang an beeindruckt hatte und was ihm gut gefiel, genauso wie die Tatsache, dass sie niemals gefühlig war. Aber sie hatte durchaus eine empfindsame Seite, wie er inzwischen wusste. Allerdings war von der zurzeit weniger zu spüren. War es der harte Polizeialltag, der auch bei ihr seine Spuren hinterließ?

Wortlos setzte er sich zu ihr ins Auto und schwieg auch noch, als sie die neue Adresse in ihr Navi eingab und den Wagen startete. Die erste Kurve aus dem Villenviertel heraus nahm sie mit so viel Schwung, dass der Wagen leicht ins Schleudern geriet. Simon protestierte.

Carla nahm sofort den Fuß vom Gas. »Sorry, Simone«, sagte sie. »Sie haben ja recht.«

»Ist irgendetwas?« Simon versuchte, seine Frage beiläufig klingen zu lassen. Carlas Innenleben ging ihn ja nichts an.

»Ist schon okay.«

Sie fuhr nun langsamer und sie schwiegen wieder. Hinter der Stadtgrenze von Vercelli nahmen sie die Provinzstraße in südliche Richtung. Bis zu Riso Borletti konnte es nicht mehr weit sein.

»Ich kannte den Kollegen«, sagte Carla unvermittelt.

»Aber Sie mögen ihn wohl nicht besonders?«, wagte Simon sich mit einer Frage vor.

»Nein, das ist es nicht, darum geht es nicht.« Sie machte eine Pause. »Schauen Sie bitte mal vorne ins Handschuhfach, Simone. Da müssten Trüffel sein. Sie können sich gerne auch bedienen.«

Er hielt ihr die Tüte hin, sie nahm sie entgegen, schob sich eine Kugel in den Mund, ließ sie sehr langsam auf der Zunge zergehen, sagte eine Weile nichts mehr.

»Er ist der Kollege eines Kollegen.« Carla sprach jetzt leise, mit noch tieferer Stimme als gewöhnlich. Sie schob einen weiteren Trüffel nach. »An den ich nicht so gerne erinnert werde.«

Simon kam eine Ahnung, wovon sie sprach. Ein Kollege von Carla, der, davon war er inzwischen überzeugt, ganz sicher mehr als das gewesen war, war vor ein paar Wochen in Deutschland in der Nähe von Frankfurt ermordet aufgefunden worden. Zwei Jahre hatte er da im Dickicht gelegen, bis ein Spaziergänger mit einem Hund zufällig an der Stelle vorbeikam und seine Überreste fand.

Der tote Carabiniere gehörte zu einer Spezialtruppe, die zur Frankfurter Sanitärmesse entsandt worden war, um Fälschungen italienischer Produkte auf die Spur zu kommen. Er musste im Zuge dessen auf eine Mafia-Fährte geraten sein, die er einsam und mit fatalem Ende verfolgt hatte. Simon hatte von dem Fund der Leiche gehört. Ein Kommissar aus Frankfurt, den er noch aus seiner Polizeireporter-Zeit in der Mainstadt kannte und den er vor langer Zeit auf Carlas Bitte schon einmal in dieser Vermissten-Angelegenheit kontaktiert hatte, hatte ihn unmittelbar nach der Entdeckung des Toten informiert, und Simon hatte sich eigentlich sofort bei Carla melden wollen, die ganz sicher auch davon erfahren hatte, aber er hatte das dann doch sein lassen. Und dann war einfach zu viel Zeit seit der Todesnachricht vergangen und es war zu spät dafür gewesen.

»Sie wissen doch, von wem ich rede, oder?«, fragte Carla.

»Ich denke ja.«

»Und Sie wissen auch, dass er tot ist?«

»Ja.«

Sie schwiegen wieder.

»Wollen Sie darüber sprechen?«, fragte Simon.

»Nein«, sagte Carla und packte die halbvolle Trüffeltüte ins Seitenfach. »Wir sind ohnehin gleich da. Da vorne ist Riso Borletti.«

Das ist kein Bauernhof, das ist eine Fabrik, dachte Simon, als sie auf die flachen, nüchternen Gebäude zufuhren. Auf dem Dach in kapitalen roten Neonlettern der Schriftzug Riso Borletti, um den Betrieb herum ein großes planiertes Gelände, auf dem sich Paletten viele Meter hoch türmten und ein paar Firmenwagen und ein Gabelstapler standen.

Carla und Simon hatten das Auto in einer Ecke abgestellt, in der einige Privatfahrzeuge parkten, und steuerten jetzt auf den verglasten Eingang zu. Gerade kam ein Lastwagen angefahren, rauschte an ihnen vorbei und hielt an einer etwas erhöhten Plattform weiter hinten, die nach einer Warenausgabe aussah. Der Fahrer sprang heraus, blickte sich suchend um, stieg zurück auf den Fahrersitz, hupte mehrmals.

Es war alles wie leer gefegt, hier draußen niemand zu sehen. Und es roch auch nicht. Simon dachte an die Brotfabriken, die wenigstens einen verlockenden Duft von Backwerk verströmten, bevor man ihrer ansichtig wurde. Und er hatte das Jasmin-Aroma in der Nase, das in seiner Küche aufstieg, wenn er Reisgerichte zubereitete. Nichts von dem lag hier in der Luft. Und genauso wenig erinnerte dieses Unternehmen an das traditionelle Reisgut, das er vor gut einem Jahr bei seiner letzten gemeinsamen Ermittlung mit Carla besucht hatte, einen mitten in den Feldern gelegenen, bestechenden Dreikanthof aus Backstein.

»Sie sind überrascht?«, fragte Carla. »Das haben Sie sich wohl ein bisschen anders vorgestellt?«

Simon nickte, obwohl er seine Naivität ungern zugab. Was Industrieproduktion anging, hatte er aus einem weit zurückliegenden, nach wenigen Semestern abgebrochenen Ökonomiestudium durchaus einen gewissen Sachverstand, schrieb sogar hin und wieder von Italien aus Wirtschaftstexte für ein kleines deutsches Magazin. Und es war auch nicht das erste Mal, dass er mit industrieller Lebensmittelherstellung konfrontiert war. Allerdings wusste er auch – und daher rührte vermutlich seine Überraschung – dass die meisten Reisproduzenten in der Region eine lange Tradition hatten, und dass ihre Betriebe, auch wenn sie modernisiert und fast vollständig mechanisiert waren, oft noch in der Hand von alteingesessenen Familien waren und ihren Sitz auf deren alten Landgütern hatten.

»Borletti macht eben viel mehr als nur Risotto-Reis«, erläuterte jetzt Carla. »Die kaufen den Reis in großen Mengen von den Produzenten an der internationalen Reisbörse in Vercelli ein und machen damit auch Fertiggerichte, Reispfannkuchen, Reissnacks und dergleichen mehr. Also alles, was Sie vermutlich selbst nicht essen.« In ihren Augen stand wieder das alte schelmische Glitzern.

Am Eingang in den Betrieb fiel Simons Blick auf ein Graffito an der Außenwand – im gleichen Neonrot und ähnlichen Lettern wie der Firmenschriftzug auf dem Dach: attenzione riso tossico. Die Warnung vor giftigem Reis sah ziemlich frisch aus. Es konnte nicht allzu lange her sein, dass jemand das an die Wand gesprüht hatte.

»Sehen Sie das?«, wandte er sich an Carla.

»Ja klar, ich bin ja nicht blind. Und ich habe Ihnen doch erzählt, dass Borletti jede Menge Ärger hat …«

Ein Pförtner nahm sie in Empfang, führte ein kurzes Telefonat und wies ihnen dann den Weg in den ersten Stock, wo Elena Borletti ihr Büro hatte.

»Was wissen Sie eigentlich über die Signora Borletti?«, fragte Simon auf dem Weg durch einen trostlosen Flur, den Landschaftsaufnahmen aus den Reisfeldern etwas aufhellten – endlose schilfgesäumte Becken, Vögel mit spitzen Schnäbeln an einem Bewässerungsgraben, leuchtend grüne Reispflanzen in graublauem Wasser, eine hölzerne Schleuse, Nebelschwaden über gelben Wiesen –, da war sie noch, die Poesie der Reisfelder.

»Nicht sehr viel«, antwortete Carla. »Sie scheint aber recht umtriebig zu sein, tanzt auf vielen Hochzeiten, in allen möglichen Institutionen, Vereinen und Stiftungen, außerdem züchtet sie Pferde. Die sind ihre große Leidenschaft, sagt Stefano.«

»Und in dem Unternehmen? Was genau macht sie da? Wissen Sie schon mehr darüber?«

»Der Boss des Unternehmens ist ihr Mann. Sie hält sich weitgehend heraus, kümmert sich aber, soviel ich weiß, ein bisschen um das Marketing«, sagte Carla. »In ihrer Haut möchte ich zurzeit nicht stecken. Mit den ganzen Problemen, die sich ihr Mann aufgehalst hat, die jetzt wahrscheinlich bei ihr landen.«

Auch Elena Borletti war eine Überraschung, entsprach jedenfalls nicht Simons Erwartungen, und langsam fragte er sich, ob sein Blick auf die Welt zunehmend von Vorurteilen und Klischees getrübt war. Eine Alterserscheinung? Was hatte er eigentlich erwartet? Den Auftritt einer eleganten, weltgewandten italienischen Unternehmerin, einer Gestütsbesitzerin, die bella figura machte? Jedenfalls nicht diese große, sehr energische und im Oberkörper ein wenig in die Breite gehende Frau mit einem wachen Gesicht unter sehr kurzem braunrotem Haar. Sie war ungeschminkt und ganz ohne Schmuck, auch ohne Ehering, wie Simon sofort bemerkte. Zu flachen, teuer aussehenden Schuhen trug sie eine dunkle Jeans und eine gestreifte Bluse, die über ihrem üppigen Busen etwas spannte. Ihr Auftreten war selbstsicher und gelassen, zugewandt, aber zugleich etwas kühl. Das Lächeln, mit dem sie sie begrüßte, entblößte ihre großen, blendend weißen Zähne. Menschen, die Pferde liebten und täglich mit ihnen umgingen, sahen diesen Tieren oft etwas ähnlich, fiel Simon ein. Auf Signora Borletti traf das jedenfalls zu.

In ihrem geräumigen, aber sparsam möblierten Büro bot sie ihnen zwei Cocktail-Sessel an einem runden Glastisch an, dazu Espresso und Amaretti-Kekse, also gottlob keine Reisplätzchen, wie Simon schon befürchtet hatte. Carla stellte Simon kurz vor, aber die Signora Borletti schien seine – in diesem Fall eigentlich unbegründete – Anwesenheit nicht weiter zu interessieren. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz Carla, die der Signora ihr Beileid ausdrückte, wofür diese sich freundlich bedankte, zugleich aber allzu große Anteilnahme an dem Verlust zurückwies. »Meinen Mann und mich hat außer der Firma nicht mehr viel verbunden«, sagte sie. »Und auch da bin ich schon lange eher außen vor, das Unternehmen ist in erster Linie Sache meines Mannes, er führt die Geschäfte und geht dabei seine eigenen Wege.« Sie machte eine Pause, sah Carla direkt ins Gesicht. »Wege, die ich nicht immer mitgehen möchte. Ich vermute, Sie wissen, wovon ich rede.«

Carla nickte.

»Jedenfalls habe ich mich schon vor einiger Zeit von ihm getrennt«, fuhr Elena Borletti fort. »Es wäre geheuchelt, wenn ich behaupten würde, dass mir Francos Tod besonders nahegeht. Ehrlich gesagt, hätte ich ihn selbst manchmal gerne umgebracht, ich komme also durchaus als Mörderin in Frage …« Sie lächelte mit ihren großen Zähnen und biss in einen Amaretto.

»Ach ja?«, sagte Carla, nahm einen Schluck von ihrem Espresso, erwiderte dann im gleichen ironischen Ton: »Nehmen wir trotzdem mal an, dass Sie ihn nicht ermordet haben. Haben Sie denn einen Verdacht, wer ihm das angetan haben könnte?«

»Er hat sich viele Feinde gemacht in letzter Zeit. Aber davon wissen Sie ja. Das ist ja alles durch die Presse gegangen. Und Ihre Kollegen ermitteln ja auch noch gegen ihn. Da kommen sicher einige in Frage, aber konkreter kann ich das nicht sagen.«

»Und wann haben Sie ihn eigentlich zuletzt gesehen?«

»Gestern, am späten Vormittag, hier im Betrieb, bevor ich so gegen 12 Uhr mit dem Verwalter in die Reisfelder aufgebrochen bin. Wir waren dann den ganzen Nachmittag unterwegs.«

»Wer ist das?«

»Der Verwalter?«

»Ja. Wie heißt der?«

»Signor Romano. Bruno Romano. Der arbeitet schon seit Jahrzehnten in der Firma. Das ist ein sehr zuverlässiger Mann.«

»Kann ich mit ihm sprechen?«

»Heute ist er nicht in der Firma. Er macht Besorgungen. Aber sonst, ja, natürlich. Warum?«

»Reine Routine«, sagte Carla. »Soweit ich weiß«, fuhr sie fort, »kümmern Sie sich doch um das Marketing. Warum sind Sie denn dann draußen in den Feldern unterwegs?«

»Verstehen Sie etwas von Marketing?«, fragte Signora Borletti zurück.

»Nein.«

»Das dachte ich mir. Nehmen Sie noch einen Keks?« Sie schob Carla den Teller mit den Amaretti zu. »Es ist gut, wenn Sie so einen Job nicht nur vom Schreibtisch aus erledigen. Ich mache solche Gänge regelmäßig mit Signor Romano, normalerweise einmal im Monat, außer im Winter. Ich sagte Ihnen ja schon, dass die Firma Sache meines Mannes ist und mein Engagement eher bescheiden. Aber ich liebe es, draußen zu sein, und diesen naturverbundenen Teil der Arbeit übernehme ich sehr gern, und schaden kann es auch nicht, wenn man das hauseigene Produkt nicht nur aus der Tüte kennt … Wir haben uns überall den Wasserstand angesehen und die Schleusen überprüft.«

»Zurück zu Ihrem Mann. Ist Ihnen gestern Vormittag irgendetwas an ihm aufgefallen? War er vielleicht beunruhigt oder nervös?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber das muss nichts heißen. Er hat, also er hatte ein ziemlich dickes Fell. Und außerdem weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob mir überhaupt etwas aufgefallen wäre. Ich habe ihn nur sehr kurz gesehen, und wir haben ganz wenig miteinander gesprochen. Also nur das Nötigste.«

»Und wo waren Sie, als der Mord geschehen ist?«

Simon rechnete damit, dass Elena Borletti diese Frage aufgebracht zurückweisen würde. Aber sie blieb sich gleich, freundlich und gelassen. »Wie gesagt, da war ich noch in den Reisfeldern unterwegs. Wir sind erst gegen 18 Uhr zurückgekehrt. Da war mein Mann schon tot.« Sie machte eine Pause, aber besonders gerührt wirkte sie nicht, gab sich auch keine Mühe, Gefühle vorzutäuschen, dachte Simon, der sie aufmerksam beobachtete. »Signor Romano wird Ihnen das bestätigen.« Wieder die weißen Zähne und wieder ein herzhafter Biss in einen Keks.

»Ihr Mann hat noch eigene Felder und kauft den Reis nicht nur ein, den er verarbeitet?«

»So ist es, ja.«

»Sie haben gesagt, er habe sich in letzter Zeit viele Feinde gemacht. Hat es denn irgendwelche Drohungen gegeben?«

»Natürlich, haufenweise, auf allen Kanälen. E-Mails, ein Shitstorm im Internet …«

»Ein Shitstorm?«

»Ja, von ein paar jungen Leuten. Aus der Natur- und Umweltschutzecke, sehr militant. Die sind ihn äußerst rabiat angegangen. Das grenzte schon fast an eine Verabredung zur Lynchjustiz, würde ich sagen.«

»Wegen der angeblich verunreinigten Ware?«

»Ja, darum ging es natürlich. Dass mein Mann auf den Reisfeldern ein unerlaubtes Unkrautvernichtungsmittel eingesetzt haben soll. Ein Junge soll deshalb krank geworden sein … Aber davon wissen Sie ja.«

Carla nickte. »Ich schicke dann noch einen Kollegen zu Ihnen. Für den stellen Sie bitte zusammen, was Ihr Mann an Drohungen bekommen hat. Der Kollege wird sich das dann alles genauer ansehen.«

»Kein Problem.«

»Und ist an dem Vorwurf denn etwas dran?«

»Das müssen Sie Ihre Kollegen fragen. Die ermitteln ja noch. Ich habe damit nie etwas zu tun gehabt. Die ganze Produktionsseite ist«, sie zögerte einen Moment und verbesserte sich dann, »war ja wie gesagt ausschließlich Sache meines Mannes.« Sie unterbrach sich, schien nachzudenken, stellte dann selbst eine Frage: »Wissen Sie denn schon, mit was für einem Gift er umgebracht worden ist?«

»Nein, die Analyse läuft noch.«

»Ich frage Sie deshalb, weil Sie natürlich alle möglichen nicht ungefährlichen Stoffe hier in der Firma finden werden. Unkrautvernichtungsmittel und dergleichen. Die werden zwar unter Verschluss gehalten, aber offensichtlich nicht ausreichend. Bruno, also der Verwalter, hat jedenfalls kürzlich mitgeteilt, dass da etwas fehlt.« Sie griff erneut zu einem Keks und lehnte sich kauend in ihren Sessel zurück. »Was mich natürlich noch verdächtiger macht, nicht wahr, Signora?« Sie strahlte. Ihre Zähne waren wirklich sehr groß, dachte Simon. Aber inzwischen hatte er seinen ersten Eindruck von ihr revidiert. Er fand sie nun doch beeindruckend. Sie hatte etwas, eine Aura, mit der sie den Raum beherrschte und der man sich kaum entziehen konnte.

»Welcher Stoff ist denn entwendet worden?« Carla überging ihre Bemerkung und war jetzt hellwach.

»Der Stoff heißt Cabaryl. Das ist inzwischen nicht mehr zugelassen. Mein Mann benutzt es auch schon ewig nicht mehr. Aber es gab noch Restbestände davon.«

»Und Sie wissen nicht, wer das gewesen sein könnte?«

»Nein, keine Ahnung. Franco hat damals die Carabinieri informiert, und die sind vorbeigekommen, haben aber nichts herausgefunden.«

»Die aus Vercelli?«

»Ja.« Carla schüttelte den Kopf. Simon wusste, was in ihr vorging. Sie war fassungslos, dass ihr die Kollegen nichts von diesem Vorfall berichtet hatten.

»Und wann war das?«

»Das weiß ich leider nicht genau. Der Verwalter hat es jedenfalls vor zwei Wochen bemerkt. Vor sechs Wochen seien die fraglichen Flaschen noch da gewesen, sagt er. Da hat er sie zum letzten Mal gesehen und sich eigentlich vorgenommen, sie demnächst zu entsorgen. Inzwischen hat er das übrigens auch getan. Und vor einem Monat waren nachts Leute auf dem Gelände und haben dieses Graffito am Eingang gesprüht, das ist Ihnen bestimmt aufgefallen. Das waren vermutlich die Gleichen, die auch für diesen Shitstorm verantwortlich sind. Aber ob die das mit dem Cabaryl waren, weiß ich nicht. Ich kenne die natürlich nicht, das sind junge Leute, sehr engagiert, vielleicht ein bisschen zu engagiert. Aber bringen die jemanden um?«

»Gab es denn Einbruchsspuren?«

»Nein. Die Tür zu dem Lager war offen, als Signor Romano die Lücke im Bestand bemerkt hat. Er war allerdings überzeugt, sie abgeschlossen zu haben. Aber vollkommen sicher bin ich mir da, ehrlich gesagt, nicht, mir ist vorher schon hin und wieder mal aufgefallen, dass sie offen stand. Eigentlich geht es bei der Lagerung sehr strikt zu. Aber so ganz genau hat er es womöglich doch nicht immer genommen …«

Carla schüttelte den Kopf, fassungslos über die Informationen, die sie bekam, nahm aber den Faden gleich wieder auf. »Und wer könnte ihm sonst nach dem Leben getrachtet haben? Wie ist das mit dem Personal? Hat sich vielleicht jemand an ihm rächen wollen? Und zu diesem Zweck das Gift hier im Betrieb entwendet?«

»Die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind schon ganz lange dabei. Die sind vollkommen loyal, obwohl mein Mann ihnen in letzter Zeit nicht gerade Anlass dazu gegeben hat.«

»Das heißt?«

»Sie wissen ja wohl, dass er durch diese ganzen Vorwürfe und Verdächtigungen Absatzprobleme hat. Da hat es in der Folge Kurzarbeit und auch Entlassungen gegeben.«

»Wie viele Leute beschäftigt er denn eigentlich?«

»Insgesamt dreißig, und fünf davon hat er gekündigt oder in Kurzarbeit geschickt. Ich glaube, ihm blieb wirklich nichts anderes übrig. Aber es ist ja immer auch die Frage, wie man das macht … Und wen es trifft …«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Ich will eigentlich keinen bestimmten Namen nennen und jemand zu Unrecht verdächtigen.« Sie verstummte. »Eine junge Frau war allerdings besonders massiv …«

»Ich verstehe«, erwiderte Carla. »Können Sie mir eine Liste mit den Namen der Mitarbeiter zusenden, natürlich auch den Namen der Frau, von der Sie sprachen, mit ein paar Infos und den jeweiligen Adressen?«

»Ja, die bekommen Sie selbstverständlich. Obwohl Sie damit bestimmt Ihre Zeit und Energie vergeuden. Aber Sie müssen natürlich jeder Spur nachgehen. Sogar dann, wenn es eigentlich schon eine Hauptverdächtige gibt, nicht wahr?« Sie lachte wieder.

Diesmal lachte Carla nicht mit. Sie hatte offensichtlich genug von diesen Spielchen. Und waren es denn wirklich welche?, fragte sich Simon, der sich weiter aus der Befragung heraushielt, aber die Signora immer noch genau beobachtete. Oder war Elena Borletti nur besonders raffiniert mit ihren ironischen Selbstbeschuldigungen?

»Und seine Geliebte, Sonia Berger?«, fuhr Carla in betont ernstem Ton mit ihrer Befragung fort. »Was ist mit der? Kannten Sie die eigentlich persönlich?«

Signora Borletti ließ sich einen Moment Zeit, zum ersten Mal in diesem Gespräch wirkte sie nachdenklich, nicht mehr ganz so ungerührt. »Nein, ich kenne sie nicht. Ich habe sie aber einmal mit meinem Mann zusammen gesehen, zufällig, in einem Restaurant in Vercelli. Die beiden saßen ein paar Tische entfernt, und ich war mit einer Freundin da. Ich weiß noch nicht mal, ob die mich überhaupt bemerkt haben. Eine hübsche Frau, natürlich jünger als er, der Klassiker.« Sie unterbrach sich, richtete sich gerade in ihrem Sessel auf. »Aber wenn Sie mir Eifersucht unterstellen, liegen Sie falsch.« Wieder eine Pause. Dann kehrte das ironische Lächeln zurück in ihr Gesicht. »Ich hatte ja, wie gesagt, andere, wesentlich stärkere Motive dafür, ihn umzubringen.« Sie erhob sich mit Schwung. »Und jetzt, Signora Moretti, muss ich leider los. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben …«

Carla und Simon standen auch auf, wollten sich verabschieden. Aber Elena Borletti ging noch zu einem Regal, holte eine Kiste heraus, griff hinein, kehrte mit zwei Tüten zu ihnen zurück, drückte sie ihnen in die Hand, obwohl Carla freundlich den Kopf schüttelte, sie nicht annehmen wollte. Es waren doch die unvermeidlichen Reisplätzchen.

Acqua Mortale

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