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Die Schatten der Vergangenheit

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Arztroman

GLENN STIRLING

IMPRESSUM

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay mit Steve Mayer, 2017

(ehem. Titel: Ist meine Braut an allem schuld?)

Korrektorat: Dr. Frank Roßnagel

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Dr. Gert Wolfs Leben könnte unbeschwerter nicht sein: Er ist angesehener Arzt in einem Hospital, Inge Peschke, seine Braut, ist die Tochter eines schwerreichen Industriellen. Doch dann gerät es aus den Fugen, als seine Verlobte könne in einen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt wird, der beinahe eine junge Familie auseinandergerissen hätte. Gerts Prinzipien und sein Ehrgefühl führen dazu, dass er sich mit Inges Vater überwirft, weil dieser den Unfall vertuschen möchte. Damit macht er sich einen mächtigen Feind, der nichts unversucht lässt, Gerts Leben zu zerstören. Und dann regt sich auch noch ein schwarzer Schatten aus Inges Studentenzeit, der ihr Leben und ihre Existenz bedroht ...

„Nun gehen Sie doch endlich zur Seite, damit der Wagen durchkommt!“, rief der Polizist. Nur zögernd wich die Menge. Der weiße Notarztwagen rollte langsam bis an den Fußweg heran und hielt.

Zwei Polizisten drängten die Leute zurück, die neugierig auf die verletzte Frau gafften, neben der ein Mann kniete. Er streichelte ihre Wangen, als könne ihr das die großen Schmerzen nehmen.

Dr. Wolf beugte sich über die Verletzte. Dem jungen Manne sagte er:

„Gehen Sie mal weg, bitte!“

Er wandte sich zu den beiden Krankenträgern um und rief ihnen zu:

„Erst mal meine Tasche!“

Und zu den drei Polizisten sagte er:

„Nun bringen Sie mal die Leute weg hier! Das ist kein Rummelplatz!“

Die drei Polizisten gaben sich alle Mühe, doch es wurden eher mehr Zuschauer als weniger.

Die Frau war jung, und sie befand sich in anderen Umständen. Das sah Dr. Wolf sofort. Ihr Arm war verletzt, das Gesicht links von Glassplittern zerschnitten, doch davon konnten die großen Schmerzen nicht kommen.

„Hören Sie mich?“, fragte er die Frau, und sie sah ihn aus tränennassen Augen an.

Sie nickte kaum merklich.

„Im wievielten Monat sind Sie?“

„Siebten“, lispelte sie heiser.

„Die Trage!“, rief Dr. Wolf über die Schulter zurück.

Die beiden Krankenträger kamen, hoben in lang erprobter Routine die Verletzte auf die Trage und brachten sie in den Notarztwagen.

Erst jetzt, als er den beiden folgte, sah Dr. Wolf, was überhaupt passiert war. Er erkannte den Lastwagen, der gegen die Hauswand geprallt war und ein ganzes Stück von der Mauer herausgerissen hatte. Ein anderer Wagen schien nicht daran beteiligt zu sein.

„Kann ich mit, sie ist meine Frau?“, sagte jemand von der Seite her zu Dr. Wolf.

Er wandte den Kopf und sah den jungen Mann von eben. Sonnengebräuntes Gesicht, kräftige Statur und eine mit Staub bedeckte Lederjacke unterm Arm.

„Nein, Doktor, das geht nicht“, rief einer der Polizisten. „Er ist der Fahrer, er kann hier nicht weg! Die Karre kann ja nicht ewig so stehenbleiben.“

Der junge Mann gab Dr. Wolf einen Zettel.

„Rufen Sie bitte dort an, wenn ...“

Er sprach nicht aus, was sein würde oder könnte.

„Gut, wir bringen sie ins St.-Anna-Hospital. Melden Sie sich dort, sobald Sie können.“

Im Wagen verband Dr. Wolf zuerst die Schnitt- und die Armverletzungen, kleidete mit Hilfe der beiden Sanitäter die Frau aus, um nach anderen Verletzungen zu suchen. Es gab äußerlich keine. Doch infolge des Schocks hatte die Geburt eingesetzt. Zunächst noch mit heftigen Wehen. Dass die Geburt selbst nicht lange auf sich warten lassen würde, bemerkte Dr. Wolf am Abgang des Fruchtwassers.

Die Untersuchung musste sein. Dr. Wolf brauchte einen klaren Befund, bevor er sich entschied, ob sofort zum Krankenhaus gefahren werden musste oder ob lebenswichtige Dinge jetzt geschehen sollten.

Als er mit der Untersuchung fertig war, wusste er, dass eine normale Geburt ausgeschlossen sein würde. Das Kind hatte eine Steißlage.

Die Entscheidung war einfach: Auf schnellstem Weg ins Krankenhaus.

Dr. Wolf sagte es dem Fahrer, der lief nach vorn, schaltete Martinshorn und Blaulicht ein, rief einem der Polizisten etwas zu, und schon knatterte ein Motorrad. Der Polizist fuhr voraus, und schon ging es los.

In rasender Fahrt jagte der weiße Wagen mit zuckenden Blaulichtern und heulender Sirene durch die Straßen. Der rege Vormittagsverkehr behinderte die Fahrt, aber als sie endlich auf der breiten Ringstraße waren, kamen sie wieder schneller voran.

Dann endlich bog der Wagen in die Einfahrt des St.-Anna-Hospitals ein. Über Sprechfunk hatte Dr. Wolf bereits die Chirurgie verständigt. Die Frau wurde sofort in den OP Saal gebracht, und von nun an lag alles daran, den Wettlauf mit dem Tode zu gewinnen.

Der Oberarzt Dr. Holmann leitete die Operation: Kaiserschnitt.

Trotz größter Sorgfalt der Chirurgen kam es zu einer heftigen Blutung, als das Kind bereits geboren war. Dr. Holmann und Dr. Wolf kämpften um das Leben der Frau, versuchten mit sofort eingeleiteten Blutinfusionen den Verlust zu kompensieren, doch plötzlich machte der Kreislauf schlapp.

Strophantin und andere anregende Injektionen wurden gegeben. Dr. Wolf führte eine Herzmassage durch, und endlich, als ein Exitus fast unabwendbar schien, setzte das Herz wieder ein. Während zwei Hebammen sich um das Frühgeborene bemühten, konnten die Ärzte die Blutung stillen.

Der Assistenzarzt Dr. Brecht führte indessen eine weitere Blutinfusion durch, der Anästhesist kontrollierte weiter Atmung und Kreislauf sowie die Herztöne. Doch hier schien die kritische Situation überwunden zu sein.

Der Wettlauf mit dem Tode war in der ersten Runde gewonnen. Mutter und Kind – ein kleines Mädchen – lebten.

Eine Stunde später sprach Dr. Wolf den jungen Ehemann. Er hatte seine Frau noch nicht sehen können, das Kind jedoch schon durch eine große Glasscheibe. Er wusste auch, dass immer noch Lebensgefahr für seine Frau bestand, und wirkte verständlicherweise nervös und sehr besorgt.

Dr. Wolf beruhigte den jungen Mann wie ein Vater, obgleich er selbst in diese Rolle mit seinen fünfunddreißig Jahren schlecht passte. Aber die ganze Erscheinung des großen und kräftigen Arztes, seine tiefe Stimme und die Ruhe, die er ausstrahlte, verfehlten ihre Wirkung auf den jungen Unglücksfahrer nicht.

„Wie ist das denn überhaupt passiert?“, fragte Dr. Wolf. „Ich will Sie nicht ausquetschen, aber vielleicht sollten Sie einmal in Ruhe darüber reden, das könnte Ihnen helfen, den Schock zu überwinden.“

Der junge Mann wischte sich über die Augen. Dann zündete er sich mit zitternden Händen die Zigarette an, die Dr. Wolf ihm angeboten hatte.

„Ich fuhr die Ferenburger Straße lang, meine Frau saß neben mir. Ich wollte eigentlich nicht, dass sie mitfuhr, aber sie sagte, es machte ihr nichts aus, und außerdem wollte sie bei meiner Schwiegermutter in der Berliner Straße raus. Wir waren also gerade an der Stelle, wo es dann passiert ist, als links aus der Viktoriastraße ein Pkw herauszischt. Ein grauer Mercedes 220 S. Der kommt da mit einem Affenzahn raus, und ich bin schon viel zu nahe, um noch zu bremsen. Natürlich steige ich auf die Bremse, reiße das Lenkrad herum und knalle mit dem rechten Vorderrad an den Bordstein. Der ist da sehr hoch, wie ich nachher gesehen habe. Und da muss mir der rechte Vorderreifen geknallt sein. Natürlich riss es die Karre nach rechts und dann an die Hauswand dran. Meine Frau ist schon beim Bremsen gegen die Scheibe geflogen, ja und dann lag sie vor dem Sitz und schrie. Ich habe sie herausgehoben, aber da hat sie noch schlimmer geschrien ...“

„Und der Mercedes?“

Der junge Mann zuckte die Schultern.

„Weg. Ich habe nur gesehen, dass ’ne Frau am Steuer saß. Hellblond war sie, und eine blaue Bluse oder ein Kleid hatte sie an. Und der Mercedes hatte rote Polster.“

„Das Kennzeichen?“

„Ich habe das nicht mehr gesehen.“ „Keine Zeugen?“

„Genug Zeugen“, sagte er, „aber die Nummer hat kein einziger festgestellt. Die meisten sagen, es wäre ’ne Frau drin gewesen, aber es gibt welche, die sagen, sie hätte braune Haare gehabt, andere sagen, sie wäre rothaarig. Aber ich habe es genau gesehen. Blond war sie, hellblond. Und die Polster waren rot. Der Wagen grau, so richtig grau, wie viele Mercedes. Und ein 220 S war es, da kenne ich mich aus.“

„Aus der Viktoriastraße kam der Wagen. Hatte also keine Vorfahrt. Ist doch sogar eine Stoppstraße, nicht wahr?“, fragte Dr. Wolf, und so allmählich kam ihm ein schrecklicher Gedanke.

„Ja, und mit einem Affentempo kam die da raus. Fragen Sie mal den Polizisten, der hat sie gleich über Polizeifunk suchen lassen. Vielleicht haben die die Frau gefunden.“

Dr. Wolf nickte.

„Hoffentlich. Schreiben Sie mir bitte Ihre Adresse auf, damit ich Sie gegebenenfalls über den Zustand Ihrer Frau informieren kann. Haben Sie Telefon?“

„In der Firma ... Baustoffgroßhandlung Ritter in der Moebiusstraße. Die Nummer ist 23 65 66. Mein Name ist übrigens Heinz Hartwig. Aber ich habe alles schon der Schwester angegeben und ...“

„Danke, Herr Hartwig, das genügt.“

Dr. Wolf erhob sich.

„Ich hoffe, dass mit Ihrer Frau alles gutgeht. Nach menschlichem Ermessen müsste sie es jetzt schaffen.“

„Danke, Herr Doktor, vielen Dank!“

Als Hartwig gegangen war, saß Dr. Wolf noch lange an seinem Schreibtisch und überlegte. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, hob er den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer.

Eine weibliche Stimme meldete sich:

„Alwin Peschke und Co.“

„Wolf, geben Sie mir bitte die Privatwohnung.“

„Augenblick, Herr Doktor ...“

Nach kurzer Zeit meldete sich wieder eine Frauenstimme.

„Peschke.“

„Hier ist Gert. Bist du es, Inge?“

Die Frau am anderen Ende der Leitung lachte.

„Aber nein, lieber Gert, wann endlich kannst du unsere Stimmen unterscheiden? Hier ist deine gefürchtete Schwiegermama höchstpersönlich.“

Sie lachte wieder.

„Gefürchtet ist gut. Ist Inge nicht da?“

„Nein, das heißt, sie war da, aber nun ist sie schon wieder weg.“

„Mit dem Wagen? Ich meine: War sie vorhin mit dem Wagen weg?“

Die Frau lachte wieder.

„Eifersucht?“

„Nein, es ist nur eine Frage. Ich meine, Inge unterwegs gesehen zu haben. Bitte sag mir, ob sie mit dem Mercedes weggewesen ist.“

„Ja, aber jetzt ist sie mit dem Vertreter-VW unterwegs. Sie sagte, am Mercedes wäre was nicht in Ordnung. Ich habe dafür wenig Verstehste-mich. Gert, jedenfalls steht er in der Garage.“

„Danke, und wie geht es sonst?“

„Na, du bist gut, Gert. Ich komme mir vor wie ein Witwe. Meinen Mann sehe ich nur am Wochenende, und selbst dann ist er kaum ansprechbar, den Schwiegersohn sieht man auch nur an und ab, und Inge redet auch nur noch vom Geschäft wie ihr Vater, seit sie in der Firma ist. Kommst du heute Abend? Die Schnitzlers sind da und die Bauers. Ich glaube, es würde dir gut tun, wenn du mal was anderes siehst als nur Kranke.“

„Ja“, erwiderte er zögernd, „ja, ich werde versuchen, dass es klappt, dann komme ich. Grüß bitte Inge und Vater von mir.“

„Dann bis heute Abend, Gert! Ich freue mich, wenn du wieder mal zu uns kommst, du rarer Schwiegersohn in spe.“

*


EINE STUNDE LANG HATTE Dr. Gert Wolf noch Notarztwagen-Dienst. Doch es schien für heute glimpflich abzugehen. Die Fahrer im Bereitschaftsraum hatten den Polizeisender angeschaltet und hörten zu, was sich die Beamten in den Leitstellen und den Streifenwagen zu sagen hatten.

Dr. Wolf kam gerade herein und hörte eine Durchsage mit.

„Georg an alle. Georg an alle. Algier 26 ... mausgrauer Mercedes 220 S, leicht beschädigte hintere Stoßstange, rote Polster. Kennzeichen unbekannt. Fahrerin hellblond, blaues Kleid oder Bluse. Fahrzeug bog aus Viktoriastraße gegen 10 Uhr 15 nach links in die Ferenburger Straße ein, ohne Vorfahrt zu beachten. Verursachte schweren Verkehrsunfall mittelbar. Fahrerin beging Fahrerflucht. Der Wagen wurde am Rondell Herzogplatz vom Verkehrsposten gesehen und ist in Richtung Berliner Straße weitergefahren. Die Verkehrskontrolle am Luxemburger Ring hat er nicht passiert. Es besteht der Verdacht, dass dieses Fahrzeug sich noch im Bereich der Berliner Straße befindet. Besondere Aufmerksamkeit für Georg 23 und Georg 14. Ende.“

Dr. Wolf verließ mit gemischten Gefühlen das Zimmer. Und der Verdacht, es könnte Inge gewesen sein, verdichtete sich bei ihm immer mehr. Inge als Unfallstifterin. Inge, die Fahrerflucht beging. Seine Braut Inge Peschke.

*


ALWIN PESCHKE WAR DAS, was man Mann mit Erfolg nennen konnte. Anzusehen war ihm das auch. Sein Körperumfang hatte beträchtlich zugenommen. Abgenommen hingegen hatte der Haarwuchs, hier klafften große Lücken. Seit einigen Jahren trug Peschke eine Brille, allerdings nahm er sie sofort ab, wenn er sie nicht unbedingt brauchte.

Eine Zementfabrik gehörte Peschke. Er bestimmte die Preise dort. Er besaß auch neun Bimsgruben, und dort Bagger, Raupen, Fertigungsanlagen für Presssteine, Hohlblocksteine und Platten. Eine Ziegelei gehörte Peschke.

Dann kamen die Autobahnneubauten. Peschke stieg groß ein. Geld kam zu Geld. Die Stadtverwaltung entdeckte ihn endlich. Bisher hatte die Firma Ritter das Material für Stadtbauten geliefert. Die Mannschaft, die von ihm Lohntüten bezog, wuchs auf fünfhundert Mann, nicht gerechnet die mehr als dreihundert Ausländer, die für ihn in den Bimsgruben Platten, Steine und Hohlblöcke fertigten.

Peschke wurde Stadtrat. Peschke wurde zum Mäzen für Kunst und Wissenschaft, indem er die Renovierung des Albert-Museums zum Selbstkostenpreis mit Baumaterial belieferte. Oder das neue Gymnasium, das ebenfalls ohne Gewinn für ihn von seinen Baustoffen errichtet werden konnte.

Und bei Peschke stieg der Blutdruck. Die Zeit, sich einmal gründlich vom Arzt untersuchen zu lassen, hatte Peschke nicht. Er hatte überhaupt nie Zeit. Die vielen Mitarbeiter brauchten ständige Beschäftigung. Das hieß: Aufträge sammeln. So etwas erledigte Peschke selbst.

Er musste Essen geben, Parties veranstalten, oder, wie er es nannte, „Butter bei die Fische tun“.

Ein Glück, dachte er oft, dass seine Tochter Inge so tüchtig mithalf. Und ob sie das tat. Ihr lagen Ministerialdirektoren zu Füßen. Regierungsräte rollten verliebt die Augen, wenn Inge mit ihnen verhandelte.

Aber jetzt diese Party seiner Frau. Nein, sagte er sich, hier ist auch absolut keine einzige Mark zu verdienen. Und dann noch im dunklen Anzug, Kerzenlicht und diesen ganzen Quatsch, den er so hasste. So etwas tat doch kein vernünftiger Mensch in der wirklich freien Zeit. Sagte sich jedenfalls Herr Peschke.

Gelangweilt blickte er auf die kalten Platten, die seine Frau auffahren ließ.

Wo Inge nur blieb? Hatte Helene nicht gesagt, Gert würde kommen? Helene war übrigens seine Frau. Und Gert? Na ja, ein anderer Schwiegersohn wäre ihm lieber gewesen. Arzt! Wie konnte ein vernünftiger junger Mensch nur Arzt werden? Peschke schüttelte verständnislos den Kopf. Nachts raus, immer bei kranken Menschen, Not und Elend ringsum. Nee, dachte Peschke. Not und Elend sind nichts für unsereiner. Aufbauen, Steine, Zement, Lastwagen, Straßen, Häuser, Brücken, das zeigte doch etwas, das gab doch ein Bild ab. Und man sah etwas dafür. Gute harte Markstücke. Na ja, so hart waren sie auch nicht mehr wie einst im Mai, aber ... Lassen wir das. Also Arzt ist er, wird er wohl auch bleiben. Wenn kein Wunder geschieht, sagte sich Peschke, verdient er mit siebzig nicht viel mehr als jetzt. Menschenskind, und wo doch das Geld auf der Straße liegt, im wahren Sinne des Wortes. Und dann Arzt.

Nee, also der richtige Schwiegersohn ist das nicht. Ein Kaufmann wäre ihm lieber gewesen oder der lange Dürre, der ihm den Lieferungsauftrag für die neue Rheinbrücke bei Köln für die Konkurrenz weggeschnappt hatte, dieser – na, wie hieß er denn gleich? – ach ja, Sievertz! Ja, dieser dürre Sievertz, das war schon ein cleverer Junge. Zwar ein bisschen alt für Inge mit seinen vierzig Lenzen, aber was hieß das denn? Mit vierzig fängt das Leben erst richtig an. Mein Gott, und nach dem Aussehen geht man sowieso nicht, wenn einer so clever ist wie dieser, dieser... Sievertz, richtig! Den Namen sollte man sich merken. Ist auch noch Junggeselle, da hatte sich Peschke schon erkundigt. Ja, und statt dessen will Inge diesen Arzt heiraten. Wenn der wenigstens Oberarzt wäre oder Chefarzt, aber das ist er nicht mal. Na ja, hat auch ein paar Jahre als Schiffsarzt vertrödelt. Meine Güte, wie diese Menschen sich nur ihre Zukunft vorstellen. Als würden sie tausend Jahre alt. Und dann sein Schwiegersohn.

Er holte sich eine Zigarre aus der Schachtel, biss sie ab und zündete sie sich an. Bekam ihm neuerdings auch nicht mehr so recht. Wie mit dem Alkohol. Anschließend hatte er immer solches Herzklopfen. Ach was, wird schon wieder vorübergehen.

Seine Frau gab den beiden Dienstmädchen noch Anweisungen, dann kam sie in ihrem golddurchwirkten Abendkleid zu ihm herüber. Peschke lächelte gequält. Das Abendkleid erinnerte ihn an eine Gardine in irgendeinem Ministerium, das Gehabe seiner Frau erschien ihm verkrampft und lächerlich. Sie passte nicht in dieses Kleid und diese Umgebung. Dachte er.

Sie hingegen dachte: Er ist wieder dicker geworden. Wie ein Bauernknecht lehnte er dort. Blass sieht er aus. Er sollte doch einmal zum Arzt gehen. Statt dessen schickt er mich von einem Bad zum anderen.

Sie sah auf die Uhr. Gleich neun.

Inge war noch nicht da. Wo sie nur blieb?

Jeden Augenblick mussten Schnitzlers kommen. Bauers kamen ja immer zu spät, daran hatte sie sich schon gewöhnt. Ach, und Gert, der war ja auch angemeldet.

„Na, Helene?“, fragte Peschke, die Zigarre im Mundwinkel.

„Du musst wieder einen neuen Anzug haben, Alwin. In diesem siehst du aus wie ein Bursche, der den Konfirmationsanzug verwachsen hat. Wo nur Inge bleibt?“

„War sie heute Abend bei Ritter?“

„Nein, sie sagte, dort würde sie morgen hinfahren. Sie hätte noch etwas einzukaufen.“

Peschke nahm entrüstet die Zigarre aus dem Mund.

„Ich hatte ihr ausdrücklich gesagt, dass sie zu Ritter hinfahren soll. Wie kann sie da ...“

Frau Peschke hob beschwörend die Hände.

„Bitte, Alwin, schrei mich nicht an! Was habe ich damit zu tun? Was weiß ich denn, ob das wichtig ist oder nicht.“

Er donnerte die Faust aufs Büfett, dass die Gläser sprangen.

„Natürlich ist das wichtig. Morgen früh kommen diese Kerle von der Regierung und reden mit dem alten Ritter.“

„Willst du es mir nicht erklären? Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Na ja, die Leute in der Regierung wollen jetzt den kleinen Buden auch ein paar Brosamen lassen. Für die neue Betonstraße soll Ritter liefern. Ich komme an den Auftrag nicht heran, aber ...“

„Aber nun willst du Ritter das abjagen?“, fragte sie spitz.

„Unsinn! Er soll den Auftrag in Gottes Namen haben. Aber ich wollte ihm Bitumen und den Zement liefern ...“

„Hast du noch nicht genug?“, fragte sie kopfschüttelnd.

„Ach, du verstehst das ja alles nicht. Blöd genug, dir das überhaupt zu erklären. Wenn es nach dir ginge, säße ich noch in der Hundehütte in der Wilhelmstraße und wäre Buchhalter bei Schmalgraf und Hensold. Wo wären wir denn, wenn ich nicht zugesehen hätte, dass etwas herumkommt, wie?“

„Wir wären dann vielleicht glücklicher und vor allem noch miteinander wirklich verheiratet“, erwiderte sie schlicht.

Er knallte seine Zigarre aufs Parkett, stampfte wütend mit dem Fuß auf und wandte ihr den Rücken zu.

„Jetzt reicht’s mir aber!“, knurrte er.

Sie hob die Zigarre auf, kehrte mit einer Papierserviette die Glut zusammen und ging still weg. Als sie zurückkam, war Gert gekommen.

*


„TAG, MEIN JUNGE“, sagte Peschke und lächelte mühsam. „Von den anderen ist noch keiner da. Auch nicht übel. Willst du 'ne Zigarre?“

Dr. Wolf schüttelte den Kopf. Sein Blick durchstreifte die geräumige Halle, überflog die Leckerbissen auf dem Büfett und blieb an Frau Peschke hängen, die gerade durch die hintere Tür eintrat.

Jedes Mal, wenn er zu Peschkes kam. hatte er das Gefühl, in eisige Atmosphäre zu geraten. Anfangs war er des Glaubens gewesen, das gälte ihm, doch seil einiger Zeit wusste er, woran es lag. Die Peschkes vertrugen sich nicht sonderlich. Und heute Abend war es besonders schlimm.

Frau Peschke versuchte die gedrückte Stimmung zu überspielen, aber es gelang ihr schlecht. Die Begrüßung war etwas zu herzlich, zu launig, um Dr. Wolf täuschen zu können.

„Inge ist noch immer nicht zurück. Das verstehe ich nicht“, meinte Frau Peschke. „Sie wollte noch etwas besorgen. Vielleicht ist sie bei Jutta.“

„Wer ist Jutta?“, fragte Herr Peschke mürrisch.

„Aber Alwin, das weißt du doch. Diese kleine mollige Freundin von ihr.“

„Ach so, diese Möpsin, ja, ich entsinne mich.“

Er goss sich einen Whisky ein und leerte das Glas mit einem Zug.

„Aber Alwin, wenn Inge das hört. Wie du nur über unsere Bekannten sprichst!“, sagte Frau Peschke empört und lächelte dann Dr. Wolf zu. „Mein Mann ist ein wenig überarbeitet. Schlimm ist das in der letzten Zeit. Es überrennt ihn fast. Er ist immerzu in wilder Hetze.“

Peschke machte ein saures Gesicht, als er seine Frau das sagen hörte.

„Gert, komm mit, wir gehen nach nebenan. Hier komme ich mir vor wie auf dem Bahnhof. Ich habe da einen uralten Sherry, magst du den?“

Er wartete gar nicht ab, ob Dr. Wolf wollte, sondern nahm zwei Gläser vom Büfett und ging voraus.

Peschkes Salon, wie seine Frau den Raum nannte, war ganz in Leder gehalten. Ledermöbel, Ledertapeten, der Fußboden ganz mit Schafsfell belegt.

Peschke ließ sich in einen der Ledersessel sinken und holte aus einer danebenstehenden Ledertruhe eine Sherryflasche heraus.

„Setz dich, mein Junge. Setz dich!“

Er goss ein und schob Dr. Wolf auf dem kleinen runden Rauchtisch das Glas entgegen. „Das Beste, was man hierzulande an Sherry bekommen kann.“

Sie prosteten sich zu und tranken.

„Hmm“, sagte Dr. Wolf, „der ist wirklich gut, nur verstehe ich zu wenig davon, um ihn voll zu würdigen. – Übrigens, hast du schon mit Inge gesprochen?“

„Nee, nicht seit heute Morgen. Was ist los?“

Peschke biss sich eine neue Zigarre ab und zündete sie an.

„Ich hörte, etwas soll mit dem Mercedes nicht in Ordnung sein.“

Peschke blies eine Rauchwolke zur Decke und brummte:

„Hmm, sagte mein Fahrzeugmeister. Gaspedal klemmt oder so was. Warum?“

„Ist Inge jetzt damit unterwegs?“

Peschke lachte.

„Blödsinn. Du kennst doch Inge. Wenn die merkt, dass was am Wagen nicht stimmt, fährt sie keinen Schritt weiter. Nee, sie hat, glaube ich, den VW von Schmitz. Ist sie nicht schon gekommen?“

Er lauschte, als da draußen Stimmen erschollen, doch dann lehnte er sich wieder zurück und knurrte nur:

„Ach was, das sind die Schnitzlers. Wenn ich die sehe, dreht sich mir jedes Mal der Magen ’rum. Natürlich Bekanntschaft von meiner Frau. Die gönnen uns auch nicht die Butter auf dem Brot. Der Mann hatte dieselben Chancen wie ich. Aber der ist heute noch in dieser Hinterhof-Bude von Schmalgraf und Hensold.“

Er lachte.

„Als Kontorist. Und solche Leute lädt meine Frau ein. Haha!“

Dr. Wolf runzelte die Brauen.

„Ist das Bankkonto wichtiger als der Charakter?“

„Red keinen Stuss, Gert!“, sagte Peschke lachend und goss Dr. Wolf das Glas nach. „Beides ist wichtig. Wenn einer seine Chance nicht nutzt, ist er ein Trottel. Das ist auch kein guter Charakterzug.“

Die Tür wurde geöffnet. Ein schlankes, bildhübsches Mädchen mit hellblondem Haar trat ein.

„Hallo, ihr beiden! Da bin ich endlich. Tag, Paps, Tag, Gert!“

Peschke lächelte stolz, als seine Tochter ihn begrüßte. Dr. Wolf stand auf und sagte ein wenig steif:

„Guten Abend, Inge.“

Sie musterte ihn befremdet.

„Was ist denn mit dir los, Gert? Hast du etwas Ungutes verschluckt?“

Dann lachte sie.

„Nun sieh ihn dir doch an, Paps, er guckt ja richtig bös!“

„Was ihr Frauen nur immer an uns Männern seht. Dummes Zeug“, knurrte

Peschke und widmete sich seinem Sherry.

„Inge, ich glaube, ich muss einmal mit dir allein etwas besprechen. Es ist ziemlich wichtig“, sagte Wolf.

Peschke brummte etwas, stand auf und nahm sein Glas.

„Nein, das wollte ich damit nicht sagen!“, rief Dr. Wolf, aber Peschke zuckte nur die Schultern und brummelte: „Bleibt ruhig hier, ich muss sowieso zu den Gästen, sonst hab’ ich eine Woche lang keine ruhige Minute vor Mama ...“

*


ALS SICH DIE TÜR HINTER ihm schloss, fragte Inge:

„Gert, was ist denn nur passiert? Noch nicht mal ’nen Kuss hast du mir gegeben.“

„Inge, warst du heute mit dem Mercedes in der Viktoriastraße?“

„Nein“, erwiderte sie erstaunt. „Warum?“

„Du bist auch nicht dort entlanggefahren?“

„Nein! Warum fragst du nur?“

Ich war vorhin, bevor ich hier ins Haus kam, auf dem Wagenplatz. Der Mercedes steht in der Werkstatt. Hinten ist die Stoßstange verbogen.“

„Na und, das ist sie seit einem halben Jahr. Paps sagt, deshalb führe der Wagen noch lange, und der neue sei ja in vierzehn Tagen da. Warum sollen wir noch groß Geld an den alten wenden. Mercedes nimmt ihn so in Zahlung wie er ist, das ist doch abgemacht.“

„Der Wagen hat auch rote Polster, Inge.“

Sie lachte, sah ihn dann ein wenig besorgt von der Seite an und fragte:

„Ist dir nicht gut, Gert? Oder hast du getrunken?“

„Inge, es ist mir todernst, was ich sage. Der Wagen ist grau, hat rote Polster, eine beschädigte hintere Stoßstange. Inge, und wie sah die Bluse aus, die du heute morgen getragen hast?“

„Bluse? Ich hatte ein blaues Kleid an. Aber hör mal, das ist ja wie ein Verhör! Was willst du denn überhaupt mit dieser Fragerei von mir?“

„Und du bist bestimmt nicht durch die Viktoriastraße in die Ferenburger Straße gefahren? So um Viertel nach zehn?“

„Ich verstehe diese Fragen nicht, Gert. Aber warte mal, ich überlege. Hmm, Viktoriastraße, das ist doch dort, wo die Gewerbeschule ist? Ja, es könnte stimmen, ja, und die Zeit könnte auch stimmen. Aber was ist denn nur? Wieso fragst du mich ... Gert!“

Sie wurde plötzlich ernst.

„Gert, was ist los? Du fragst doch nicht aus Spaß?“

„Aus Spaß? Nichts läge mir ferner. Hör zu! Heute Morgen gegen 10.15 Uhr kam aus der Viktoriastraße ein Mercedes 220 S, mausgrau, rote Polster, beschädigte hintere Stoßstange, Fahrerin blaues Kleid oder Bluse, hellblondes Haar. Der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit aus der Viktoriastraße heraus, obgleich es eine Stoppstraße ist ...“

„Ja, ich entsinne mich. Das Gaspedal hing. Aber ich konnte den Wagen noch gut herumbekommen, und nachher löste sich das Pedal auch wieder. Dumme Situation ...“

„Inge, und der Lastwagen?“

„Welcher Lastwagen?“

„Als du aus der Viktoriastraße gerast bist, kam ein Lastwagen auf der Ferenburger Straße an. Ein Lastwagen mit Anhänger, beide beladen mit Kies. Der Wagen gehört der Firma Ritter. Er müsste dir aufgefallen sein, schon weil es eine Konkurrenzfirma ist.“

„Pah! Konkurrenz? Ritter ist für uns keine Konkurrenz.“

Dr. Wolf sah sie eindringlich an.

„Inge, das sind doch jetzt Bagatellen. Der Lastwagen kam, und du hast ihn fast gerammt. Das haben viele Leute beobachtet. Der Fahrer des Lastwagens hat vermieden, dich zu überrollen, riss den Lastwagen nach rechts und prallte, weil der Reifen platzte, gegen die Hausmauer ...“

Sie zuckte die Schultern.

„Davon weiß ich aber nichts. Und wenn schon, er hat mich nicht berührt, und dann ist es auch nicht meine Sache.“

„Inge, bist du des Teufels? Ich bin noch nicht fertig. In dem Lastwagen saß außer dem Fahrer noch dessen Frau. Sie war in anderen Umständen. Bei dem Unfall wurde sie leicht verletzt, aber infolge des Aufpralls setzte die Geburt vorzeitig ein. Es kamen noch Komplikationen hinzu. Die junge Frau befindet sich noch immer in Lebensgefahr. Und da sagst du, das alles sei nicht deine Sache. Weißt du, dass dich die Polizei überall sucht, vielmehr deinen Wagen?“

Inge wurde blass.

„Mein Gott! Aber ich weiß doch gar nichts davon. Ich habe wirklich nichts gemerkt!“

„Das begreife, wer will. Es muss einen mörderischen Knall gegeben haben, als der Lastwagen an die Wand stieß. Und dass du den Lastwagen überhaupt nicht gesehen haben willst ...“

Sie krallte ihre Hände in seine Schultern.

„Gert, ich schwöre dir, ich habe nichts bemerkt. Du musst es mir glauben. Ich war so mit dem Gaspedal beschäftigt, dass ich ...“

„Hallo, seid ihr immer noch hier?“, rief Peschke von der Tür her.

Dann trat er näher, sah Inge erstaunt an, blickte dann auf Dr. Wolf und fragte verblüfft: „Was ist denn mit euch los?“

Inge begann zu weinen.

„Paps, ach Paps, es ist furchtbar.“

Sie sank jetzt an die väterliche Brust und schluchzte hemmungslos.

Peschke versuchte, sie in einen der Sessel zu schieben, aber sie schlang ihre Arme um seinen Hals.

„Nun setz dich, Kind, ich will erst wissen, was los ist!“

Dr. Wolf erzählte es ihm, denn Inge war dazu nicht imstande.

„Eine schöne Schweinerei!“, keuchte Peschke und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Und ausgerechnet ein Lastwagen von Ritter. Mit dem alten Ritter wollte ich ein Geschäft machen, das mir gut und gerne hundert Mille Umsatz gebracht hätte. Nee, nee, dass einem das passieren muss. Und was nun?“

Dr. Wolf sah auf den korpulenten Mann im Sessel herab.

„Für mich gibt es da überhaupt keine Überlegung.“

Peschke nickte.

„Klar, Junge, ganz richtig. Wir müssen sofort die Stoßstange auswechseln und ...“

„Nein!“

Dr. Wolf sprach scharf, und Peschke sowie Inge sahen ihn überrascht an.

„Na was denn?“, fragte Peschke schulterzuckend.

„Ich meine“, erwiderte Dr. Wolf, „dass es hier nur einen Weg gibt: den zur Polizei.“

Peschke sprang auf, und sein breites Gesicht wurde dunkelrot.

„Mensch, bist du von allen guten Geistern verlassen? Zur Polizei? Das fehlte noch. Dann erfährt Ritter von der Sache, und Inge steht noch groß in der Zeitung. Das wäre ein schöner Skandal! Nee, mein Lieber, Polizei is’ nich'!“

„Was denkst du, Inge?“, fragte Dr. Wolf ruhig.

Sie sah ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an.

„Dann werde ich doch eingesperrt. Davor hab’ ich Angst.“

Dr. Wolf holte tief Luft, dann sagte er gefasst:

„Jeder Mensch kann einen Fehler machen. Doch dazu sollte er stehen. Die Polizei findet dich, Inge. Früher oder später. Und die Zeitungen waren schon heute Abend auf der Suche. Der Abendanzeiger hat sogar eine Belohnung für den ausgesetzt, der die Fahrerin findet. Nun?“

„Aber das ist doch Irrsinn! Das sollen sie erst mal beweisen!“, sagte Peschke heftig. „Wenn ich die Stoßstange abmontiere und die Karre auch noch verschwinden lasse, kommt kein Aas dahinter!“

„Irrtum! Denkt mal an euren Fahrzeugmeister. Der kann sicher auch lesen. Und wenn er die Zeitung heute Abend gelesen hat ...“

„Für drei blaue Lappen schweigt der wie’n Massengrab“, meinte Peschke wegwerfend.

„Selbst wenn es der Polizei nicht gelänge, dich zu finden, Inge, wäre es nicht besser. Die junge Frau, der Fahrer von Firma Ritter und Herr Ritter selbst hätten den ganzen Schaden, weil der schuldige Fahrer nicht ausfindig gemacht werden konnte.“

„Na und? Ritter wird daran nicht gleich pleite gehen“, entgegnete Peschke.

„Verdammt noch mal!“, fuhr ihn Dr. Wolf an. „Das ist doch eine bodenlose Schuftigkeit, wenn man einen Unfall verursacht und sich nachher zu drücken versucht! – Inge, sieh mich an! Willst du dich stellen oder nicht?“

„Sie will es nicht und sie wird es nicht!“, schnaubte Peschke.

„Ich habe Inge gefragt. Inge, antworte mir!“

Sie sah Dr. Wolf an.

„Ich habe Angst, Gert. Und ich habe doch den Lastwagen gar nicht berührt. Ich bin doch nur schuld, wenn ...“

„Wer hat dir denn diesen Quatsch erzählt? Ob du den Lkw berührt hast oder nicht, du hast den Unfall verschuldet. Und damit bist du schuldig und musst haften. Meinst du, die Polizei sucht dich zum Spaß?“

„Ich habe den Eindruck“, sagte Peschke lauernd, „als wolltest du dich gegen uns stellen. Junge, das gefällt mir nicht. Das gefällt mir rein gar nicht!“

Dr. Wolf drehte sich ein wenig zur Seite, um Peschke voll ansehen zu können.

„Ob Ihnen, verehrter Herr Peschke, das gefällt oder nicht. Ihre Vorschläge, diese Sache zu bereinigen sind einfach dreckig. Ich bedauere, Ihren vorbildlichen Charakter nicht früher voll erkannt zu haben. Und jetzt darf ich mich verabschieden. – Und du, Inge, hast jetzt Gelegenheit, zur Polizei zu gehen, oder ich müsste die Verlobung lösen.“

Inge sprang auf, sah ihn hasserfüllt an und schrie:

„Statt mir zu helfen, verlangst du, dass ich ins Gefängnis gehe. Geh doch zum Teufel mit deinen verstaubten Ansichten!“

Dr. Wolf sah sie erschüttert an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg aber schließlich doch und ging zur Tür.

„Und das eine sage ich Ihnen, Dr. Wolf“, fauchte ihm Peschke nach, „wenn Sie es sind, der meine Tochter hineinreitet, können Sie sich gleich Ihren Abschied bei Ihrem Krankenhaus nehmen. Denn dort sitze ich auch im Direktorium, falls Sie das noch nicht wissen. Und für Leute wie Sie wäre dann dort kaum noch Platz!“

*


DR. WOLF GING.

Draußen im Saal saßen die Schnitzlers und Bauers mit Frau Peschke, hörten leise Tanzmusik und unterhielten sich angeregt. Dr. Wolf begrüßte die Leute und verabschiedete sich zugleich. Frau Peschke begleitete ihn zur Tür und fragte, als sie allein waren:

„Gert, was ist denn passiert?“

Er zwang sich dazu, nicht Sie zu ihr zu sagen und antwortete:

„Frag das bitte Inge! Ich glaube, ich vertrete in diesem Haus den falschen Standpunkt. Guten Abend.“

„Aber, Gert, so hör doch, Gert!“

Er war schon draußen, ging rasch zu seinem Wagen, schloss auf, stieg ein und fuhr schnell davon. Als er wegfuhr, blickte er kurz zur Seite und sah Frau Peschke in der Tür, den einen Arm halb erhoben, als könnte ihr Winken ihn zurückhalten.

Irgendwie tat sie ihm leid. Sie war anders als ihr Mann.

*


PÜNKTLICH ACHT UHR war Dr. Wolf wieder im Dienst. Die dralle Schwester Gerda, eine urgemütliche Vierzigerin, erwartete ihn schon auf der Station.

„Morjen, Doktorchen, jut jeschlafen?“

Sie strahlte ihn an.

„Sehen ja ’n büschen blass aus, nich’?“

Sie folgte ihm in die Ordination, wo bereits der Nachtdienst-Arzt wartete. Das war ein jüngerer Mann, ein bisschen blass, nervös und überarbeitet. Dr. Wolf wusste, dass sein Kollege Helm am Tage noch in einer Privatchirurgie assistierte, was der Gesundheit auch nicht gerade dienlich war.

„Na, Heimchen, schlafen Sie überhaupt noch oder haben Sie das abgeschafft?“, fragte Dr. Wolf lächelnd.

„Sie Spaßvogel. Wenn das ginge, dann hätte ich das Geld für die eigene Praxis in einem Jahr zusammen.“

„Was gibt es auf der Station?“

„Ach, lassen Se man, Doktorchen“, mischte sich Schwester Gerda ein, „er hat’s mich ja allens schön verklärt. Und so müde is’ er ja auch, unser Dr. Helm. Da kann ich Ihnen besser sagen, was los is’. Also da haben wir mal den Appendix von 23, der macht sich prima. Die Amputation von 27 ist noch ziemlich schwach. Der ...“

„Was ist mit der Sectio?“, fragte Dr. Wolf ungeduldig.

„Ja, der Kaiserschnitt von 38, das bessert sich. Nich’ wahr, Dr. Helm, die Nacht ging?“

Dr. Helm, der kurz vor dem Einschlafen war, nickte.

„Hmm, besser jetzt“, murmelte er vom Schlaf überwältigt.

„Sonst noch was von Bedeutung?“, erkundigte sich Dr. Wolf.

Schwester Gerda nickte.

„Da is ’n Herr, der Sie sprechen wollt’. Ritter heißt er. Hat was mit dem Kaiserschnitt zu tun von 38.“

„Danke, und wo ist er?“

„Im Wartezimmer vom Oberarzt.“

„Weiter nichts?“

„Nee, was noch is’, kann bis zur Visite warten.“

Dr. Wolf verabschiedete sich von Dr. Helm, der kaum noch aus den Augen sehen konnte, nickte Schwester Gerda zu und sagte beim Hinausgehen:

„Visite Punkt neun!“

„Is’ recht, Doktorchen!“

Dr. Wolf ging hinaus, den langen Gang entlang bis zum Wartezimmer des Oberarztes, das schon brechend mit Patienten gefüllt war.

„Herr Ritter?“

Ein alter Mann mit schneeweißem Haar erhob sich schwerfällig, stützte sich auf einen Stock und kam langsam näher. Das Gehen fiel ihm offenbar schwer. Der Händedruck aber, mit dem er Dr. Wolf begrüßte, war fest und kräftig.

„Ich habe ein kleines Stück weiter mein Büro, können Sie bis dahin ...“

Der alte Herr schmunzelte.

„Keine Sorge, Herr Doktor. Nur langsam, immer langsam“, sagte er.

Im Büro schob Dr. Wolf seinem Besucher den Stuhl zurecht, doch Herr Ritter wehrte dankend ab.

„Der alte Knochen kann schon noch“, sagte er. „Ist mir vor zehn Jahren unter ’ne Lore gekommen. Na ja. aber deshalb bin ich nicht hier, Herr Doktor. Es geht um ...“

„Frau Hartwig?“

„Ja, richtig. Frau Hartwig. Man hat ja die Fahrerin noch immer nicht gefunden, und der Heinz, das ist mein Fahrer Hartwig, ist ja ein so tüchtiger Bursche, aber nun ist er ja völlig durchgedreht. Ich hab’ ihn gleich in Urlaub geschickt, damit er erst mal zur Ruhe kommt. Nun wollte ich mal von Ihnen wissen, wie es um Frau Hartwig bestellt ist. Und wie es dem Kind geht.“

„Augenblick, was das Kind angeht, muss ich nachfragen. Ich bin gerade erst ’rein.“

Dr. Wolf rief die Säuglingsstation an und erfuhr, dass die Kleine den Umständen nach wohlauf sei. Für ein Siebenmonatskind sei sie auch schon recht kräftig, meinte der Kinderarzt.

Dr. Wolf erklärte es dem alten Herrn, und plötzlich sagte der:

„Sagen Sie mal, Herr Doktor, sind Sie nicht der zukünftige Schwiegersohn von Herrn Peschke?“

„Nicht mehr, Herr Ritter“, erwiderte Dr. Wolf offen.

Der alte Herr hob erstaunt die Brauen.

„So? Na, ich wollte nicht indiskret sein. Also zu unserer Sache. Ich möchte diesen jungen Leuten etwas Trost spenden. Wissen Sie, ich bin nicht so wohlhabend, dass ich mit dem Geld um mich werfen könnte, aber ich möchte Sie bitten, wenn Sie Frau Hartwig wieder sprechen können, dass Sie ihr sagen, ich würde ihnen das kleine Haus fertigbauen. Die beiden haben nämlich jede freie Minute geschuftet an ihrem Haus, weil sie möglichst viel selbst machen wollten und ja nicht viel Geld haben. Ich will es also für sie weiterbauen lassen, denn der Heinz hat mir versprochen, dass er bei mir bleiben will. Und ich denke, jetzt schaffe ich diese Mehrkosten schon, weil ich einen guten Auftrag bekommen soll. Die Herren kommen nachher, und ich muss jetzt wieder gehen. Wollte nur, dass Sie Frau Hartwig das sagen. Vielleicht hilft es ihr auch ein bisschen wie Medizin.“

Er lächelte gütig, und Dr. Wolf spürte eine heiße Wut auf Peschke in sich aufsteigen. Peschke, der im Gelde schwamm, hätte bequem zehn solcher Häuser bauen können, ohne es zu spüren. Aber dieser reiche Peschke wollte sich drücken. Wollte nicht einmal dafür einstehen, was seiner Tochter passiert war.

„Herr Ritter, ich bin sicher, dass es die beste Medizin ist, die es gibt, nämlich neue Lebenslust zu vermitteln. Dafür danke ich Ihnen. Als Arzt und als Mensch.“

„Nu, nu, nur nicht gleich so dramatisch, Herr Doktor. Ein bisschen ist es unser aller Pflicht, dem anderen zu helfen, nicht nur Ihre als Arzt.“

„Dächten alle so wie Sie“, murmelte Dr. Wolf mürrisch.

„Nicht doch! Es gibt mehr anständige Menschen, als Sie denken. Ich bin nicht mal einer davon. Na, Herr Doktor, Sie gefallen mir. Kommen Sie doch mal bei mir vorbei. Abends habe ich immer Zeit. Sie sicher auch? Meine Frau freut sich auch immer, wenn mal netter Besuch kommt. Und meinen Jungen kennen Sie ja.“

„Ihren Herrn Sohn?“

„Ach was, der ist kein Herr! Das würde ich ihm schön abgewöhnen. Mein Kurt fährt genauso auf dem Lastwagen wie Heinz Hartwig. Vor ’nem halben Jahr hatte er doch mal Panne, und Sie haben ihm den Zylinderkopf bei Büssing geholt. Wissen Sie’s nicht mehr? Da hat er mir noch gesagt: Stell dir vor, ausgerechnet der Schwiegersohn vom Peschke hat mir geholfen. Und der war sogar ein ganz prächtiger Bursche! Hat er gesagt, haha! Aber nun muss ich weg. Sie denken daran, Herr Doktor?“

„Und ob ich daran denke. Bestimmt komme ich auch mal zu Ihnen.“

Als der alte Herr gegangen war, summte schon das Arztzeichen, und überall in den Gängen brannte die rote Arztlampe. Unfalleinlieferung, diensttuende Chirurgen zum OP-Saal! bedeutete das.

Der harte und oft grimmige Kampf um das Leben der Eingelieferten begann wieder wie alle Tage.

*


GEGEN ELF UHR TAUCHTE Schwester Gerda im OP-Saal auf. Sie flüsterte Dr. Wolf ins Ohr:

„Das Frollein Braut wartet auf Ihnen, Doktorchen.“

Dr. Wolf runzelte die Stirn.

„Wer? Fräulein Peschke?“,

„Nu ja doch, oder meinen Se, ich halt Ihnen für ’n Wüstling, dass se ’n Dutzend Bräute hab’n?“

Sie schüttelte über Dr. Wolfs Frage den Kopf.

„Auch schon ’n bisschen überarbeitet wie Dr. Helm, wie?“, meinte sie und rauschte hocherhobenen Kopfes hinaus.

Als er Zeit hatte, ging Dr. Wolf nach draußen. Inge wartete diesmal nicht in seinem Büro. Im Treppenhaus neben dem Fahrstuhl stand eine Bank, dort saß sie.

Dr. Wolf trat zu ihr und grüßte kühl.

Sie hatte rotumränderte Augen; offenbar war sie die letzte Nacht nicht zum Schlafen gekommen.

„Gert ... ich, ach, Gert, hast du nichts Netteres zu sagen?“, fragte sie bestürzt über seine Kühle.

„Natürlich, falls du bei der Polizei warst.“

Sie machte ein trotziges Gesicht.

„Konnte ich mir gleich denken. Paps sagte schon, dass du mich nicht verstehen würdest. Ich will einmal in der Zeit, da wir uns kennen, deine Hilfe, will, dass du mich schützt, da versagst du schon.“

Sie erhob sich und nahm ihre Handtasche auf. Mit abweisender Gelassenheit strich sie sich ihren beigefarbenen Staubmantel gerade.

„Wenn ich sage, du sollst zur Polizei gehen, Inge, dann ist das mehr für dich als all das, was dir dein Vater geraten hat. Denn nun wird es sicher bitter.“

Sie sah ihn mit flammendem Blick an.

„Ja, und was macht das schon aus? Ob ich jetzt gehe oder ob du mich anschwärzt. Die Strafe ist sicher dieselbe.“

Er wandte sich ab, ohne noch ein Wort zu ihr zu sagen. Dass sie ihm zutraute, sie zu denunzieren, hätte er nicht erwartet.

Er hörte ihre Absätze auf der Treppe hacken, doch er sah sich nicht mehr um. Aus. Vorbei. Selbst wenn die Polizei nie dahinterkommen würde, eine Frau, die so handelte, konnte nicht seine Frau sein. Nie und nimmer. Er würde es nie verzeihen. Niemals!

Die Arbeit ging weiter. Er kam auch dazu, Frau Hartwig mehrmals zu sehen an diesem Vormittage. Es ging ihr besser, doch sie stand noch immer unter dem Einfluss des Schocks. Als er ihr erzählte, was Herr Ritter ihm aufgetragen hatte, konnte sie ihm kaum folgen. Sie lächelte dann aber und schlief wieder ein.

Indessen fiel der junge Ehemann der Stationsschwester auf die Nerven. Immer wieder wollte er seine Frau sehen, doch Schwester Gerda blieb hart. Nur einmal durfte er zwei Minuten lang zu ihr, mehr nicht.

Endlich war Mittag. Dr. Wolf aß im kleinen Speisesaal der Ärzte und OP-Schwestern, aber es gab Rouladen, die er nicht mochte, jedenfalls nicht in der Form, wie sie in diesem Hause zubereitet wurden. Appetitlos schob er den noch halb gefüllten Teller zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Da kam gerade Dr. Holmann, der Oberarzt der Chirurgie, herein.

Er ging geradewegs auf Dr. Wolf zu, nickte freundlich.

„Mahlzeit, Wolf. Mensch, das war wieder so ’n Vormittag, was?“

Er fuhr sich mit der flachen Hand über die spiegelnde Glatze und äugte durch seine randlose Brille zu Dr. Wolfs Teller.

„Was? Rouladen? Und die lassen Sie stehen, Wolf? Menschenskind, und ein Gesicht machen Sie, als hätten Sie die Kündigung in der Tasche.“

Er wandte sich der Bedienung zu.

„Auch Rouladen!“, rief er, sah wieder Dr. Wolf an und meinte:

„Ist ja kein Wunder, wenn wir durchdrehen. Heute Morgen bei mir allein zwei Oberschenkelhalsbrüche, fünfmal Appendix, eine Galle, bei der wir bald verrückt geworden wären, weil noch ’n Kollaps dabei auftauchte, dann noch zwei Schlüsselbeine, wie gesagt, es war ein reizender Vormittag.“

„Ich habe mich die ganze Zeit ausgestreckt und geschlafen“, meinte Dr. Wolf trocken und musterte den fünfzigjährigen Kollegen spöttisch.

„Sie Witzbold“, konterte Dr. Holmann, „aber am Nachmittag habe ich für Sie noch eine Überraschung: Der Alte kommt.“

„Professor Oberweg?“

„Er hat sich schon angemeldet. Frisch und braungebrannt wäre er, hat er gesagt. Bad Wörrishofen sei zwar eine harte Strafe für alle Sünden, doch sei es ihm prächtig bekommen. Er hat sich das Rauchen abgewöhnt.“

„Mal sehen, wie lange es diesmal vorhält“, meinte Dr. Wolf skeptisch.

Das Mädchen brachte Dr. Holmanns Essen. Er rieb sich die Hände und strahlte:

„Na, das ist endlich mal ’n Gedicht von Mittagessen. Übrigens, Wolf, haben Sie den Kommissar gesprochen?“

„Welchen Kommissar?“, erkundigte sich Dr. Wolf verwundert.

„Hmm“, entgegnete Dr. Holmann kauend, „Polizei. Wegen der Geschichte gestern. Die Frau mit dem Dörfflerschnitt.“

„Ach so, Frau Hartwig. Und was wollte er?“

„Sie. Aber ich glaube, Sie steckten gerade im OP II. Er will wiederkommen. Aber die Fahrerin und den Mercedes haben sie immer noch nicht. Heute ist es sogar durchs Radio gekommen. Die Burschen von der Abendanzeiger-Redaktion haben wieder mal Wirbel gemacht. Belohnung und so. Ist ja auch eine Schweinerei, einfach abzuhauen. – Die Rouladen sind ganz vorzüglich.“

Mit einem Blick auf Dr. Wolfs Teller meinte er:

„Verstehe Sie nicht, Wolf.“

„Ich muss jetzt gehen. Wiedersehen, Holmann, und weiter guten Appetit“, sagte Dr. Wolf und ging.

„Trinken Sie keinen Kaffee?“, rief ihm Dr. Holmann nach.

„Nein, hier bestimmt nicht. Braunes Wasser kann ich mir auch selbst färben.“

Als er auf den langen Gang trat, kam ihm Schwester Gerda entgegen.

„Na endlich, da sind Se ja! Der Herr Kommissar von die hohe Polizei sucht Ihnen schon seit ’ne halbe Stunde verjeblich!“, meinte sie vorwurfsvoll.

„Man wird ja wohl noch essen dürfen“, grollte Dr. Wolf.

„Nu man nich’ böse sein, Doktorchen, war ja nich’ so jemeint. Er wartet in Ihnen ... Ihrem Büro.“

„In Ihrem Büro heißt das, Schwester Gerda“, knurrte Dr. Wolf.

„Nee, nich’ in meins, in Ihnen ... Ihret!“

Dr. Wolf gab es auf.

„Wie geht es Frau Hartwig?“,

„Och, wie es ’nem Kaiserschnitt so geht. Sie macht sich. Nur schlapp, Doktorchen, tüchtig schlapp.“

„Hat sie Stärkungsdiät?“

„Ich jebe ihr man schon zwei Eier mit Rotwein und Zucker extra. Is’ das nischt, Doktorchen?“

„Schon gut, und versorgen Sie mir nur ja Frau Hartwig gut.“

„Na, ’ne dritte Klasse is’ ja nun och nich’ jrade det Paradies auf Erden. Sind ja noch finfe mit drin.“

„Legen Sie Frau Hartwig vorübergehend in die zweite, wenn es geht. Mit dem Appendix in die 17 am besten.“

„Is’ jut, Doktorchen, mach’ ich alles.“

*


DER KRIMINALKOMMISSAR sah aus wie ein Universitätsprofessor, wie ein Bankdirektor oder, wenn man so will, wie ein in Ehren ergrauter solventer Firmenchef. Ganz bestimmt aber nicht wie ein Kriminalkommissar im Film.

„Glanz, Kriminalkommissar“, stellte er sich vor und zeigte Dr. Wolf seinen Ausweis.

„Herr Glanz, womit kann ich dienen?“

„Herr Dr. Wolf, Sie waren doch gestern der Aufnahmearzt im Falle Frau Hartwig. Ich muss von Ihnen Folgendes wissen: Hat sie Angaben über jenen Mercedes machen können, der noch gesucht wird? Über den Fahrer vielleicht?“

„Nein, nichts dergleichen. Sie ist zwar jetzt imstande, zu sprechen, aber wir haben bisher tunlichst vermieden, die Frau aufzuregen. Und es würde sie bestimmt aufregen. Das Leben von Frau Hartwig ist im Augenblick wichtiger als alles Übrige.“

„Sehr richtig, lieber Herr Doktor, und doch müssen wir jede Zeugenaussage mitnehmen, die wir bekommen können.“

„Sie sind noch nicht auf der Spur?“, fragte Dr. Wolf und bemühte sich, seine Stimme nicht zu interessiert klingen zu lassen.

„Darf ich rauchen?“, fragte Kommissar Glanz, und als Dr. Wolf nickte, zündete er sich eine Zigarette an. „Also das ist so“, fuhr er fort und sah den Rauchwölkchen nach, „wir wissen, dass der Wagen in einem ganz bestimmten Viereck sein muss. Da ist er nicht herausgekommen, nehmen wir an. Wir haben mit Hilfe der Kartei in der Straßenverkehrsabteilung elf ähnliche Wagen herausgepickt. Sie alle sind in diesem Viereck um die Berliner Straße angemeldet. Zwei Wagen suchen wir noch, weil die nicht da sind. Der eine ist wohl gerade auf Urlaub, vielmehr die Leute, denen er gehört, sind damit weg. Und der andere, ja, Herr Doktor, deshalb bin ich hier. Der andere gehört der Firma Peschke & Co.“

Was jetzt kommen würde, ahnte Dr. Wolf bereits.

„Ich verstehe nicht ganz, Herr Kommissar, was habe ich mit ...“

Kommissar Glanz lächelte.

„Augenblick, Herr Doktor, Sie verstehen mich gleich. Also, wie ich gehört habe, sind Sie doch mit Fräulein Peschke verlobt.“

„Na und?“, fragte Dr. Wolf.

Er wusste selbst nicht, warum er nicht sagte, dass die Verlobung von ihm aufgelöst worden war.

„Nun, wir wissen auch, dass Sie gestern Abend bei Peschkes waren. Bitte, bitte, Herr Doktor, wir haben Ihnen nicht nachspioniert. Aber in unserem Beruf ist es nun nicht so einfach. Wir müssen alles im Auge halten. Manchmal auch Leute, die gar nichts mit der Geschichte zu tun haben. Sie sind, das hat jemand gesehen, auf dem Betriebshof gewesen, bevor Sie ins Haus gingen. Einer der Italiener, die Herr Peschke als Wagenpfleger beschäftigt, hat gesehen, dass sie sich den Mercedes von Herrn Peschke sehr genau betrachtet haben sollen. Dieser Wagen, Herr Doktor, war gestern da oder nicht?“

„Ja, er stand in der Werkstatt.“

„Hatte der Wagen eine verbeulte Stoßstange hinten und rote Polster?“

„Rote Polster, ja. Aber nach der Stoßstange habe ich nicht gesehen.“

„Herr Doktor, das genügt. Der Wagen war also da. Wissen Sie, was Herr und Fräulein Peschke ausgesagt haben? Der Wagen sei seit gestern Morgen acht Uhr in der Ziegelei in Bornsdorf gewesen. Dort habe ihn Herr Peschke stehengelassen, weil der Verteiler nicht in Ordnung gewesen sei. Sie verstehen, warum ich selbst zu Ihnen gekommen bin. Herr Doktor, ich glaube, um diesen Mercedes müssen wir uns kümmern. Mir ist außerdem aufgefallen, dass der Fahrzeugmeister von Herrn Peschke, den ich zuallererst befragen ließ, widersprechende Angaben machte. Ich verstehe sehr gut, wenn Sie sich heraushalten möchten. Aber seien Sie beruhigt, Herr Peschke hat gestern Abend vergessen, das Fenster von seinem Salon zu schließen, als Sie mit ihm eine, ich möchte milde sagen, lebhafte Aussprache hatten. Und da wir nicht in der Einöde leben, hört meist immer jemand zu. In diesem Falle der Liebhaber des einen Dienstmädchens, der auf sein Mädel gewartet hat. Er war schon heute Morgen auf der Polizei, doch dort hat man ihn nicht so recht ernst genommen. Jetzt nehmen wir ihn sehr ernst. Demnach sind Sie auch nicht mehr verlobt, nicht wahr?“

„Sie sind bestens informiert“, gab Dr. Wolf zu.

„Das sind wir wirklich. Sie haben Herrn Peschke und dem Fräulein geraten, sich der Polizei zu stellen, nicht wahr?“

„Ich möchte dazu etwas sagen, Herr Kommissar. Fräulein Peschke hat nicht gewusst, dass sie ...“

Er lachte.

„Aber, aber, lieber Herr Doktor. Natürlich hat sie es gewusst. Da ist nämlich inzwischen eine Anzeige eingegangen. Von einem Cafébesitzer. Warten Sie!“

Er holte einen Zettel aus der Tasche und las vor:

„Ich, der Kaffeehausbesitzer Siegfried Heuer, befand mich am Tage des Unfalls zwischen 9 und 12 Uhr ununterbrochen in meinem Gastraum. Gegen 10.30 Uhr hielt ein grauer Mercedes vor meiner Tür. Ihm entstieg eine junge, blonde Dame. Der Wagen hatte rote Polster. Die junge Dame bestellte einen Kaffee, wünschte aber auch zu telefonieren. Ohne auf den Kaffee zu warten, ging sie in die Zelle, die sich gleich neben dem Büfett in meinem Gastraum befindet. Wenn ein Gast in der Zelle nicht ausgesprochen leise spricht, kann man ihn ungewollt auch hinter dem Büfett hören. Die Dame sprach laut genug, dass ich sie verstehen konnte. Sie rief offenbar, wie ich meine, bei der Polizei an. und wollte wissen, ob es bei dem Unfall an der Ecke Viktoriastraße – Ferenburger Straße Verletzte oder Tote gegeben habe. Sie sagte, sie sei von einer Zeitung. Dann legte sie auf, bezahlte Telefon und Kaffee, und ging, ohne den Kaffee getrunken zu haben. Ich habe Anzeige erstattet, nachdem ich abends die Zeitungsmeldung über den Unfall mit Fahrerflucht gelesen hatte. Unterzeichnet: Siegfried Heuer.“

Kommissar Glanz sah Dr. Wolf in leisem Triumph an.

„Na, Herr Doktor, was habe ich gesagt?“

„Ich glaube es nicht“, erwiderte Dr. Wolf überzeugt. „Ich kann das nicht glauben, was dieser Cafétier behauptet. Sie hat es wirklich nicht gewusst.“

Glanz lächelte.

„Dann ist noch etwas, Herr Doktor. Fräulein Peschke wurde am Nachmittag, also gestern, bei der Firma Ritter erwartet. Sie war für eine Besprechung angekündigt. Gegen Mittag aber sagte sie telefonisch ab, und zwar mit der Begründung, sie sei durch einen Besuch verhindert. Tatsächlich aber ist Fräulein Peschke am Nachmittag mit einem der Firmenlastwagen mitgefahren, und zwar nach einer Baustelle irgendwo in der Gegend von Ramsdorf. Dort war sie im Büro – besser gesagt: einer Baracke – bei einem Herrn Sievertz. Dieser Herr Sievertz behauptet seit heute Morgen, Fräulein Peschke sei schon gegen zehn Uhr früh bei ihm gewesen.“

„Warum sind Sie zu mir gekommen, Herr Kommissar?“ fragte Dr. Wolf unwirsch.

Der alte Herr lächelte versöhnend.

„Lieber Herr Doktor, ich will Ihnen reinen Wein einschenken. Fräulein Peschke ist seit einer Stunde in Haft. Sie leugnet noch, aber wir wissen, dass sie die Fahrerin des bewussten Wagens ist. Der Wagen ist verschwunden, doch auch den bekommen wir noch. Das ist nicht mehr so tragisch. Von Ihnen wollte ich nur ein paar Dinge hören. Ich kenne sie jetzt. Vor allem aber bin ich gekommen, nachdem ich von Ihrer Haltung den Peschkes gegenüber gehört habe. Wie Sie auch denken mögen, eines dürfen Sie mir abnehmen: Es lohnt sich nicht, für Fräulein Peschke die Unwahrheit zu sagen. Selbst dann nicht, wenn Sie für die Dame noch gewisse – übrigens verständliche – Gefühle hegen. Fräulein Peschke hat sofort gewusst, was sie tat. Sie wollte danach dieses Verhalten verschleiern und hat auch Sie, lieber Herr Doktor, bewusst angelogen.“

Der Kommissar erhob sich.

„Und noch etwas: Lassen Sie sich nicht durch Drohungen irritieren. Tritt man mit einer Drohung an Sie heran, lassen Sie es mich bitte wissen. Ihnen ist sicher klar, was ich damit meine. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Wolf!“

„Auf Wiedersehen“, murmelte Dr. Wolf verstört.

Er stand noch am gleichen Platz, als der Kommissar schon längst aus dem Hause war.

*


„NU MAN NISCHT FÜR unjut, Doktorchen, aber so jeht es nu man och nich’!“, behauptete Schwester Gerda und stemmte resolut die Arme in die Hüften. „Jetzt hab ich den Kaffee gemacht für Ihnen, nu trinken Se den man schön. Chef hin, Chef her, der hat in Wörrishofen wo ellenlang in’t Wasser gestrampelt, und Sie sind wie’n jeölter Blitz hier herumjeschnurrt. Nee, Doktorchen, wenn ’n Chef pfeift, muss man nich’ gleich losrennen. Das schadet nur die Jesundheit, Doktorchen. Trinken Se man erst den Kaffee. Mit Liebe jebraut, sag ich Sie!“

„Ihnen!“

„Nee, ich lerne das nich’ mehr, Doktorchen. Muttern sagte immer: ,Kind, hat se jesagt, Kind, man muss wissen, was mein und dein is', hat se jesagt. Aber mir und mich, das is’ nich’ wichtig, das sind nur Finessen, hat se jesagt. Muttern wusste Bescheid, Doktorchen. Und Kaffee kochen konnte se, da kommt mein schwarzes Gold nich’ mit. Na, nu trinken Se endlich, kalter Kaffeerauch macht schön, und schön sind Se man jenug.“

Dr. Wolf lächelte gequält.

„Sie sind sehr nett, Schwester Gerda. Danke.“

Sie beugte sich etwas vor und sagte leise:

„Nu jerade, Doktorchen, nu jerade. Wo ich doch jehört habe, dass die Polizei Ihnen Ihr Mädchen eingesperrt hat, weil se die Sache mit dem Lastwagen verschuldet hat. Se wissen ja, die junge Frau von 38, die ich vorhin in 17 jebracht hab’ zum Appendix. Aber da kann se och nich’ bleiben. Auf die Entbindung soll se, hat der Professor jesagt. Noch drei Tage, dann soll se auf die Entbindung. – Ja, Doktorchen, ich hab’ ja Ihnen Ihre Braut ’n paarmal jesehn und jesprochen, aber denken Se nur, Doktorchen, was unsereiner is’, der hat och seine Menschenkenntnis. Ich sage: Für Ihnen is' die nich’ die Richtige. Nee, Doktorchen, sagen Se man rein jar nix. Ich wüsste schon eine, die zu Sie passt, Doktorchen!“

Dr. Wolf knurrte böse.

„Hören Sie auf, das verdirbt mir den besten Kaffee. Sie alte Kupplerin. Den alten Bendow und die junge Assistentin von der Inneren haben Sie doch auch verkuppelt, nicht wahr?“

Schwester Gerda plusterte sich empört auf.

„Nu man langsam, Doktorchen. Verkuppelt, det is ’n hartes Wort! Das jeht unsereinem unter die Haut. Nee, verkuppeln, das tu ich nich’. Nur ’n bisschen bekannt jemacht hab’ ich die beiden. Na hören Se mal, is’ das ’n Verbrechen?“

„Seien Sie still!“

„Und sind die beiden nich’ voller Harmonie?“

Sie strahlte stolz.

Dr. Wolf erhob sich.

„Der Kaffee ist prima, und Sie meinen es sicher auch herzensgut, Schwester Gerda, aber mein Privatleben, das klammern Sie bitte aus Ihrer Fürsorge aus. Und jetzt muss ich zum Chef. Danke für den Kaffee!“

Er ging zur Tür, da hörte er noch, wie Schwester Gerda sagte:

„Sonst is’ er ja nich’ übel, aber wenn die Laune anhält, dann Prost Mahlzeit ...“

*


PROFESSOR OBERWEG WAR ein lebhafter alter Herr von graziler Figur, mit schneeweißem Haar und einer im Urlaub tiefgebräunten Haut. Freundlich begrüßte er seine ihm unterstellten Kollegen, befand sich in aufgeräumter Stimmung und scherzte mit jedem der Herren. Dann bat er Platz zu nehmen.

„Also, meine Herren, Kollege Holmann hat mir schon knapp berichtet, und wir können nachher auf die Einzelheiten kommen, doch zuvor etwas anderes. Ich habe schon vor meiner Kur gesagt, dass wir Pläne haben. Große Pläne.“

Er räusperte sich und musterte jeden seiner acht Ärzte sehr eingehend. Dann sprach er mit sonorer Stimme weiter.

„Sie wissen ja, der Neubau. Also das, was sich das Verwaltungsdirektorium vorstellt, ist natürlich etwas für Kleinkleckersdorf, nicht aber für ein Institut wie das unsere. Entweder wird großzügig geplant und gebaut, oder wir sollten die Flucht in die Öffentlichkeit wagen.“

„Presse?“, fragte Dr. Holmann.

„Natürlich“, erwiderte der Professor. „Überlegen Sie doch: Jeder Mensch in dieser Stadt kann einmal krank werden. Speziell die Chirurgie ist sehr durch diesen Wahnsinn auf den Straßen in Anspruch genommen. Wir brauchen Platz. Ich habe Aussicht auf eine Herz-Lungen-Maschine. Aber auch dafür haben wir nicht einmal Raum. Dann die Station. Hier fehlt es doch an allem. Und während ich in der Kur war, meine Verehrten, ist mir die Zeit recht lang geworden. Um dem abzuhelfen ...“

Einer der Hilfsärzte lachte.

„Herr Dralle, Sie brauchen nicht zu lachen. Wenn ich so jung gewesen wäre wie Sie, hätte ich natürlich auch eine Idee wie die Ihre entwickelt. Also, wieder zur Sache: Ich hatte also Zeit und lernte dann einen Kollegen kennen. Er schließt seine Privatklinik. Und wissen Sie, was das für uns bedeutet?“

„Geräte?“

„Nein, die sind versteigert. Aber etwas viel Wertvolleres: nämlich erstklassiges Personal. Ich kann die Kollegen dort übernehmen. Einige sind Internisten, aber die bringe ich auch in der Inneren gut unter. Und Schwestern. Neunzehn Schwestern. Ist ja natürlich, dass wir die alle in die Chirurgie nehmen. Nun macht doch die Verwaltung wieder Schwierigkeiten mit dem Wohnraum. Diese Pfeffersäcke sollten sich um sonst was kümmern, nur nicht um eine Klinik. Aber das regele ich noch. Übrigens. Herr Wolf, da fällt mir etwas ein. Zwei Kollegen werden morgen früh kommen. Ich möchte Sie bitten, die beiden etwas einzuarbeiten.“

Er schmunzelte und drohte mit dem Finger.

„Der eine Kollege ist eine Dame. Eine sehr hübsche Dame. Ich möchte hoffen, dass hier zwischen Dienst und Freizeit scharf getrennt wird. Überhaupt warne ich jeden von Ihnen davor, das Privatleben ins Haus zu tragen.“

Er sah einen jungen Assistenten an, von dem jeder wusste, dass er ein Verhältnis mit einer OP-Schwester hatte.

„Ich bin kein Moralprediger, aber in einer Klinik führen innige Bekanntschaften zu nichts Gutem. So, meine Herren, und nun können wir in die Einzelheiten gehen ...“

*


ALWIN PESCHKE LEHNTE sich im Sessel zurück und schmauchte an seiner Zigarre.

„Und warum, Herr Professor, kommen Sie ausgerechnet zu mir?“, fragte er Professor Oberweg, der ein wenig unscheinbar im weichen Ledersessel untergegangen war.

Der Professor lächelte irritiert. Peschke hatte ihn sonst immer sehr zuvorkommend und beinahe unterwürfig behandelt. Jetzt hingegen tat er überheblich wie ein kleiner Nero.

„Warum?“

Der Professor hob beschwörend die Hände.

„Sie sind ein maßgebender Mann in der Verwaltung. Man hört auf Sie. Und ...“

Wieder lächelte Professor Oberweg

„... schließlich ist ja Ihr zukünftiger Schwiegersohn auch Arzt, zudem in meiner Klinik.“

Peschke reckte sich ein wenig, nahm die Zigarre zur Seite und sah den Professor an wie einen Mann vom Mond.

„Einen Schwiegersohn, der Arzt ist? Herr Professor Oberweg, nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Ich habe keinen Schwiegersohn, auch keinen, der Arzt ist. Und erst recht keinen, der vielleicht Wolf heißt. Sie verstehen, was ich meine.“

Das war für den ahnungslosen Professor eine böse Neuigkeit. Seine Hoffnung, in Peschke, den er eigentlich gar nicht mochte, einen Befürworter seiner Neubaupläne zu haben, schwand dahin wie Schnee in der Sonne.

Peschke blinzelte aufmerksam zum Professor hin, der jetzt den Kopf senkte und murmelte: „Ich bitte um Verzeihung, von einer Lösung des Verlöbnisses wusste ich nichts.“

Da hakte Peschke ein.

„Herr Professor, ich will Ihnen nichts. Ich will auch, dass Sie Ihre Pläne realisieren können. Will ich wirklich. An Neubauten bin ich als Baustoffhändler immer interessiert. Aber diesmal hat die Sache ihren Preis.“

Er lehnte sich wieder zurück, paffte an seiner Zigarre und ließ die Stille wirken.

Der Professor begann wieder zu hoffen. Sein Traum von einer größeren, moderneren Klinik hatte offenbar wieder eine Chance. Seit Monaten bastelte Professor Oberweg an diesem Plan. Er hatte sich geradezu verliebt darin, weil er zudem wusste, wie dringend das alles für die Allgemeinheit war. Nichts stärkte ihn darin mehr als die Furcht, die deutsche Medizin könne an Weltgeltung verlieren, könne auf die Stufe der Entwicklungsländer rücken.

„Und welcher Preis ist das?“, fragte er.

Peschke lutschte an seiner Zigarre.

„Ein Preis, der Sie nichts kostet. Dann wäre Ihnen der Neubau zu neunundneunzig Prozent sicher. Die anderen Herren im Verwaltungsrat tun das, was ich sage. Sobald Dr. Wolf entlassen ist, kann es losgehen.“

„Was sagen Sie da? Dr. Wolf entlassen? Aber warum denn? Weil er sich mit Ihrer Tochter entzweit hat? Mein lieber Herr Peschke, finden Sie das nicht etwas persönlich?“

Peschke zuckte die Schultern.

„Wie Sie das nehmen, ist mir gleich. Ich sage ja ganz offen: Mit Dr. Wolf keinen Neubau. Ohne ihn sofort. Das ist eine ganz klare und unzweideutige Erläuterung. Und übrigens, wenn Sie das an die große Glocke hängen wollen: Ich streite das nicht nur ab, der Neubau ist dann für alle Zeiten gestrichen. Vielleicht fällt mir in einem solchen Fall auch noch etwas Zusätzliches ein.“

Professor Oberweg erhob sich empört.

„Herr Peschke, in meinen Kreisen nennt man so etwas Erpressung. Ich weiß ja nicht, ob in der Baustoffbranche derartige Manöver alltäglich sind, ich jedenfalls finde Ihr Anerbieten nahezu kriminell. Guten Tag, Herr Peschke.“

Der Professor ging, und Peschke lachte böse hinter ihm her.

*


ALWIN PESCHKE HATTE sich in die Idee verrannt, dass Dr. Wolf die Festnahme Inges veranlasst hatte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, welche Recherchen die Kriminalpolizei angestellt hatte. So war er zu dem simplen Schluss gekommen, nur Dr. Wolf könne Inge denunziert haben.

Seine Wut auf Dr. Wolf kannte daher keine Grenzen. Und so stöberte er Fritz Gerloff auf.

Fritz Gerloff war vor Jahresfrist mit dem Fahrrad verunglückt. Ein kleines Wettrennen zwischen zwei Siebzehnjährigen, per Rad eine abschüssige Straße hinunter. Ein kleiner Ziegelstein, den Fritz Gerloff übersah, brachte das Verhängnis. Schlüsselbeinbruch, beide Arme gebrochen, Beckenbruch. Alles in allem fünf Monate Krankenhaus. Station von Dr. Wolf.

Die Beckenfraktur hatte infolge von Splitterungen nicht voll ausgeheilt werden können. Fritz Gerloff litt noch unter den Folgen und konnte seine Lehre als Dachdecker nicht fortsetzen.

Aus Erzählungen Dr. Wolfs – als der noch bei Peschke ein- und ausging – wusste Peschke, dass der Junge damals nach dem Unfall in der Narkose fast erstickt wäre. Und zwar deshalb, weil er kurz vor dem Unfall gegessen hatte, dies aber auf Befragen Dr. Wolfs verneint hatte. Da dieses Ersticken während der Operation drohte, hatte Dr. Wolf, um zunächst das Leben des Patienten zu retten, die Versorgung des Beckenbruchs abbrechen müssen. Infolgedessen waren Schäden eingetreten, die sich später nicht mehr völlig beheben ließen.

Und da setzte Peschke den Hebel an.

Der Junge war jetzt Hilfsarbeiter in einer Kürschnerei. Er verdiente wenig, die Arbeit war ungesund.

Peschke wollte das ändern.

Er fuhr im neuen Mercedes vor und blieb zwei Stunden bei den Eltern des Jungen, und als er ging, hatte er ein von Eltern und dem Jungen unterzeichnetes Schreiben bei sich. Hier behauptete der Junge, er hätte Dr. Wolf gesagt, dass er etwas vor dem Unfall gegessen habe.

Mit diesem Schreiben fuhr Peschke zu einem Arzt, den er nicht nur gut kannte, der auch, wie er genau wusste, ein Gegner Dr. Wolfs war. Die beiden waren früher bei einem Verkehrsunfall gleichzeitig alarmiert worden. Da Dr. Wolf städtischer Unfallarzt war, Dr. Werner aber Privatarzt, hatte Dr. Wolf den Fall übernommen. Dr. Werner war darüber so empört gewesen, dass er Peschke immer schon von Dr. Wolf als Schwiegersohn abgeraten hatte.

Jetzt aber wollte Peschke keinen Rat. Jetzt wollte er tätige Mithilfe. Und Dr. Werner war bereit, den Amtsarzt und die Ortskrankenkasse einzuschalten.

Als Peschke nach Hause fuhr, rieb er sich die Hände. Nun brauchte nur noch der Kautionsantrag genehmigt zu werden, dann hatte er auch Inge wieder daheim.

Diesem Dr. Wolf würde er es geben! In keinen Anzug passte der mehr, wenn er, Peschke, die Hunde von der Kette ließ. He, wozu war man hier der starke Mann? Alwin Peschke mit dem großen Verdienstkreuz, Baustoffgroßhändler, der die Bundeswehr, die NATO und wer weiß was noch alles belieferte. Und dann wollte ihn so ein kleiner Stationsarzt fertigmachen? Niemals! Nicht mit Alwin Peschke.

*


„HERR WOLF“, SAGTE Professor Oberweg, „ich kann Ihnen zur Auflösung Ihres Verlöbnisses nur gratulieren. Dieser Herr Peschke ist so ungefähr das Letzte. Natürlich sitzen wir knietief in dem Püree.“

„Nein.“

Dr. Wolfs Gesicht wurde hart wie gemeißelt.

„Nein, denn es war Nötigung, was er von Ihnen verlangte. Nur, ich weiß nicht, ob ich es fertigbringe, ihn darauf festzunageln.“

„Wegen Ihrer ehemaligen Braut?“

Dr. Wolf nickte und sah zum Fenster hinaus.

„Ja, ihretwegen. Immerhin habe ich sie sehr gerngehabt ... auch jetzt noch. Nur hätte sie sich so nie verhalten dürfen.“

Der alte Herr nickte.

„Das ehrt Sie, Herr Wolf. Nun, ich bin froh, dass Sie so sind, wie Sie sind. Bleiben Sie so. Sind die beiden Kollegen aus Stuttgart schon da?“

„Nein.“

Professor Oberweg lächelte väterlich.

„Kümmern Sie sich etwas um die beiden, das wird Sie beschäftigen und diese miese Sache vergessen lassen. Übrigens war ich eben auf der Visite bei der jungen Frau ... wie heißt sie gleich?“

„Hartwig.“

„Ja, bei ihr, Sie macht sich, und ich denke, wir können sie dann in zwei Tagen in die Wochenstation verlegen.“

„Sollte man sie nicht lassen, wo sie ist?“, fragte Dr. Wolf.

„Betten, mein lieber Herr Wolf, Betten!“

Dr. Wolf nickte. Natürlich, die Unfallstation war überfüllt.

Er wollte gehen, aber da rief ihn der Professor zurück.

„Da fällt mir noch etwas ein, Herr Wolf: Mich hat eben der Amtsarzt angerufen. Da war gestern dieser Praktiker Werner bei ihm. Es ist da eine alte Sache um einen jungen Burschen, der hier einmal behandelt wurde. Warten Sie mal...“

Er suchte auf seinem Schreibtisch nach der Notiz, fand sie und las vor:

„Fritz Gerloff ... ich habe die Krankengeschichte schon heraussuchen lassen und brauche nur noch den OP-Bericht. Aber den bekomme ich auch gleich. Können Sie sich entsinnen?“

„Im Augenblick nicht. Wie lange ist das her?“

„Ein Jahr. Pelvisfraktur mit Komplikationen und dann diese Suffokation während der Operation. Ich muss das erst mal in Ruhe lesen, was im OP-Bericht stand.“

„Ich entsinne mich. Es war ein junger Kerl, so etwa siebzehn. Radunfall. Hmm, jetzt ist es wieder da. Wir haben sofort operiert, weil er sagte, er habe zuletzt am Morgen gegessen, und es war, soviel ich weiß, kurz vor Mittag, als er auf dem Tisch lag. Dann ist es während der Frakturversorgung zu einer Suffocatio gekommen. Aber auf die Operation hatte das keinen Einfluss, was uns anging. Doch der Patient begann zu würgen und zu husten, so dass die Bauchmuskulatur schädliche Bewegung für die Pelvis war. Soviel ich weiß, haben Sie die Geschichte auch verfolgt. Herr Professor.“

„Ja, stimmt ja!“

Der alte Herr nahm die Goldrandbrille ab und wischte sich mit dem Zeigefinger über die Augen. Seine Hände waren wie die einer Frau so schmal und zierlich. Aber es waren, so dachte Dr. Wolf jetzt, die Hände eines genialen Operateurs.

„Wissen Sie, Herr Wolf, der Amtsarzt hält das ja auch alles nur für Blabla. Bestimmt steckt wieder Peschke dahinter. Also der Junge hat ein Revers unterschrieben, auf dem er behauptet, er habe Ihnen vor der Operation gesagt, dass er kurz zuvor gegessen hätte.“

„Davon abgesehen, dass dies eine Lüge ist, würde er heute nicht besser dastehen. Wie Sie aus der Krankengeschichte ersehen, hatte er noch eine Ostitis, und das ist auch der eigentliche Grund der Fehlbildungen. Knochenentzündung ist nun mal keine Kleinigkeit.“

„Ja, ja, Herr Wolf, das regeln wir schon. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Das Telefon summte, und der Professor nahm ab. Er meldete sich, machte dann plötzlich ein erstauntes Gesicht und sagte nur:

„Ja, ich komme selbst.“

Dann legte er auf.

„Herr Peschke hat das Verwaltungsdirektorium einberufen und meine Anwesenheit dort erbeten. Ich glaube, Herr Wolf, der Bursche wird jetzt bissig.“

„Es tut mir leid, dass Sie meinetwegen ...“

„Papperlapapp!“, lachte der Professor. „Bevor ich in die klassische Chirurgie ging, war ich als junger Mann vier Jahre bei Professor Sülz in der Zahnchirurgie. Dort habe ich zumindest gelernt, einen anständigen Backenzahn auszureißen. Und das werde ich gleich mal wieder versuchen bei Peschke. Bis nachher, Herr Wolf, und denken Sie an unsere Neuankömmlinge.“

Er lächelte noch, als er ging.

Dr. Wolf begab sich nach unten ins Labor. Er hatte dort noch einige Untersuchungen zu begutachten, musste noch Röntgenaufnahmen ansehen und war gerade mitten in seiner Arbeit, als ihn eine Laborantin ans Telefon rief.

Dr. Wolf verschlug es fast die Sprache, aber es war Inge.

„Gert“, sagte sie, „ich muss dich dringend sprechen. Ich bin frei. Paps hat eine Kaution hinterlegt. Kann ich dich irgendwo treffen?“

„Jetzt?“

„Ja, es ist sehr dringend.“

„Aber ich kann doch nicht weg.“

„Bitte, wenn nur noch ein Fünkchen Liebe in dir zu mir übrig ist, dann such einen Vertreter und komm. Bitte, komm sofort!“

*


ALWIN PESCHKE THRONTE wie ein Buddha am Kopfende des langen Tisches des Konferenzraumes. Rechts und links saßen die acht anderen Verwaltungsräte, überwiegend einflussreiche Kaufleute oder Politiker der Stadt. Der zehnte Mann im Reigen des Verwaltungsrates war der kaufmännische Direktor der Klinik, ein stiller und bescheidener Mann.

Als Professor Oberweg eintrat, spürte er sofort, dass hier schon seitens Herrn Peschkes Stimmung gemacht worden war.

Die Begrüßung fiel ziemlich kühl aus. Der Professor aber wartete nicht, bis Peschke oder ein anderer das Wort ergriffen hatte, sondern sagte knapp:

„Wenn dies hier eine Konferenz ist, kann ich nicht daran teilnehmen. Dazu gehört eine entsprechende Ankündigungsfrist, und ich muss wissen, worum es geht. Außerdem ist meine Zeit sehr in Anspruch genommen. Sie können mir jetzt nur mitteilen, was Sie auf einer noch zu vereinbarenden Konferenz mit mir besprechen wollen. Selbstredend werde ich dazu meine Herren ebenso heranziehen. Nun, was also wünschen Sie bitte?“

Bis auf Peschke waren wohl alle der Ansicht, dass es wirklich nicht anging, den Chefarzt der Chirurgie zu überrumpeln. Doch Peschke sah das alles ganz anders.

„Herr Professor“, tönte es vom anderen Tischende, „wir sind hier keine kleinen Jungen, die Sie springen lassen können, wie Sie das wollen. Ich will Ihnen auch die Zeit nicht stehlen. Nur so viel: Wir haben vor Ihrem Kommen abgestimmt. Ihr Vertrag mit der Klinik ist zum Jahresende abgelaufen. Wir werden ihn nicht erneuern. Das ist das Resultat unserer Abstimmung. Gründe nennen wir Ihnen auch: Erstens Ihre hochtrabenden Pläne, zweitens die Wahl Ihrer Kollegen in der Chirurgie, drittens Ihr nach unseren Vorstellungen viel zu hohes Honorar. Die Unkosten des Hauses sind erschreckend hoch, ganz besonders hoch sind die der chirurgischen Abteilung. Demgegenüber stehen sehr schwache Einnahmen. Es ist uns bekannt, dass Sie persönlich in mehreren Fällen angeordnet haben, dass Patienten der dritten Klasse in die zweite verlegt wurden, ohne dass dem Patienten die Kostendifferenz angelastet wurde. Es ist uns bekannt, dass Sie Operationen kostenlos durchführten und auch die Kosten des OP-Saal-Anteils, den das Haus trägt, streichen ließen.“

Peschkes Organ schwoll stärker an, als er sagte:

„Ihre sozialen Ambitionen in Ehren, aber wir sind hier nicht nur ein Fürsorgeheim. So eine Klinik muss auch eine gewisse Rentabilität aufweisen. Armenfürsorge wollen wir den zuständigen Behörden überlassen. Und aus all diesen Gründen werden wir Ihren Vertrag nicht verlängern.“

Professor Oberweg sah die übrigen Ratsmitglieder der Reihe nach an. Bis auf den kaufmännischen Direktor und einen anderen Vorstand senkten alle beschämt und verlegen den Blick.

„Nun gut, Herr Peschke“, sagte der Professor lächelnd. „Das ist eine Entscheidung, und ich nehme sie gerne an. Die Gründe, die Sie anführen, gereichen mir nicht zur Unehre, im Gegenteil. Haben Sie sonst noch etwas?“

„Wir haben zudem beschlossen, dass Sie Herrn Dr. Gert Wolf zu entlassen haben!“, rief Peschke schmetternd.

Der Professor lächelte noch immer, aber in seinen Augen zeigte sich ein gefährliches Glitzern, das Peschke am anderen Tischende freilich nicht bemerkte.

„Meine Herren“, sagte der Professor und betonte jede Silbe, als wäge er sie sorgsam ab, „es gibt ein Reglement in diesem Haus und in dem Vertrag, den wir miteinander geschlossen haben, übrigens zu einer Zeit, als ein Herr Peschke noch nicht in Ihrem Kreise saß und alles sehr viel verständnisvoller beraten wurde. In diesem Reglement ist es ausdrücklich dem Klinikchef überlassen, wen er zu seiner Assistenz in seine jeweilige Abteilung beruft. Ob ich einen Kollegen einstelle oder entlasse, das bestimme ich allein. Sie jedoch können mir kündigen, und – unseren Vertrag betreffend – haben Sie das getan. Ich bedauere, Herr Peschke, Ihrem Ansinnen nicht nachkommen zu können. Und jetzt habe ich zu tun. Guten Tag!“

Als er ging, sah ihm Peschke mit wutverzerrtem Gesicht nach. Die anderen Herren aber betrachteten den Ausgang dieses Gesprächs mit äußerst gemischten Gefühlen. Was sie dachten, sprach der langjährige kaufmännische Direktor aus:

„Ehrlich gesagt, meine Freunde, ich komme mir wie ein Schwein vor.“

*


INGE PESCHKE HATTE einen Tag und eine Nacht hinter sich, die sie so schnell nicht mehr vergessen würde. Diese Zeit war sie im Untersuchungsgefängnis gewesen, eingesperrt mit einer Gewohnheitsdiebin und zwei Prostituierten. Diese drei wussten, weshalb sie eingeliefert worden war. Und selbst diese Frauen wendeten sich empört von Inge ab, nannten sie eine „von diesen innerlich verrotteten Bürgerlichen“, beschimpften sie als „Ausgeburt des vornehmen Gesindels“ und verabscheuten ihre Tat zutiefst.

Ein Tag und eine Nacht nur, aber Inge war völlig erledigt, als man sie gegen Kaution auf freien Fuß setzte. Peschkes Anwalt und Peschke selbst holten sie am Morgen ab. Dann fuhren sie in die Wohnung zu Peschkes.

Auf dieser Fahrt hatte der Anwalt gesagt:

„Es wäre alles halb so wild, Fräulein Peschke, wenn Sie wirklich so gehandelt hätten, wie Sie das mir erzählt haben. Dr. Wolf haben Sie das ja auch so berichtet. Die Polizei will Ihnen aber nachweisen, dass Sie sofort gewusst haben, was passiert ist. Dann dieser mysteriöse Telefonanruf.“

„Ich habe von keinem Café aus telefoniert, Herr Rechtsanwalt. Ich habe wirklich nichts gewusst und ...“

„Dann die Zeugenaussage von diesem Herrn Sievertz ...“

„Es ist nicht wahr“, sagt sie und senkte den Kopf. „Das hat er nur mir zuliebe getan.“

„Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: Reden Sie mit Dr. Wolf, dass er vor Gericht seinen Eindruck und Ihre Antworten auf seine Fragen an jenem Abend bestätigt. Das hilft Ihnen weiter. Sonst nichts.“

Peschke wollte davon nichts wissen. Aber als er dann weggefahren war, beschloss Inge, mit Gert zu telefonieren.

*


DR. WOLF TRUG EINEN blauen Regenmantel, denn es begann zu nieseln. Sein kurz geschnittenes Blondhaar war unbedeckt, als er neben seinem im Parkstreifen haltenden alten Wagen auf und ab ging. Er musste lächeln, als er daran dachte, dass Peschke ihm einmal großspurig versprochen hatte, ihm zu Weihnachten einen fabrikneuen Kapitän zu kaufen. Nun, der alte Rekord würde es noch lange tun, und Peschke konnte ihm gestohlen bleiben.

Dann kam der chromblitzende neue 300er von Peschke. Inge stieg aus, und der Fahrzeugmeister Peschkes, der gefahren hatte, blickte kurz zu Dr. Wolf herüber, nickte und machte ein freundliches Gesicht. Dann zuckte er die Schultern, als wolle er sagen: Menschenskind, bist du nicht zu schade für dieses Mädchen?

Inge hatte einen dunkelblauen Nylonmantel an, das Haar mit einem zum Mantel gehörenden Kopftuch verborgen und trug Schuhe mit hohen Absätzen. Dr. Wolf musste sich eingestehen, dass sie sehr gut aussah und ihre Figur gerade in diesem Mantel sehr zur Geltung kam. Ohne dass er es zugegeben hätte, erwachte die Zuneigung zu Inge wieder hellauf.

Sie kam näher, Regenperlen rannen über ihr Gesicht. Sie lächelte ein wenig müde und sagte:

„Guten Tag, Gert.“

Er erwiderte den Gruß zurückhaltend.

„Und wohin gehen wir?“

„Setzen wir uns in deinen Wagen, Gert, vielleicht fahren wir ein Stück weiter, wo nicht so viele Menschen sind wie hier.“

Sie sah ihn mit bittendem Lächeln an, und er nickte nur.

Schweigend fuhren sie die Ausfallstraße hinaus bis zur Autobahnauffahrt. Dann bog Dr. Wolf in einen gepflasterten Weg ein, ohne sich zu überlegen, dass es genau der Weg war, in den er damals, als er Inge zum ersten Male im Auto mitgenommen hatte, hineingefahren war.

Sie bemerkte es eher als er.

„Unser Weg“, sagte sie leise.

Es ging ein Stück neben dem Hochdamm der Autobahn her, dann ging es bergab zu einem kleinen Weiher, der jetzt im Regen so trostlos wirkte wie ein Mondkrater.

Dr. Wolf hielt an, und wieder war es genau die Stelle, wo er damals angehalten hatte. Nur hatte seinerzeit der Mond am Himmel gestanden, und es war eine herrliche Maiennacht gewesen.

„Gert“, sagte Inge leise, „ich habe mich gemein benommen. Ich hätte tun sollen, was du gesagt hast.“

Er starrte zur Windschutzscheibe hinaus, als führe er noch und müsse auf den Verkehr achten. Neben ihr knisterte der Nylonmantel Inges, und er atmete den Duft ihres Haares, ein Geruch, den er noch immer so gut kannte und der auf ihn stets die gleiche anziehende Wirkung gehabt hatte. Auch jetzt noch.

Aus den Augenwinkeln heraus, sah er ihre Hände auf ihrem Schoß. Hände, die er einmal geküsst und gestreichelt hatte. Hände, die er liebte. Auch jetzt noch.

Er spürte, dass die Mauer, die er zwischen Inge und sich aufgerichtet hatte, Sprünge besaß, alte gemeinsame Erinnerungen wie Brücken über diese Mauer ragten. Gemeinsame Erinnerungen, ja. Und gemeinsame Empfindungen. Er ahnte, dass Inge ihn noch liebte. Ganz im Geheimen ertappte er sich bei dem Wunsch, dass es noch so sein möge. Denn er liebte sie auch noch, trotz allem.

„Gert, mein Anwalt hat mir geraten, dich zu bitten, auf einer Vernehmung so auszusagen, wie du es vor dem Kommissar getan hast. Aber ich, Gert, ich bitte dich, das nicht zu tun.“

Er sah sie an und bemerkte, dass in ihren Augen Tränen standen.

„Du hast es also doch gewusst?“

Sie blickte ihn unverwandt an und nickte leicht.

*


„UND NUN?“

„Ich muss dir etwas gestehen, Gert. Davon rührt ja alles her. Ich weiß nur nicht, wie ich es dir sagen soll.“

Er sah wieder zur Windschutzscheibe hinaus und erwiderte rau:

„Sprich nur. Mich überrascht fast nichts mehr.“

„Bitte, Gert, nicht so!“

Er fühlte ihre Hand auf seinem rechten Unterarm, und diese Berührung wirkte auf ihn wie elektrischer Strom. Es war nichts anders geworden. Dieselbe Leidenschaft wie zuvor. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder es verfluchen sollte.

„Bitte, Gert, sag mir, dass du mir diesmal glaubst. Jetzt sage ich dir alles. Wirst du mir zuhören ... Wirst du versuchen, mich zu verstehen?“

Er bezwang sich, sie anzusehen. Ihre Stimme, ihr Fluidum, das alles war für ihn überwältigend. Dann noch dieser See, der Weg. Warum, zum Teufel, war er gerade hierher gefahren?

Kratzig sagte er:

„Ja, Inge, aber ich muss in einer Stunde wieder in der Klinik sein. Ich höre dir zu.“

Er merkte nicht, wie sie ihn von der Seite ansah, flehend, verlangend und bittend. Dann sprach sie, erst leise, dann immer mehr von der Erinnerung beeindruckt.

„Bevor ich zu Vater ins Geschäft ging, war ich auf der Uni, wie du weißt. Betriebswirtschaft in Köln. Auch nicht neu für dich. Aber ich war damals schon kein Kind mehr, Gert. Und dich habe ich noch nicht gekannt. Es gab einen Mann vor dir.“

Sie schwieg, um seine Reaktion abzuwarten, aber er zeigte nicht die geringste. Wie eine Statue saß er am Steuer und starrte durch die Windschutzscheibe, zwischen Regenperlen hindurch auf das trübe Wasser des Weihers.

„Er hieß ... na, nennen wir ihn einmal Hans. Das ist sein Vorname. Hans und ich waren zusammen in den Vorlesungen, und er wohnte nicht weit von mir weg. Er studierte dasselbe wie ich, aber er war faul. Seine Eltern sparten sich sein Studium vom Munde ab, doch in den Ferien lag er ihnen noch zusätzlich auf der Tasche. Trotzdem hatte ich eine Schwäche für ihn. Heute kann ich offen sagen, dass er ... dass er, ja, eben ein Typ war, der einer Frau gefiel. Ich habe ihn nie geliebt, aber ich war ihm verfallen. Vielleicht ist das kein gutes Wort dafür, doch du verstehst mich sicher. Und dann kam der Tag, wo er sich mit seinem Vater überwarf und der das Studium nicht mehr bezahlen wollte. Hans war durch das Examen gefallen. Zum zweiten Male. Er war furchtbar aufgeregt und ließ sich ein paar Tage nicht mehr bei mir sehen. In die Vorlesungen wollte er auch nie mehr gehen. Dann, eines Abends, tauchte er auf. Er blutete an der einen Hand, hatte eine dicke Aktentasche bei sich und sagte mir, die Polizei sei hinter ihm her! Später erfuhr ich, dass er einen Bankboten überfallen habe, schon am Vormittag, und seither sei er herumgehetzt. Ich hatte furchtbare Angst, kannst du dir denken, und ich wollte auch, dass er das Geld zurückgeben müsse. Das wollte er nicht. Es war so ähnlich wie zwischen uns beiden vorgestern Abend, nur viel dramatischer. Zudem wurde Hans grob. Ich bin weggelaufen vor Angst, und er hat noch gedroht, er werde mich umbringen, wenn ich etwas verriete. Auf der Straße bin ich mit der Polizei zusammengeprallt, und die haben gleich nach ihm gefragt. Sie ahnten wohl, was er mit mir gemacht hatte, denn von seiner Hand war Blut in meinem Gesicht, von dem Schlag. Dann haben sie ihn mitgenommen. Später kam nochmals Polizei und durchsuchte das Zimmer, aber sie fanden die Tasche nicht, die Hans wohl irgendwo versteckt hatte. Erst als ich auszog, um hierher zu gehen, fand ich die Tasche. Sie hing schon seit Monaten auf dem kleinen Balkon, den ich hatte, und zwar außen an den Haken für die Blumenkästen. Es ist mir schleierhaft, dass es niemand gemerkt hat. Ich habe die Tasche der Polizei gebracht. Jetzt ist Hans hier in der Stadt. Er wurde vorzeitig entlassen. Vorgestern Morgen, ich lag noch im Bett, rief er mich an und wollte mich sprechen. Als ich das abschlug, sagte er, er werde meinen Bräutigam aufsuchen, er wisse, wer das sei, und dem wolle er erzählen, ich sei jahrelang ein Gangsterliebchen gewesen und so weiter. Da sagte ich zu dem Treff zu. Wir trafen uns in einem alten Mietshaus in der Viktoriastraße. Er wohnt dort bei einem Bekannten, der eher wie ein Berufsverbrecher aussieht.“

Sie machte eine Pause und sah Gert an.

Er sah sie an, weil sie schwieg, und sagte:

„Weiter! Ich höre.“

„Mein Gott, Gert, was denkst du jetzt von mir?“

Er lächelte.

„Findest du nicht, dass du erst zu Ende erzählen solltest? Ich habe noch gar kein Urteil.“

Sie seufzte beklommen und sprach weiter.

„Er sah verkommen aus, hatte Manieren wie ein Halbstarker und verlangte von mir die Tasche. Ich sagte ihm, dass ich die längst der Polizei übergeben hätte. Da forderte er Ersatz. Ich hätte ihn bestohlen, meinte er. Dass es gestohlenes, ja sogar geraubtes Geld war, davon wollte er nichts wissen. Ich sollte ihm noch am selben Tage fünftausend Mark besorgen, dann würde er niemandem in der Stadt etwas sagen, wer ich seiner Meinung nach sei. Er hatte eine Liste von Vaters Hauptkunden, die er alle informieren wollte, falls ich nicht zahlte. Mit dir wollte er auch sprechen.“

„Und dann?“

„Ich konnte doch Paps nicht fragen. So bin ich zu einem Onkel gefahren, der Paps’ Bruder ist, aber nichts mehr von Paps wissen will. Ich habe mich mit ihm auf jener Baustelle getroffen. Er hat mir das Geld geliehen. Das habe ich Hans gebracht.“

„Und damit, glaubst du, ist alles vorbei?“

„Nein. Er hat schon wieder einen Brief geschrieben. Er möchte mich heute Abend sprechen.“

„Deine Eltern wissen nichts?“

„Nein.“

Dr. Wolf lächelte.

„Du scheinst vom Pech verfolgt zu sein. Und als du bei ihm zum ersten Male gewesen bist, ist die Sache mit dem Unfall passiert?“

Sie nickte.

„Ich war fertig. Aber dann, als das noch geschah, war es ganz aus. Ich weiß nicht, aber es war schon mehr als ein Kurzschluss.“

„Das würde sogar der Richter verstehen.“

„Um Himmels willen! Das darf niemand wissen. Wenn jemand das hört, der denkt: Na ja, dieses Mädchen sagt so, und der Kerl sagt so, aber so ganz stubenrein wird das Mädchen schon nicht sein.“

„Sehr wahrscheinlich. Aber gehen dich die anderen Leute etwas an? Hast du daran gedacht, als die Sache mit dem Lastwagen passierte und du Gas gegeben hast statt zu bremsen? Hast du da an andere Leute gedacht?“

„Nein“, bekannte sie ehrlich, „ich habe nur an mich selbst gedacht. Selbst jetzt tue ich das.“

„Reue ist etwas Schönes, Inge. Die Erkenntnis, etwas falsch gemacht zu haben, ebenfalls. Sag mir die volle Wahrheit: Ist die Geschichte mit diesem Hans so verlaufen, wie du gesagt hast? Oder seid ihr wirklich ein Ganovenpärchen gewesen?“

„Gert!“, sagte sie heftig. „Aber Gert, das kannst du doch nicht im Ernst gefragt haben!“

Er sah sie an.

„Ich habe das in vollem Ernst gefragt, Inge. Und zwar deshalb, weil ich nicht nochmals Halbheiten hören möchte. Du erwartest doch Hilfe von mir?“

Sie nickte zögernd.

„Ich hoffe, dass du mir hilfst.“

„Gut. dann muss ich alles wissen. Alles!“

„Ich hatte Hans nach dem Durchfall durchs Examen nicht mehr gesehen. Bis zu jenem Abend, als er mit der Tasche ankam. Und dann nicht mehr bis vorgestern. Das ist die reine Wahrheit.“

„Du warst seine Geliebte, nicht wahr?“

„Ich habe von dir damals noch nichts gewusst“, erwiderte sie entschuldigend.

„Du hattest doch vor mir auch ...“

„Hör auf! Darum geht es nicht. Ich will nur wissen, ob da nicht noch ein paar dunkle Flecken sind, die dieser Bursche jetzt auszubreiten versucht.“

„Er hat gesagt, wenn ich zur Polizei ginge, das wäre ihm egal. Die Briefe für alle in Frage kommenden Leute hätte er schon geschrieben und frankiert. Sein Freund werde die dann sofort abschicken.“

Er schwieg und überlegte. Sie sah ihn währenddessen von der Seite an und legte wieder ihre Hand auf seinen Arm. Dann flüsterte sie unter Tränen:

„Gert, verzeih mir. Ich will für alles einstehen, aber bitte, Gert, verzeih mir!“

Er wandte sich ihr zu und betrachtete ihr blondes Haar, die blauen, jetzt mit Tränen gefüllten Augen, ihr schmales Gesicht, die reizend geschwungenen Lippen.

„Bitte!“, flüsterte sie, und eine Träne rann ihr über die rechte Wange.

Sie glitzerte wie rinnendes Quecksilber.

Es mag töricht sein, dachte Dr. Wolf noch, aber dann dachte er gar nichts mehr, sondern umarmte sie, presste ihr tränenfeuchtes Gesicht an seine Brust und küsste sanft ihr Haar.

Die Mauer, die er zwischen sich und ihr errichtet hatte, brach schnell zusammen.

*


NACH DER KONFERENZ lud Peschke seine Vorstandskollegen zu einem kleinen Umtrunk ein. Das Ergebnis müsse, wie er sich ausdrückte, ordentlich durchnässt werden.

Zwei der Herren entschuldigten sich und gingen. Die anderen nahmen die Einladung an. und so versammelte sich der große Teil des Kollegiums im Ratskeller wieder. Peschke. dem der Wein schmeckte, ließ große Worte tönen, man zog sich in ein Nebenzimmer zurück und feierte dort bis in den Abend. Die Ehefrauen erfuhren etwas von einer wichtigen Besprechung, und gegen 21 Uhr wechselte man vom Ratskeller in die „Schwarze Katz“ über, einem Nachtlokal. Von einem lukullischen Abendessen wieder fit geworden, ging man vom Wein zu den harten Drinks über. Zwei flotte Bardamen hoben die Stimmung der acht Herren erheblich, und schließlich sonderten sich drei der Herren vom Club der anderen ab, darunter Peschke. Während also die übrigen fünf sich von Taxis heimfahren ließen, amüsierte sich Peschke mit seinen beiden Getreuen und drei grell geschminkten Blondinen weiter.

So gegen 23.30 Uhr waren die drei Männer blau wie die Veilchen. Die „Damen“ zogen sich zurück, als sie herausfanden, dass nichts mehr zu holen war. Und nun bemächtigte sich der Hausportier der drei. Weil Peschke bereits krakeelte, wurden sie kurzerhand und diskret an die Luft geschafft. Der Portier aber wollte sich die Zuneigung Peschkes, den er kannte, nicht verscherzen. Also schleppte er alle drei zu Peschkes Mercedes. Er setzte sie sogar noch hinein, zog aber den Zündschlüssel aus Peschkes Tasche und beschloss, den morgen früh zu Peschkes Fahrzeugmeister zu bringen.

Kurz vor Mitternacht bekam Peschke wieder einen klaren Augenblick. Er suchte seinen Schlüssel, fand ihn aber nicht. Neben ihm lag halbschräg einer der Saufkumpane, hinten lag schnarchend der andere.

Peschke entsann sich des Zweitschlüssels, den er mit Leukoplast unter dem Armaturenbrett angeklebt hatte. Er fand ihn auf Anhieb, doch das Einstecken ins Schloss bereitete ihm einigen Kummer. Als es endlich soweit war, bekam Peschke plötzlich arges Herzklopfen. Ihm wurde speiübel, und er rang nach frischer Luft. So öffnete er die Tür, fiel fast aufs Pflaster und übergab sich. Danach wurde es keinesfalls besser. Ihm rann kalter Schweiß von der Stirn, und sein Körper bebte in einem Schwächeanfall. Das Herz pochte wie rasend.

In seiner Angst schüttelte er den Gewürzgroßhändler Peine, der neben ihm schnarchte. Peine wachte auf, glotzte Peschke verständnislos an und murmelte:

„Du alte Flasche, was willst du?“

„Egon! Hör doch, Egon, mir ist so schlecht! Fahr mich nach Hause! Fahr mich schnell nach Hause!“

Egon Peine grunzte wie ein Rüsseltier und murmelte:

„Dummer Mensch. Bin doch besoffen ... Fahr selbst.“

„Mir ist ... mir ist so schlecht! Fahr mich doch ... es ist ... nicht weit. Egon! Hör doch, Egon!“

Egon rülpste, sank wieder in sich zusammen und schlief weiter. Auch von hinten ertönte nur rasselndes Sägen.

Das Herzklopfen wurde schlimmer. In der Schulter war so ein furchtbarer Druck, als habe man ihm Blei in die Brust gegossen. Ein Herzinfarkt, ich bekomme einen Herzinfarkt, dachte Peschke verzweifelt.

Er saß ganz still, die Tür noch immer offen. Und ganz allmählich wurde es besser.

Und in seiner Not bemerkte er nicht, was sich unter ihm tat. Vorhin, als er den Schlüssel suchte, hatte er die Handbremse gelöst. Der Gang war nicht eingelegt. Der Platz, auf dem der Wagen stand, hatte ein sanftes Gefälle. Vielleicht wäre der Wagen nicht weggerollt, hätte man ihn nicht bewegt. Aber Peschkes hastige Bewegungen vorhin, das Türöffnen oder was sonst es gewesen sein mag, brachten den Wagen zum Rollen. Erst ganz langsam. Auf dem Betonboden des Parkplatzes rollte er fast unmerklich. Doch allmählich drehten sich die Räder schneller, immer schneller, dann die Straße, darüber hinweg, der Fußweg, ein Aufprall auf den Bordstein, dann quer über den Fußweg, hier in die riesige Scheibe des Selbstbedienungsladens. Grelles Neonlicht. Bunte Auslagen.

Peschke fiel von dem Anprall am Bordstein fast aus dem Wagen, klammerte sich instinktiv am Lenkrad fest. Dann sah er das Bunte der Auslagen auf sich zukommen, Apfelsinen, Zitronen, Äpfel, Kaffeekartons, Schilder, Konserven. Die Scheibe zerbarst, der Wagen wirbelte die Auslagen zur Seite, das Licht erlosch. Und dann schmetterte etwas auf Peschkes Kopf. Er war sofort bewusstlos.

*


DR. HELM LAG MIT EINER Angina zu Bett. Als Dr. Wolf nach dem Treffen mit Inge zur Klinik zurückkehrte, bat ihn Oberarzt Dr. Holmann, den Nachtdienst zu übernehmen.

„Sie sehen übrigens nicht gut aus, Wolf. Müde? Am besten legen Sie sich ein paar Stunden hin, damit Sie heute Abend fit sind.“

Dr. Wolf dachte daran, dass er eigentlich am Abend zu diesem Hans gehen wollte, doch dann überlegte er es sich anders. Er rief Kommissar Glanz an. Doch er bekam ihn erst nach einer Stunde.

„Herr Kommissar“, sagte Dr. Wolf, nachdem sie sich begrüßt hatten, „ich bitte Sie um Ihre Hilfe. Ich kann hier im Augenblick nicht weg. Könnten Sie mich aufsuchen? Zwar habe ich jetzt dienstfrei, aber ich muss noch zwei Berichte schreiben, die brennend eilig sind.“

„Gut, Herr Doktor, ich bin gleich da. Aber ich habe auch eine Bitte. Als ich letztens bei Ihnen war, hat mir Ihre Schwester Gerda einen so wunderbaren Kaffee gekocht. Fragen Sie sie doch, ob sie das wieder für mich täte!“

Ein paar Minuten später sprach Dr. Wolf mit Schwester Gerda und trug ihr den Wunsch Kommissar Glanz’ vor. Sie strahlte übers breite Gesicht und rief:

„Mit ’nem janz jroßen Vergnüjen, Doktorchen! Der bekommt ’nen Muckefuck, an den er sich bis ins Jrab erinnert. Und Sie haben ’n Kaffee och dringend nötig, wie?“

„Ich möchte es nicht abstreiten. Er muss gleich da sein, der Herr Kommissar.“

Neugierde glomm in ihrem Blick auf.

„Is’ wieder was mit ’m Frollein Peschke? Na, von der kommt och nie nischt Jutes!“

„Ich muss schon bitten, Schwester Gerda! Kümmern Sie sich bitte nicht um solche Dinge. Und etwas anderen Ton, was Fräulein Peschke betrifft, wenn ich bitten darf!“

Sie machte ein beleidigtes Gesicht und schmollte:

„Bei Sie wird einer och nie schlau. Heute jrün und den nächsten Tag rot.“

So zog sie ab.

Kommissar Glanz hielt Wort. Dr. Wolf empfing ihn in seinem Büro und erzählte ihm ausführlich die ganze Geschichte. Dann gab er ihm die Adresse von diesem Haus.

Der Kommissar hörte sich das alles ruhig an, bat dann darum, telefonieren zu können und rief seine Dienststelle an. Er gab die Adresse durch und beorderte zwei Beamten dahin.

„Ich warte hier auf Nachricht“, sagte er endlich. „Hier bei Dr. Wolf im St.-Anna-Hospital.“

Er legte auf und sah Dr. Wolf an.

„Das warten wir gleich ab. Solche kleinen Fische fangen wir sozusagen en passant. Ich freue mich übrigens, dass Fräulein Peschke vernünftig geworden ist. Die Vorgeschichte macht auch einiges verständlicher.“

Nach zwanzig Minuten kam der Anruf. Als der Kommissar damit fertig war, sagte er zu Dr. Wolf:

„Wir haben sie schon, auch die Briefe. Gestehen werden sie den Erpressungsversuch sicher auch noch.“

Dr. Wolf wollte wissen, wie es weitergehen sollte, aber da winkte der ergraute Herr ab und sagte lächelnd:

„Überlassen Sie das uns. Dieser Bursche beißt niemanden mehr.“

*


GEGEN ZWEIUNDZWANZIG Uhr trat Dr. Wolf den Nachtdienst an. Eben noch hatte er mit Inge telefoniert, die seit der Festnahme dieses Hans wie ausgewechselt war. Als sie hörte, Dr. Wolf habe morgen Vormittag dienstfrei, versprach sie, ihn zu besuchen.

Die erste Stunde brachte wenig Aufregung. Zwei Verkehrsunfälle mit leichten Verletzungen, einen Notarzteinsatz an der Autobahn, der hinfällig wurde, weil der Unglücksfahrer tot war, bevor der Arztwagen dort anlangte. Dann nichts bis kurz vor Mitternacht.

Dann aber kam es.

Die Lautsprecheranlage summte. Der Sprecher der Zentrale meldete sich.

„Einsatz Notarztwagen. Drei Verletzte Floraallee. Blutkonserven, zwei Ärzte angefordert. Einer der Verletzten mit Arterienblutung! Floraallee – Ecke Binser Platz. Ich wiederhole ...“

Dr. Wolf rief bei Dr. Brecht an, dem Anästhesisten. Dr. Brecht war in Bereitschaft und hatte geschlafen. Das war sein gutes Recht, weil er nur bei Operationen kommen musste. Er war sofort fertig.

Unten an der Einlieferung brummte schon der Motor des Notarztwagens. Die Blaulichter zuckten. Fahrer und Beifahrer saßen auf ihren Plätzen. Zufällig dieselben Männer, die neulich beim Unfall von Frau Hartwig dabei gewesen waren.

Kaum war der Wagen aus der Einfahrt heraus, heulte schon die Sirene.

„Wie die Irren fahren sie alle, und unsereiner muss nachts ’raus“, meinte Dr. Brecht, gähnte herzhaft und knurrte mürrisch: „Und nicht mal ’ne Morgenzigarette ist drin. Weißt du, was passiert ist, Gert?“

„Nicht viel. Drei Verletzte, einer mit Arterienblutung.“

Dr. Brecht war so alt wie Dr. Wolf. Sie verstanden sich recht gut, hatten auch bei schon sehr vielen Operationen gemeinsam gearbeitet. Brecht hatte eine breite Narbe quer über die Stirn, die von einem Sportunfall herrührte. Viele hielten das aber für einen Schmiss aus einer Mensur. Dabei war Brecht so ungefähr der unkriegerischste Arzt, den Dr. Wolf sich denken konnte.

Der Notarztwagen stoppte.

„Da wären wir also“, meinte Dr. Wolf. „Nimm die zweite Tasche mit, Günter!“

Sie stiegen aus. Diesmal standen nur wenige Menschen da, aber dafür zwei Polizeiwagen, deren Blaulichter blitzten. Unweit davon stand ein im Scheinwerferlicht der Polizeiwagen glänzender Mercedes. Er befand sich zur Hälfte in den Auslagen eines Lebensmittelgeschäftes, zur anderen Hälfte auf dem Fußweg. Sein Dach war eingedrückt, die Windschutzscheibe zerschlagen. Aus der Öffnung ragte noch ein Stück der Ladenscheibe heraus, die wie das Messer einer Guillotine nach unten gesaust sein musste.

Neben dem Wagen lagen die Verletzten. Neben dem einen knieten zwei Polizisten. Sie hatten ihm den blutbesudelten Arm abgebunden. Die Hand des Mannes sah furchtbar aus.

Auch der danebenliegende Verletzte blutete, aber am Kopf. Der dritte lag reglos. Das war Peschke. Dr. Wolf erkannte ihn sofort.

*


ZUERST MUSSTEN SIE sich um den Mann mit der zerschmetterten Hand und der damit zusammenhängenden Arterienblutung kümmern. Während sie das taten, rief der Polizeiobermeister, der die Streife führte und den Unfall aufnahm:

„Blutprobe von allen dreien, bitte, Herr Doktor!“

Zuerst hatten Dr. Wolf und Dr. Brecht andere Sorgen. Der Fall des Handverletzten war nicht lebensgefährlich. Doch der zweite Verletzte hatte eine bedrohliche Schnittverletzung am Nacken. Das Rückgrat war stark geprellt, vermutlich sogar verletzt, Nervenstränge konnten unter Umständen zerstört sein. Der Verletzte war wie paralysiert und schien furchtbare Kopfschmerzen zu haben.

„Den müssen wir gleich hier absolvieren“, meinte Dr. Wolf. „Lebend bringen wir ihn sonst nicht in die Klinik. Hast du schon die Blutuntersuchung gemacht von der Sectio der Arteria?“

„Ja, AB plus. Wie viel bekommt er?“

„Zweihundert Kubik sofort.“

Einer der Fahrer begann die Blutinfusion an dem Handverletzten vorzubereiten und die AB-plus-Konserven herauszusuchen. Dr. Brecht prüfte, ob alles stimmte, dann begann die Infusion. Gleichzeitig war Dr. Wolf mit der Untersuchung des bäuchlings auf dem OP-Tisch im Notarztwagen liegenden Nackenverletzten fertig.

„Noch ’ne Blutgruppe zu untersuchen, Günter. Mein Gott, ist der besoffen. Die sind ja direkt explosiv vor Alkohol ...“

„Der hier auch.“

Dr. Brecht sah den auf der zweiten Trage liegenden Handverletzten an.

„Vielleicht hat ihn die Blutinfusion wieder auf ein erträgliches Maß an Alkohol im Blut gebracht.“

„Schmitz, fordern Sie den zweiten Wagen an. Der mit der Infusion soll sofort zur Klinik!“, bat Dr. Wolf den Fahrer.

Der schaltete sofort den Sprechfunk ein.

Nun begann Dr. Wolf mit der Vorbereitung zur Operation. Dr. Brecht hatte bereits die Narkose eingeleitet. Als alles so weit war, sagte er:

„Kreislauf mies, Herz offenbar sehr überlastet. Tu nicht zu viel daran, Gert. Ich habe ein bisschen Sorge.“

„Was sein muss, muss sein. Fangen wir an.“

„Herr Doktor, soll ich die OP-Nachtschwester anfordern?“, fragte der Fahrer.

„Nein, kümmern Sie sich um den anderen Verletzten, der noch draußen ist. Er hat eine Gehirnerschütterung. Achten Sie darauf, dass er auf der Seite liegt, damit er uns nicht noch erstickt.“

Für die nächsten zwanzig Minuten hatte Dr. Wolf alle Hände voll zu tun. Als er fertig war, stand für ihn fest, dass der Verletzte ewig ein Krüppel sein würde, dessen Kopf nur noch von einer Stütze gehalten werden konnte. Doch näher lag, dass der Mann vorher sterben würde.

„Wie heißt der Mann?“, fragte Dr. Wolf den Polizeiobermeister.

„Egon Peine.“

„Verständigen Sie die Angehörigen. Wir bringen ihn jetzt zum St.-Anna. Er ist in schwerster Lebensgefahr.“

Nachher wurde Egon Peine in den zweiten Krankenwagen umgeladen. Es war die letzte Fahrt seines Lebens. Er starb auf dem Wege zum St.-Anna-Hospital. Im Alter von sechzig Jahren hielt der Mensch nicht mehr solche Verletzungen durch, oder jedenfalls nur selten.

Dann bemühte sich Dr. Wolf um den Mann, der ihm in den letzten zwei Tagen so hart zugesetzt hatte: Alwin Peschke.

Peschke hatte eine Prellung mit Platzwunde über der Stirn und befand sich noch in tiefer Bewusstlosigkeit. Andere Wunden konnte Dr. Wolf nicht feststellen. Ein Schädelbruch lag nicht vor, hingegen eine schwere Gehirnerschütterung. Commotio cerebri nannte man das.

„Das ist der Mann, der den Wagen gefahren hat. Er muss stockbesoffen sein“, sagte der dicke Obermeister. „Vergessen Sie nur die Blutprobe nicht, vor allem von dem da!“

„Schon gut. Gehen Sie jetzt hinaus. Das ist ein Operationsraum und kein Wachzimmer.“

Der Polizist knurrte etwas und verschwand.

Plötzlich erwachte Peschke. Er verdrehte noch ein paarmal die Augen, sah plötzlich etwas klarer und erkannte Dr. Wolf. Was mag er jetzt denken?, fragte sich Dr. Wolf.

„Mein Kopf ... tut' so weh ... mir ist schlecht ...“

Dann war er wieder ohne Bewusstsein.

„Das ist schon ’ne Überraschung, wie?“, meinte Dr. Brecht. „Ausgerechnet der muss uns unter die Lampe kommen.“

Dr. Wolf hörte Herz und Kreislauf ab.

„Du, Günter, mir gefällt seine Pumpe nicht. Das hört sich gefährlich an wie bei Angina pectoris. Oder dicht vor 'nem Infarkt. Der Blutdruck ist da sagenhaft. Tolle Herztöne. Das ist Zucker für die von der Inneren. Am besten, er kommt gleich auf die Innere. Mensch, so ein Schwamm, und dann voll Schnaps.“

Dr. Wolf nahm die Blutprobe und füllte den roten Lebenssaft ins Reagenzglas.

„Das überlassen wir am besten denen vom Labor. – Schmitz, wir fahren ab.“

*


„JA, HERR DR. WOLF, das sind gut und gerne stolze 2,44 Promille, die dieser Peschke intus hatte.“

Der Laborant lächelte mitfühlend.

„Da kann man natürlich ein Schaufenster nicht mehr von der Straße unterscheiden.“

„Und die anderen?“, fragte Dr. Wolf.

„Nicht besser.“

Der Laborant zuckte die Schultern.

„Der eine, dieser Peine, hatte sogar knapp 3 Promille. Nun ja, der braucht sich keine Sorgen mehr zu machen. War das Tod auf dem Tisch?“

„Nein, kein exitus in tabula. Er ist auf dem Transport gestorben. So gut wie hoffnungslos, dann noch der Alkohol. Das hält kein Pferd aus.“

„Na, dann gute Nacht, Dr. Wolf. Ich bin müde. Und immer sind es die Saufköpfe, die einem den Schlaf nehmen. Fange morgen ’ne Stunde später an.“

Dr. Wolf gab darauf keine Antwort mehr. Er wartete auf den Anruf des Nachtarztes der Inneren Station. Der kam dann doch so überraschend für Dr. Wolf, dass er erschrocken zusammenzuckte, als das Telefon summte.

„Herr Wolf? Ja, hier Eggerth. Also das ist eine ganz böse Geschichte mit diesem Manne. Wenn es nur die Gehirnpressung wäre. Das Schlimmste ist ein Infarkt. Er hat ihn schon hinter sich, offenbar kurz vor, während oder nach dem Unfall. Wenn er viel Glück hat, schafft er die sechs Wochen striktes Stillliegen. Aber er ist ein Fass. Er hat offenbar zeitlebens alles getan, um sich zu ruinieren. Unmäßig gefressen, Alkohol noch und noch, und wer weiß, wie viele Zigarren am Tage. Wir haben ein EKG gemacht, das grausam aussieht. Ich bin noch nicht mit der Auswertung fertig, aber da stellt sich eher Schlimmeres als etwas Gutes heraus. Der Blutdruck ist eine kleine Sensation, und wenn er wieder da ist, machen wir einen zahmen Grundumsatz. Ich denke, ehrlich gesagt, stehen seine Chancen ungefähr zehn zu hundert. Zehn dafür, dass er es schafft.“

„Danke, Herr Kollege.“

„Äh, Moment noch, bitte. Sagen Sie, Herr Wolf, ist das nicht dieser Baustoffmensch, mit dessen Tochter Sie verlobt waren?“

„Ja, er ist es.“

„Na. Da hat es aber geblitzt. Wissen Sie, dass der Ihrem Chef eingeheizt hat? Soll sogar den Vertrag gekündigt haben.“

„Ich habe so etwas von Herrn Holmann gehört.“

„Na, dem werden ja die Augen quellen. Und ausgerechnet bei uns ist der – mein Gott, manchmal wünschte ich, es hätte den Eid des Hippokrates nie gegeben. Wenn man dann so eine Type unter die Finger bekommt ...“

„Herr Kollege Eggerth, jetzt ist er nur Patient. Nichts weiter als Ihr Patient.“

„Ja, ich möchte fast sagen: leider! Also, bis morgen, Herr Kollege.“

Nach einer Weile rief Dr. Wolf bei Peschkes zu Hause an. Als sich Frau Peschke meldete und er sicher war, mit ihr zu sprechen, sagte er nur:

„Kommt bitte beide sofort zum St.-Anna.“

„Gert? Du bist das doch! Gert, was ist passiert?“

„Ein Unfall. Herr Peschke ist verletzt. Gehirnerschütterung. Und dann noch etwas anderes, das muss ich euch hier erklären. Kommt bitte bald.“

„Gert, was ist mit meinem Alwin?“, schrie Frau Peschke durch die Leitung.

„Er hatte außer dem Unfall einen Herzinfarkt. Aber er lebt.“

„Wir kommen. Wir kommen sofort!“

„Nehmt ein Taxi, denn der Wagen ist hin. In ihm ist er gefahren.“

„Ach du liebe Güte. Der teure Wagen. Ja, Gert, wir kommen.“

Danach hatte Dr. Wolf noch mit den Angehörigen Peines zu tun, die erschüttert anhören mussten, dass Peine aus diesem Unfall zumindest als Verkrüppelter hervorgegangen wäre, mit dauernden Schmerzen, sicher auch mit Gehirnschäden. Vielleicht, so sagte Dr. Wolf tröstend, war es eine Gnade, dass er sterben konnte.

„Hatte er einen schweren Tod?“, fragte die Witwe, eine kleine, zierliche Frau mit weißem Haar.

„Er hat nichts gespürt, denn er war noch in Narkose. Er ist hinübergedämmert.“

„Wenigstens keine Schmerzen mehr“, sagte die Frau und wandte sich schluchzend ab.

Dann kam Frau Peschke mit Inge. Und wenn Dr. Wolf immer schon Mitleid mit Frau Peschke gehabt hatte, jetzt bewunderte er diese Frau. Nein, sie war vom Gelde noch nicht verdorben.

„Gert, ich muss die Wahrheit wissen. Er war betrunken, nicht wahr?“, sagte sie heftig. „Keine Sorge. Gert, wir wollen überlegen, was wir tun können. Kommt er durch?“

„Die Innere Station hat hervorragende Ärzte. Man wird dort alles tun. Er hat eine Chance.“

Frau Peschke weinte nicht, sie starrte ihn nur gebannt an.

„Gert, wirst du mir einen Gefallen tun? Du weißt, wir beiden haben uns immer verstanden. Gert, kümmere dich um ihn. Gert, er ist nicht schlecht. Das Geld, das schnell verdiente Geld hat ihn verrückt gemacht. Ich weiß, dass er jetzt wieder so wird, wie er früher einmal war. Bring mich zu ihm, Gert. Wenigstens sehen will ich ihn.“

Inge weinte. Doch ihre Mutter erinnerte Dr. Wolf jetzt an die Art Frauen, die ein Leben lang wie Mauerblümchen im Schatten ihres Mannes standen, dann aber, wenn die Not es erforderte, plötzlich ganz klar wussten, was sie zu tun hatten und wie Löwinnen für ihre Familie kämpften. Tapfere Frau Peschke, dachte Dr. Wolf.

*


„OBERMEISTER KOLBIG, haben Sie die Unfallsache Peschke abgeschlossen?“, fragte Polizeihauptkommissar Albrecht, ein bulliger Mann, über dessen Brust sich die Uniformjacke spannte.

Der dicke Kolbig kam herein und legte die Akte vor.

„Klarer Fall, Herr Hauptkommissar. Der Wagen ist nicht gefahren worden, er ist gerollt. Der Zündschlüssel steckte gerade, das Lenkradschloss war eingerastet, der Motor kalt. Der Portier vom „Schwarzen Kater“ hat sie alle drei in den Wagen geladen und Peschke den Schlüssel weggenommen. Peschke muss aber noch einen gehabt haben. Er ist aber nicht gefahren. Vielleicht hat er die Handbremse gelöst oder versehentlich den Gang ausgerastet. Die Stelle ist abschüssig. Mit eingeschnapptem Lenkradschloss musste der Wagen genau auf das Geschäft zurollen. Wir haben das rekonstruiert.“

„Also kein Unfall infolge Alkoholeinwirkung?“

„Hm, ich weiß nicht. Eigentlich ja doch.“

Der dicke Obermeister zuckte die Schultern.

„Na ja, lassen wir das den Richter klären. Haben Sie sich schon darum gekümmert, ob Peschke vernommen werden kann?“

„Ja, Herr Hauptkommissar. Aber es geht nicht.“

„Noch bewusstlos?“

„Nein. Ein zweiter Infarkt. Tot.“

Der Hauptkommissar sprang vom Stuhl.

„Menschenskind, ist das wahr? Der olle Peschke tot? Mensch, Kolbig, wissen Sie, dass Peschke die Kegelbahn für den Polizeisportverein gestiftet hat? Verdammt noch eins, Kolbig, das ist ’n Schlag ... Der hätte auch noch was für eine neue Aschenbahn auf dem Sportplatz zugegeben. Wann ist die Beerdigung?“

„Keine Ahnung, Herr Hauptkommissar.“

„Stellen Sie das fest. Da spielt eine Kapelle von uns.“

Kolbig rollte die Augen.

„Aber, Herr Hauptkommissar, er ist doch immerhin an einem mehr oder weniger selbstverschuldeten Unfall ...“

„Unfall, richtig. Ein Unfall. Und wie war das mit der Herzgeschichte? Kann das nicht sein, dass er den Infarkt bekommen hat, dass ihm die Karre davonlief, ohne überhaupt etwas bemerkt zu haben? Könnte doch sein. Kolbig. Na, nun überlegen Sie mal: Die Kegelbahn hat gut und gerne ihre acht Mille gekostet, wenn man bedenkt, dass Peschke die Materialien zum Selbstkostenpreis stellte. Kolbig, für acht Mille kann die Polizeikapelle mal ’n Marsch blasen. Trauermarsch, versteht sich. Mein Gott, der olle Peschke auf dem Friedhof. Ein tüchtiger Mann war er ja. Nur auf seine Tochter, auf die hätte er besser aufpassen müssen. Aber ich seh’ es ja an meinen. Man hat dauernd Dienst, und wenn

man keinen Dienst hat, ist da und dort Versammlung, tausend Dinge, und die Gören, die treiben zu Hause ihren Schabernack. Und die Mütter, na ja, man weiß ja, wie das geht. Die schaffen’s nicht. Unsere Kinder, Kolbig, das ist das Problem. Wir haben zu wenig Zeit für sie. Daran liegt es. Lehrer müsste man sein. Die sitzen den ganzen Nachmittag zu Hause herum. Und dann die Ferien. Unsereiner schuftet von früh bis spät. – Kolbig, stellen Sie fest, wann Peschke beerdigt wird. Ich sorge dafür, dass die Musik antanzt.“

*


PESCHKE WAR BEGRABEN, und die Polizeikapelle hatte dazu gespielt.

Der Schülerchor des Gymnasiums hatte gesungen. Es war, wie man so sagt, ein schönes Begräbnis.

Dr. Wolf nahm nicht daran teil. Frau Peschke verstand ihn zu gut, doch Inge wollte das nicht verstehen. Es kam aber zu keiner Auseinandersetzung deswegen, denn dazu ergab sich keine Gelegenheit. Und so schwelte die Verstimmung zwischen beiden.

Frau Peschke übernahm das Geschäft. Niemand hielt es für möglich, dass sie mit dieser Bürde fertig werden könnte. Frau Peschke selbst bezweifelte das ebenfalls. Deshalb machte sie einen Schritt, zu dem Peschke die Weisheit gefehlt hätte. Sie besprach sich mit dem alten Ritter, und zwei Wochen später hieß es Peschke & Ritter. Und Frau Peschke, die trotz ihrer Trauer um ihren Mann nicht den Kopf hängenließ, stieg mit beiden Beinen in ihr neues Leben ein.

Inge half ihr eine Zeitlang, doch dann nahte ihr Prozess, und Dr. Wolf konnte ihr wenig helfen. Er bekam nämlich einen Forschungsauftrag der Universität und verließ die Klinik.

Zu Inges Prozess wollte er dabei sein, doch der Termin wurde kurzfristig verlegt, er kam – da er nichts davon wusste – zu spät. Inge war schon verurteilt. Drei Monate Gefängnis und zehn Jahre Führerscheinentzug. Die Strafe wurde zur Bewährung auf Grund mildernder Umstände ausgesetzt. Inge hatte Glück gehabt.

Aber es war nicht mehr die Inge, die Dr. Wolf kannte. Sie war still, hörte kaum zu, wenn er etwas zu ihr sagte, trug schwarze Kleider, was zwar wegen der Trauerzeit verständlich war, doch sie hätten dennoch etwas schick sein können. Das waren sie aber nicht.

Bald merkte Dr. Wolf, dass ihr alles gleichgültig zu werden begann, auch er. Inge saß nur noch im Büro, rechnete ab, machte Kalkulationen, gab Bestellungen auf und dergleichen Dinge. Sie arbeitete bis in die Nacht, war ständig übermüdet und sah dementsprechend aus. Auf ihr Äußeres gab sie nichts; ob Dr. Wolf von Bonn zu Besuch kam, schien ihr gleichgültig zu sein.

Schon lange wehrte sie Liebesbezeigungen ab. Erst im Hinblick auf den Tod des Vaters, später sagte sie, sie sei zu müde, und schließlich kam auch Dr. Wolf immer seltener.

Längst war Frau Hartwig wieder zu Hause, Mutter und Kind gesund. Und längst auch hatte der Verwaltungsrat den Vertrag von Professor Oberweg verlängert, den Neubauplan genehmigt und so manche Mark in neue Instrumente und medizinische Apparaturen gesteckt.

Eigentlich hätte alles gut sein können, wenn Inge anders gewesen wäre. Einmal traf Dr. Wolf den alten Herrn Ritter wieder, der ihn erneut aufforderte, ihn zu besuchen, seine Teilhaberin über den grünen Klee lobte und sehr mit der Welt zufrieden zu sein schien.

Dann wurde Inge krank, eine Grippe, die einfach nicht besser wurde, aber die Behandlung übernahm der Hausarzt, und das war Dr. Werner. Dr. Wolf besuchte Inge, doch sie fühlte sich noch schwach und bat ihn, die klärende Aussprache zwischen ihnen zu verschieben. Sie wolle ihn wissen lassen, wenn er sie wieder besuchen könne.

Nach der Krankheit fuhr sie zur Erholung, ohne ihm Bescheid zu sagen. Der Anruf zu einem Besuch war ebenfalls ausgeblieben. Dr. Wolf beschloss, mit der Mutter zu reden, um klare Verhältnisse zu schaffen.

Inzwischen aber hatte sich in der Klinik auch einiges getan. Professor Oberwegs Neubau wurde noch vor dem Winter in Angriff genommen. Dr. Wolf, kaum aus Bonn zurückgekehrt, musste Dr. Holmann vertreten, der die Leitung der Klinik für den Professor übernommen hatte. Denn für Professor Oberweg gab es nun nur noch eines: den Neubau.

Dr. Wolf hatte ein Zimmer bei einer älteren Dame, die sich immer freute, wenn er einmal in diesem Zimmer schlief. Das kam aber im Monat nur drei- bis viermal vor. Meist dehnte sich Dr. Wolfs Dienst bis in die Nacht aus, so dass er gleich in der Klinik blieb. In seinem Büro stand eine Couch, auf ihr schlief er.

Neben seinem Büro befand sich seit einigen Monaten das Zimmer von Fräulein Dr. Schendt, der neuen Kollegin aus der Stuttgarter Privatklinik, deren Personal Professor Oberweg „en bloc“ übernommen hatte.

Fräulein Ellen Schendt war Assistenzärztin, siebenundzwanzig Jahre jung, brünett und im Grunde nicht das, was man eine Schönheit nennt. Dazu war ihr Gesicht etwas zu herb, ihre Figur zu eckig und ihr Gang war jungenhaft. Wenn sie einem Kollegen die Hand gab, erinnerte das an den Händedruck eines Zimmermanns, nicht an den einer schwachen Frau. Und schwach war Fräulein Dr. Schendt gewiss nicht.

Dr. Brecht nannte sie ein Pferd. Dr. Holmann meinte, aus ihr wäre besser ein Junge geworden, und Dr. Wolf hatte zunächst überhaupt keine Meinung. Er nahm sie zwar als Kollegin zur Kenntnis, doch dass es sich bei ihr um eine Frau handelte, schien ihm ganz entgangen zu sein.

Bis zu jener Nacht im November.

Draußen stürmte und goss es. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund auf die Straße jagte. Dr. Wolf lag in seinem Büro und schlief, denn heute war ihm der Weg zu seinem Zimmer zu umständlich gewesen, obgleich er schon am Nachmittag mit allem fertig geworden war.

Fräulein Dr. Schendt hatte Nachtdienst. Auch Schwester Gerda hatte Nachtdienst. Schon am Abend hatte sich Dr. Wolf gefragt, wie es möglich war, dass jemand ausgerechnet diese beiden gemeinsam in den Nachtdienst einteilen konnte. Bis ihm eingefallen war, dass er selbst das so veranlasst hatte. Er wollte das morgen ändern.

Schwester Gerda hatte sonst nur Tagdienst. Da fiel es niemandem weiter auf, dass sie ein lauter Trampel war, mit Feldwebelstimme auf den Gängen herumbölkte und besonders im Umgang mit männlichen Patienten, vor allem den jüngeren Leuten, die richtige derbe Art hatte.

Fräulein Dr. Schendt hätte in dieser Beziehung in jedem Falle Schwester Gerdas Tochter sein können. Sie war vielleicht noch ein wenig lauter.

Bei dieser Nachtwache ging es draußen zu wie in den Markthallen. Doch allmählich wurde es still, und Dr. Wolf konnte einschlafen.

Plötzlich, so gegen 3 Uhr morgens, begann draußen wieder dieser Lärm. Dr. Wolf wachte darüber auf, zog sich etwas an, um diesem Unfug ein Ende zu machen. Empört stürzte er nach draußen, doch da war es indessen still, und über der Tür zum OP-Saal blinkte das Licht: Operation.

*


WAS DR. WOLF SAH, ALS er in den OP-Saal kam, nahm ihm den Atem, obgleich er in seinem Beruf allerhand gewohnt war. Gerade hoben zwei Krankenträger einen völlig mit Blut besudelten Polizeibeamten auf den OP-Tisch. Schwester Gerda kommandierte, und zwei weitere Polizisten standen ratlos daneben. Sie hatten in den Gesichtern Schnittwunden und blutige Hände.

Ein Mann in Hut und Mantel, eine Arzttasche neben sich auf dem Boden, hielt das Sichtglas mit Blutplasma über den Verletzten. Ein Schlauch war zur Infusion an die Ellenbogenbeuge des Verletzten geschlossen. Offenbar hatte man den Verletzten schon mit einer Evipaninjektion ruhiggestellt.

Als Dr. Wolf näher kam, sah er alles. Der Polizist hatte eine Bauchverletzung, und wie es schien, einen Bauchschuss.

Fräulein Dr. Schendt war keine Anfängerin, aber was hier kam, würde sie nie schaffen.

Da tauchte schon die erste OP-Schwester auf.

Dr. Wolf fragte nicht lange, sondern rief Schwester Gerda zu:

„Ist Dr. Brecht verständigt?“

„Ja, Doktorchen, er kommt.“

„Dr. Holmann?“

„Nee, müssen wir den och aus ’m Bett angeln?“

„Los, alarmieren Sie den gleich. Und noch die beiden anderen OP-Schwestern. Labor anrufen, Nachtdienst muss ’ran. Kümmern Sie sich darum, Schwester Gerda.“

Er wandte sich dem Manne in Hut und Mantel zu.

„Kollege?“

„Ja, es ist unweit von meiner Wohnung passiert. Ich heiße Engels, Praktischer Arzt.“

„Wolf. Wie viel hat er davon schon?“

Dr. Wolf deutete auf das Plasma.

„Wir haben eben im Unfallwagen damit begonnen. Ich hatte nichts davon im Hause. Meine Praxis liegt in der Innenstadt. Er ist niedergeschossen worden. Der Verbrecher ist tot.“

„Schlimm genug für ihn hier.“

Dr. Wolf wandte sich an die OP-Schwester.

„Hier, machen Sie weiter, bis es infiltriert ist.“

Der Arzt Dr. Engels übergab das Sichtglas.

„Brauchen Sie mich noch, Herr Kollege?“, fragte er.

„Nein. Nehmen Sie bitte die beiden Polizisten mit.“

Dr. Wolf half der zweiten, eben angekommenen OP-Schwester beim Aufschneiden der Kleidung des Verletzten. Dann begann er sofort die Untersuchung.

Dr. Brecht tauchte auf.

„Verdammt, ich war gerade eingeschlafen“, schimpfte er. „Musste das wieder sein?“

Dann sah er, was auf dem Tisch lag.

„Mein Gott, und immer nachts. Hoffentlich hat er nicht zu viel zum Abendbrot gegessen.“

„Das hoffe ich auch“, sagte Dr. Wolf, während er sich über die Brust des Schwerverletzten beugte.

Fräulein Dr. Schendt begann schon die Kontrollinstrumente anzuschließen. Die dritte OP-Schwester deckte bereits unten ab.

Dr. Holmann erschien. Er gähnte herzzerreißend, blinzelte auf den Verletzten und runzelte die Stirn, als er die Wunde sah.

„Oh, oh, oh! Wenn das man gutgeht.“

Schwester Gerda, die wieder in den Saal kam, hörte es und sagte:

„Wird man jut jehn, Herr Oberarzt. Die Polizisten sagen, er hat vier Kinderchen. Denken Se man immer schön an die vier Kinderchen, Herr Oberarzt, wenn Se in ihm ’rumschnippeln.“

„Ich verbitte mir das!“, fuhr sie Dr. Holmann an.

„Man nich’ so böse, Herr Oberarzt, unsereiner macht och mal janz jerne een Witz, nich’?“

„Schon gut, Sie altes Heupferd. Nun aber die Schüsseln ’ran. Haben Sie sich überhaupt schon desinfiziert?“

„Sie sin’ aber jut, Herr Oberarzt“, konterte Schwester Gerda resolut, „unsereiner besteht ja nur noch aus lauter Desinfektion. Meine Verwandten sagen schon immer: Huch, was die Jerda so nach Spittel stinkt. Und der Hund von meine Schwester kann mir och keen bisschen leiden. Das kommt, weil ich so stinke. Vor lauter Desinfektion.“

„Hören Sie auf!“, knurrte Dr. Holmann.

Die Ärzte begannen mit der vorgeschriebenen Reinigung von Armen und Händen, dann kamen Mundschutz und Handschuhe, die Kittel wurden zugebunden, die Schürzen übergezogen. Der Laborant brachte die Blutgruppenwerte, die Instrumente waren angeschlossen, die Apparate liefen, die Narkose war eingeleitet. Der Spezialstrahler brannte, die Operation begann.

Schwester Gerda war hier nicht mehr nötig. Sie gehörte nicht zum OP-Team. Als sie ging, rief sie von der Tür den Ärzten zu:

„Und denken Se man immer jut an die vier Kinderchen von dem Wachtmeester!“

Und ob sie daran dachten. Vier geschlagene Stunden lang dachten sie an vier kleine Kinder und an das Leben eines Mannes, der von einem Verbrecher niedergeschossen worden war.

Vier Stunden, wie sie nicht alle Tage vorkamen. Jeder Griff, jeder Schnitt, jede Naht musste sitzen wie selten. Ein Fehlgriff, eine verlorene Minute wäre für den Patienten tödlich verlaufen. Und vier Stunden lang mit einem Mundschutz vor Mund und Nase. Vier Stunden lang ruhige Hände. Keine falsche Bewegung. Kein Apparat durfte aussetzen.

Kurz vor Schluss setzte ein anderer Apparat aus: das Herz des Patienten. Fünf Minuten lang währte der Kampf, bis es wieder regelmäßig zu schlagen begann.

Und in diesen vier Stunden arbeiteten Dr. Holmann und Dr. Wolf in lange geübter Routine zusammen. Sie brauchten nicht zu sprechen, einer wusste vom anderen, was er tun würde.

Noch jemand passte ausgezeichnet in dieses Team: Fräulein Dr. Schendt. Noch nie hatte Dr. Wolf mit ihr gemeinsam operiert. Aber sie schien einen sechsten Sinn zu haben, denn sie ahnte förmlich, was er tun würde. Und hier machte sich diese beinahe hellseherische Gabe der jungen Ärztin bezahlt. Bezahlt für den Patienten.

Nach vier Stunden war alles vorbei. Der Patient war außer Lebensgefahr, wenn nicht eine unerwartete Komplikation hinzukommen würde.

Die vier Ärzte waren am Ende ihrer physischen Kraft. Aber der Patient lebte, und darauf allein kam es ihnen an.

Vier Kinder, hatte Schwester Gerda gesagt. So Gott wollte und nichts dazwischenkam, würden vier Kinder ihren Vater behalten.

Dr. Holmann ging schweigend hinaus, streifte sich nur die Gummihandschuhe ab und rauchte auf dem Flur eine Zigarette.

Dr. Brecht gähnte und wäre am liebsten an seinem Platz am Kopfende des OP-Tisches eingeschlafen.

Fräulein Dr. Schendt war ebenfalls völlig fertig. Für eine Frau war es erstaunlich, wie sie durchgehalten hatte.

Allein die nervliche Anstrengung einer solchen Operation, dazu nachts, war kolossal.

„Können Sie mir helfen, die Schürze auszuziehen, sie hat sich verhakt“, bat sie Dr. Wolf.

Er lächelte.

„Gerne, Kollegin, sehr gerne. Kommen Sie auf eine Zigarette mit in die Kantine?“

„Nein. Ich muss noch meinen Nachtdienst absolvieren, Herr Wolf.“

„Nein. Ich übernehme Ihren Nachtdienst. Legen Sie sich ins Bett und ...“

Sie sah ihn an, und er bemerkte, dass sie ganz helle blaue Augen hatte, die im Licht des Strahlers zu leuchten schienen.

„Danke, das ist nett von Ihnen, aber Dienst ist Dienst. So sagt man doch.“

„Einspruch. Sie sind eine Frau und ...“

Sie lachte.

„Ach nein! Der Vertreter des starken Geschlechtes hat die Gleichberechtigung ganz vergessen. Ich trinke jetzt einen starken Kaffee, und dann schaffe ich auch noch die eine Stunde bis acht. Es ist sieben Uhr, man merkt es hier nur nicht, weil die Vorhänge zugezogen sind.“

Sie ging zum Fenster, zog den schwarzen Vorhang auf und sagte:

„Sehen Sie, in den Bäumen schwirren schon die Vögel herum. Und hell ist es mindestens auch bald.“

„In dieser Jahreszeit werden Sie noch etwas darauf warten müssen. Und Vögel?“

Dr. Wolf lachte.

„Ich sehe in den kahlen Ästen nicht einen. Sie sind eine Optimistin, Fräulein Schendt.“

„Nun gut“, erwiderte sie, „ich sehe Vögel, sehe Sonne, obgleich es draußen noch stockdunkel ist. Aber den Silberstreifen am Horizont, den sehen Sie doch auch, nicht wahr?“

Als er sich blind stellte und sagte, er sähe nichts, kniff sie ihn in den Arm und sagte kess: „Dann wundert es mich nicht, dass Sie mich auch noch nicht bemerkt haben, Herr Dr. Wolf. Vielleicht fällt es Ihnen aber noch auf.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte er.

Sie lachte und ging, ohne zu antworten, zur Tür.

Dr. Wolf warf noch einen kurzen Blick auf den in Narkose liegenden Patienten und sagte zur ersten OP-Schwester:

„Bitte achten Sie auf ihn und lassen Sie sich gleich ablösen. Wenn etwas ist, das geringste, schalten Sie den Arztruf ein!“

Dann ging er hinter Fräulein Dr. Schendt her, die bereits auf dem Gang stand.

Schwester Gerda tauchte auf.

„Ihnen muss man jratulieren, Doktorchen! Aus Sie wird och noch ’n juter Mensch!“

„Danke“, brummte Dr. Wolf. „Für diese freche Bemerkung bestrafe ich Sie mit einer Kanne Kaffee. Der ist sofort zu kochen und in mein Zimmer zu bringen. Wenn etwas auf der Station geschieht, möchte ich das wissen, Fräulein Dr. Schendt erreichen Sie auch bei mir.“

Schwester Gerda zwinkerte den beiden zu und trippelte davon.

„Verfügen Sie immer über den Aufenthaltsort anderer Leute?“, fragte Fräulein Dr. Schendt spitz.

Dr. Wolf lächelte.

„Ich möchte darauf nicht antworten. Kommen Sie mit. Ich will noch eine Antwort auf meine Frage.“

Er nahm sie am Arm und führte sie in sein Büro. Als er die Tür geschlossen hatte, fragte er noch einmal:

„Wieso vermuten Sie, ich hätte Sie noch nicht bemerkt?“

Sie nahm die Zigarette, die er ihr an bot, dankte, als er ihr Feuer gegeben hatte und sagte nach dem ersten Zug:

„Ich hatte den Eindruck, dass Sie Frauen übersehen.“

Ihn ritt der Teufel, als er sie fragte:

„Halten Sie sich für eine Frau?“

Sie blieb ganz ruhig, lächelte nur und erwiderte:

„Sie sind mir zu stark. Aber wenn ich jetzt ein wenig mehr Kraft hätte, würde ich Ihnen eine ’runterhauen. Verdient hätten Sie’s. Hassen Sie Frauen?“

„Nein. Aber so frech meine Frage eben war, es lag ein Körnchen Wahrheit darin. Sie benehmen sich meist wie ein Junge.“

„Danke, ich hatte vier Brüder. Daran muss es gelegen haben. Die haben auch nie bemerkt, dass es sich bei mir um ein Mädchen gehandelt hat. Und wenn mein Vater Grund dazu hatte, bekam ich dieselben Prügel wie meine Brüder.“

„Die Männer Europas werden Ihrem Herrn Papa auf immer dankbar sein für diese sinnvolle Erziehung eines Mädchens.“

Sie lachte.

„Wissen Sie eigentlich, dass Herr Professor Oberweg mir gesagt hat, ich sollte mich ein bisschen um Sie kümmern?“

„Nee, das war ja eine glänzende Idee von ihm. Warum wollte er mir das antun?“

„Vielleicht war es wirklich eine gute Idee. Ich habe Sie beobachtet. Sie leiden.“

„Tatsächlich?“, höhnte er. „Sind Sie vielleicht von der Psychoanalytischen Abteilung? Man kann ja nie wissen. Vielleicht habe ich einen Mutterkomplex, und morgens beim Aufstehen sehe ich kleine gelbe Hühner in der Luft fliegen? Sie sind eine Wucht, liebe verehrte Kollegin.“

Die Tür ging auf, und Schwester Gerda brachte den Kaffee.

„Extra stark“, behauptete sie.

Dr. Wolf knurrte sie an:

„Ein Brötchen ist wohl in der miesen Stationsküche nicht dabei herumgekommen, wie?“,

„Doktorchen, Doktorchen, ich sehe mir veranlasst, auf das Thema Brötchen noch zu sprechen zu kommen. Gestern haben Se mir och zwei Brötchen jemopst. Aber ich will man nich’ so sein. Sie och ’n Brötchen, Fräulein Doktor?“

„Danke, ich hab’ keinen Appetit.“

Schwester Gerda murmelte etwas von „schlanker Linie“ und verschwand.

Kaum war sie weg, sagte Fräulein Dr. Schendt:

„Lieber Kollege Wolf, Sie können mich nicht verkohlen. Sie brauchen jemanden, mit dem Sie über alles reden können. In Ihnen steckt was. Sagen Sie, was Sie drückt, vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

Ihre selbstbewusste Art überraschte ihn. Und das alles nach einer solchen Operation morgens kurz nach sieben.

„Wissen Sie, es ist sehr nett von Ihnen, mich so zu umsorgen, aber nun einmal vernünftig unter Erwachsenen: Sie sind allein hier in dieser Stadt?“

„Ja.“

„Sie haben einen Freund, einen Verlobten oder was sonst?“

„Nein.“

„Sie sind also mutterseelenallein?“

„Erraten.“

„Gut, dann will ich Ihnen mal einen Vorschlag machen. Nicht ich brauche jemanden, sondern Sie. Wann haben Sie dienstfrei?“

„Übermorgen den ganzen Tag und die Nacht, aber da will ich schlafen. In der Nacht, meine ich.“

„Gut, ich werde es so einrichten, dass ich übermorgen auch frei habe. Ich verurteile Sie wegen Ihres ungebührlichen Benehmens mir gegenüber zu einer Fahrt in meinem alten Auto in die Heide. Dort werden wir in einem kleinen Gasthof zu Mittag essen und am Nachmittag wieder heimgondeln. Ist das klar?“

Sie lachte.

„Danke, ich nehme an.“

*


AM NACHMITTAG FUHR Dr. Wolf zu Peschkes. Im Betriebshof wurden gerade zwei Lastzüge mit Bimsplatten beladen, und Frau Peschke stand dabei. Als sie Dr. Wolf sah, rief sie: „Moment, Gert, ich bin gleich da.“

Nachher kam sie, strahlte ihn an und sagte:

„Nun komm ’rein, mein Junge. Schön, dich wieder mal zu sehen.“

„Ist Inge da?“, erkundigte er sich.

Da wurde sie ernst.

„Ja und nein, aber komm erst ins Haus. Ich erzähle dir alles.“

Dann, als sie im gleichen Salon waren, wo Dr. Wolf damals mit Peschke die harte Auseinandersetzung hatte, sagte Frau Peschke:

„Trinkst du etwas?“

„Nein, danke. Ich würde gerne erfahren, was mit Inge ist.“

Sie setzte sich, seufzte tief und sah ihn lange an, ehe sie begann:

„Es war eine furchtbare Zeit, und ich habe es erst vor vierzehn Tagen erfahren, was los ist. Natürlich habe ich etwas gemerkt, aber gewusst habe ich nichts. Dieser Strolch, mit dem sie schon studiert hat, der sie später erpressen wollte, der ist doch mit ein paar Wochen davongekommen. Kaum war er aus dem Kittchen, hat er sich wieder an Inge ’rangemacht. Nicht, um sie ... na, du weißt schon. Nein, sie sollte ihm zahlen. Sie hatte natürlich nichts. Denn seit Ritter mit in der Firma ist, kann sie nicht so einfach Geld aus der Kasse nehmen. Da hat sie dann dem Kerl billige Brennstoffe besorgt, die er teuer weiterverkaufte. Es war anfangs gar nicht so schlimm ...“

„Aber warum hat sie es mir denn nicht gesagt oder der Polizei?“

„Er hat sie nicht mehr erpresst. Der war nur immerzu da, fuhr ihr nach, wenn sie unterwegs war, sprach sie überall an. Aber so, dass sich die Leute umdrehten. – Gert, ich sage dir, es muss höllisch gewesen sein. Und dann dieser Freund, dieser Schurke. Ja, und eines Tages verlangte er von Inge, sie sollte ihm genau erklären, wie er an unseren Geldschrank herankäme. Sie könnte ja vorher alles versichern, hoch versichern. Inge verständigte die Polizei. Dann hatte aber die Polizei den verrückten Einfall, die Sache laufen zu lassen. Sie wollten die beiden Kerle auf frischer Tat schnappen.“

„Aber das ist doch Irrsinn. Ich meine von den beiden. Die können sich doch denken, dass ihr mit dem Vorschlag bereits gewarnt seid und kein Geld im Hause haltet.“

„Ich weiß nicht, ob sie das dachten. Denn Inge würde ja, so hofften sie wohl, zu Hause nichts sagen oder aber: Die beiden Kerle blufften nur. Denn sie kamen nicht, und die Polizei wartete umsonst. Doch dann überfielen beide einen Rentner, der gerade seine Rente auf der Post geholt hatte. Die Polizei war sofort da, verfolgte die beiden, die einen Wagen gestohlen hatten. Und da ist es dann zu einem Gefecht gekommen. Der eine Lump ist dabei erschossen worden. Diesen Hans haben sie jetzt in Haft, und ein Polizist wurde schwer verletzt. Stellt heute alles in der Zeitung.“

„Der Polizist hatte einen Bauchschuss, ist es das?“

„Ja, woher weißt du es? Ist er bei euch?“

„Allerdings. Und wo ist Inge?“,

„Sie liegt schon den ganzen Tag im Bett. Ich weiß nicht mehr aus noch ein, und unser Hausarzt kann auch nicht sagen, was es ist. Vielleicht wird es besser, wo doch dieser Kerl nun endlich wieder hinter Gittern sitzt. Hoffentlich lassen sie ihn nicht mehr 'raus, ehe er nicht steinalt ist.“

„Ich möchte Inge sprechen.“

„Ich will mal sehen. Warte, Gert, ich gehe zuerst mal allein zu ihr.“

Sie erhob sich und ging nach oben. Plötzlich gellte ein schriller Schrei durch das Haus. Dr. Wolf sprang auf, rannte in die Halle, stürmte die Treppen hinauf und sah Frau Peschke mit entsetztem Gesicht und hilflos herabhängenden Armen in der Tür eines Zimmers stehen.

Er lief hin, sah an ihr vorbei Und entdeckte Inge am Boden liegend. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.

Mit einem Blick sah Dr. Wolf, dass sie es zum Glück nicht richtig getan hatte. Es konnte auch noch nicht allzu lange her sein.

„Rufen Sie den Notarztwagen an! Ich kümmere mich darum. Gehen Sie!“, rief er Frau Peschke zu.

Inge lag noch bei Bewusstsein da, wenn auch die Schwäche schon weit vorgeschritten war. Sie versuchte zu lächeln.

„Es ist... vorbei“, lispelte sie.

„Aber nein!“

Er begann, ihr die Arterien an den Oberarmen abzubinden. „Warum, Inge, warum hast du’s getan?“, fragte er rau.

„Ich ... bekomme ... ein ... Kind ... Gert.“

„Ein Kind? Ein Kind von wem?“,

Sie schloss die Augen. Die Schwäche nahm mehr zu.

„Von ... Hans“, flüsterte sie kaum hörbar.

Er war wie gelähmt. Ein Kind von diesem Lumpen. Was mochte nur mit Inge vorgegangen sein? Wie konnte das nur passieren?

Ich bin selbst mitschuldig. Ich hätte mich um sie kümmern müssen, auch wenn sie nicht darum gebeten hat. Es wäre meine Pflicht gewesen. Habe ich nicht behauptet, sie zu lieben? Heuchelei! Wäre es so, hätte mich nichts hindern können, sie weiter zu besuchen, mit ihr wegzugehen. Statt dessen habe ich mich in der Arbeit vergraben, habe die beleidigte Leberwurst gespielt, der Inges Benehmen nicht zugemutet werden kann.

Natürlich ist sie diesem Hans hörig. War es schon immer. Mit seinem Auftauchen hatte sich alles verändert. Sie wollte ihn vielleicht gar nicht. Sie wollte ihn wahrscheinlich loswerden, aber sie konnte nicht. Und ich hätte ihr helfen müssen. Ja, helfen, statt den Missverstandenen zu spielen. Den ach so lebensklugen Herrn Doktor, der sich zum Richter aufgeschwungen hat, als die Sache mit dem Autounfall passierte. Und dann, als ihr Vater gestorben war, vielleicht in Inges Leben ein viel größerer Halt, als ich angenommen habe. Da war es Zeit, Inge noch fester in die Arme zu nehmen. Aber was habe ich getan? Weil sie nicht gleich nach mir verlangte, habe ich es für unter meiner Würde gehalten, unaufgefordert zu ihr zu gehen. Nein, mein lieber Gert Wolf, du bist selbst mitschuldig. Ja! Und das hier ist das Resultat. Sie bekommt ein Kind von diesem Halunken, und ich hätte mit etwas mehr Vertrauen, mehr Liebe, das Mädchen aus den Fängen dieses Burschen lösen können.

Er sah sie an.

„Inge“, sagte er leise. „Inge, ich bin selbst schuld daran, ich.“

Sie öffnete die Augen, lächelte matt und flüsterte:

„Nein, nicht du, Gert. Verzeih mir ...“

„Inge, du wirst nicht sterben. Und wenn du wieder gesund bist, wird alles besser. Alles, Inge!

Sie lächelte und wurde ohnmächtig, doch ihr Puls ging zwar matt, aber regelmäßig. Die Herztöne gaben Dr. Wolf Hoffnung.

Frau Peschke kam atemlos die Treppe herauf. Sie schwitzte, keuchte und rief japsend: „Der Wagen kommt. Mein Gott, Gert, was ist mit ihr?“

„Keine Sorge, Mutter Peschke. Sie hat viel Blut verloren, aber nicht zu viel. Da wird alles wieder gut.“

„Warum nur hat sie es getan, warum?“, rief die Frau fassungslos.

„Wenn sie wieder kräftiger ist, wird sie es dir sicher sagen.“

Draußen näherte sich Sirenengeheul. Der Notarztwagen kam.

*


INGE WAR NICHT IN LEBENSGEFAHR, nicht in der Stadt, wo man ihr mit neuem Blute helfen konnte. Ihre Verletzungen wurden genäht, Blut zugeführt, dann fuhr man sie ins Krankenhaus.

Dr. Wolf sprach mit seinem Kollegen von der gynäkologischen Abteilung, einem tüchtigen Frauenarzt. Der versprach, Inge zu untersuchen und festzustellen, ob Inges Behauptung zutraf.

Indessen lag Inge auf Dr. Wolfs Veranlassung in einem Zimmer der ersten Klasse. Sie war dort allein. Aber nur, wenn Dr. Wolf nicht bei ihr war, und er war oft bei ihr.

Die Blutinfusion hatte Inge gestärkt. Eine Traubenzuckerspritze tat das übrige. Es ging ihr viel, viel besser.

Gegen Abend hatte Dr. Wolf Zeit, einmal länger bei Inge zu bleiben. Er setzte sich zu ihr an den Bettrand und sah sie lächelnd an.

„Du kleines Dummerle! Wie konntest du das tun?“

„Ich wollte nicht mehr“, erwiderte sie. „Ich habe mich geschämt.“

„Vor mir?“

Sie nickte kaum merklich.

Er ergriff ihre Fingerspitzen, die aus dem Verband lugten.

„Ich habe Pläne gemacht, Inge. Wenn du wieder gesund bist, werden wir drei Wochen irgendwohin fahren und einmal richtig Urlaub machen. Es täte uns gut. Und dann sind wir auch richtig für längere Zeit beisammen und ...“

„Gert?“, unterbrach sie ihn.

Und er bemerkte, dass ihre Augen in Tränen schwammen.

„Gert, aber du weißt doch, dass ich ein Kind bekomme!“

Er lächelte.

„Ja. Und ich bin daran nicht ganz unschuldig, Inge, vielleicht hätte ich dich noch vor einer Woche verdammt deswegen. Jetzt nicht mehr. Es ist alles so ganz anders.“

Er sah über sie hinweg zum Fenster hinaus. Der erste Schnee rieselte vom Himmel. Bald

würde Weihnachten sein. Das Fest der Versöhnung.

„Inge, willst du Weihnachten meine Frau sein?“

Sie wandte den Kopf zur Seite und starrte auf die Wand.

„Nein“, murmelte sie.

Er fuhr erschrocken herum.

„Warum nicht?“

Ohne ihn anzusehen, murmelte sie:

„Gert, ich bin es nicht wert.“

„Du kleine Närrin, du!“

Er streichelte ihre Stirn.

„Natürlich bist du es wert, so ein Unsinn. Was heißt überhaupt: Ich bin deiner nicht wert? Weil du gefehlt hast?“

„Erst der Unfall, mein Versagen als Mensch, nun das mit dem Kind.“

„Sag mal, da fällt mir etwas ein. Warst du überhaupt schon bei einem Arzt?“

„Nein.“

„Und was gibt dir die Sicherheit, zu sagen, du bekämst ein Kind?“

Sie sah ihn wieder an.

„Aber. Gert, das weißt du doch selbst, wie eine Frau das spürt.“

„Meinst du nicht, dass es dafür ganz andere Ursachen geben kann? Hast du noch nie davon gehört, dass der Rhythmus der Frau durch Schocks, durch Klimawechsel und was nicht alles gestört werden kann?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es.“

„Ich habe mit einem Kollegen von unserer gynäkologischen Abteilung gesprochen. Er will dich untersuchen. Bist du einverstanden?“

„Muss es sein?“

„Es dient deiner Sicherheit. Willst du?“

Sie nickte nur.

Da trat Schwester Gerda ein.

„'n Abend beisammen. Nu sollten Se man unserer Patientin etwas Ruhe jönnen, Doktorchen“, sagte sie mahnend. „Wenn das unser Stationsarzt sieht ...“

Sie lachte und drohte Dr. Wolf, der ja selbst dieser Stationsarzt war, mit dem Finger.

„Und Sie, Frolleinchen, Sie müssen noch den Obstsaft austrinken. Und dann nischt wie Augen zu und schlafen!“

Dr. Wolf verabschiedete sich von Inge und ging hinaus.

Draußen traf er mit Fräulein Dr. Schendt zusammen. Sie sah ihn so merkwürdig von der Seite an, dass er stehenblieb und fragte:

„Was ist denn mit Ihnen los?“

„Schwester Gerda hat mir etwas gebeichtet.“

Sie lächelte, und es sah fast wie Mitleid aus.

„Diese Klatschtante und Kupplerin. Was hat Sie Ihnen erzählt?“

Fräulein Dr. Schendt trat ans Fenster und begann kleine Männlein mit dem Finger auf die angelaufenen Scheiben zu malen.

„Ich gebe Ihnen gerne die Einladung für übermorgen zurück, wenn Sie das wollen, Herr Wolf.“

Er wurde wütend.

„Ich will aber nicht, zum Donnerwetter. Was hat Ihnen diese alte Quasselstrippe erzählt?“ Sie drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken ans Fensterbrett und sah ihn voll an. Ihre hellen Augen standen in einem seltsamen Kontrast zum brünetten Haar. Und Dr. Wolf bemerkte zum ersten Male, seit er sie kannte, dass sie sehr reizvoll war. Nicht so hübsch wie Inge, aber von einem Reiz, der einen Mann ansprach. Und, das sah er jetzt, sie war trotz ihrer mitunter amazonenhaften Art eine Vollblutfrau. Als er ihre Lippen ansah, begriff er das. Es waren Lippen, die küssen wollten. Lippen, die zum Küssen lockten.

„Herr Wolf“, sagte sie leise, „sie wird nicht gelogen haben. Und ich habe sie seit der Einlieferung Ihrer ... dieser Patientin beobachtet. Hören Sie, Herr Wolf, Sie lieben diese Frau. Oder nicht?“

Er wurde sofort eisig.

„Ich weiß nicht, ob das Sie interessieren könnte“, erwiderte er schroff.

Sie lächelte, schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Nein, es geht mich überhaupt nichts an. Aber wenn es bei übermorgen bleibt, verrate ich Ihnen ein Geheimnis.“

Er war etwas unangenehm berührt. Diese Frau war ihm keinesfalls gleichgültig, doch nicht so, wie sie vielleicht selbst dachte. Er sah in ihr einen Freund, einen Kameraden. Nicht eine Frau wie Inge. Dieses Fräulein Dr. Schendt war ja viel selbständiger, viel fester mit den Beinen im Leben.

Am liebsten hätte er für übermorgen abgesagt, doch ein Wort war ein Wort, und vielleicht gelang es ihm auch, ihr gegenseitiges Verhältnis richtigzustellen.

„Es bleibt bei übermorgen. Ich wüsste nicht, warum wir es aufgeben sollten“, sagte er entschlossen.

Sie lächelte, sah ihn von unten herauf an und entgegnete leise:

„Ich freue mich darauf.“ Dann nickte sie ihm zu und ging in Richtung auf die Männerstation davon.

*


AM FOLGENDEN TAG KAM Dr. Wolf nur zur Visite zu Inge. Danach war es ihm unmöglich, er konnte einfach seine Arbeit nicht liegenlassen. Auch nicht für ein paar Minuten. Eine Gehirnoperation, die fast sechs Stunden dauerte, nahm ihn voll in Anspruch. Am Nachmittag musste er Dr. Holmann in dessen Praxis vertreten, und am Abend kam dann noch ein Unfall dazu, so dass Dr. Wolf bis in die Nacht hart zu tun hatte. Sogar Frau Peschke, die ihn schon mehrmals hatte sprechen wollen, konnte er nicht empfangen.

Erst gegen dreiundzwanzig Uhr war er mit allem fertig. Die Nachtschwester, bei der er sich nach Inge erkundigte, sagte:

„Sie schläft, Herr Doktor. Es geht ihr viel besser. Heute Nachmittag war ihre Mutter da. Ich glaube, da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“

Danach trat Dr. Wolf hundemüde in sein Büro und überlegte – wie schon so oft – ob er sich gleich hier niederlegen oder noch zu seinem Zimmer fahren sollte.

Plötzlich sah er, dass Fräulein Dr. Schendt hinter seinem Schreibtisch saß.

Sie lachte und erhob sich.

„Durfte ich Sie hier erwarten, Herr Kollege?“

Ihn befremdete das ein wenig, und er hatte das Gefühl, gleich würde Schwester Gerda auftauchen.

„Übrigens habe ich Ihnen einen starken Kaffee machen lassen“, erklärte Fräulein Dr. Schendt und sah ihn lächelnd an.

Da platzte Dr. Wolf zu einem tosenden Lachen heraus.

Verwundert sah ihn Fräulein Dr. Schendt an.

„Nicht so laut!“, schalt sie. „Wir sind in einem Krankenhaus!“

Er hörte auf, sah sie mit schiefem Lächeln an und fragte sarkastisch:

„Den Kaffee hat Schwester Gerda gebraut, nicht wahr?“

„Na und?“

Sie hatte ihren Kittel geöffnet, und er bemerkte, dass sie ein sehr hübsches und auch sehr anliegendes Kleid darunter trug. Und jetzt, als sie auf ihn zuging, entdeckte er hochhackige Schuhe an ihren Füßen, etwas, das er zuvor nie bei ihr gesehen hatte. Schöne Beine hatte sie, und das musste ihm auffallen.

„Herr Wolf, ich wollte Ihnen heute Abend nur eines sagen: Gestern haben Sie große Worte gemacht, dass Sie niemanden brauchen, der Ihr angeknackstes Gemüt auffrischt. Sie meinten sogar, ich hätte das nötig. Irrtum. Sie brauchen ein bisschen Gemütswäsche. Und nun sehen Sie mich nicht mehr so böse an. Setzen Sie sich hin, legen Sie von mir aus die Füße auf den Schreibtisch und reden Sie, als brauchten Sie vor mir kein Blatt vor den Mund zu nehmen.“

„Sehr gütig“, brummte er, zog sich den Kittel aus, warf ihn auf die Couch und sah, dass zwei Tassen auf der Schreibtischecke standen. Erst wollte er dazu etwas sagen, unterließ es aber und schenkte beide Tassen ein.

Sie stellte sich neben ihn, nahm die Zuckerdose und fragte lächelnd:

„Wie viele Löffel Zucker?“

„Keinen.“

„Und Milch?“

„Keine.“

Sie lachte leise.

„Meine Güte, können Sie nicht etwas netter sein?“

„Nein!“, knurrte er.

Er setzte sich hinter dem Schreibtisch in seinen Drehstuhl und stützte den Kopf auf die Hände. Nachdenklich musterte er Ellen Schendt.

Sie merkte es, sagte aber nichts und ließ sich ihm gegenüber auf der anderen Schreibtischseite nieder. Die Tischlampe warf einen goldenen Schein auf ihr strenges Gesicht, ihren schlanken Hals und den Ausschnitt ihres weinroten Kleides.

Er konnte sie nicht übersehen, und er konnte auch nicht einfach abtun, dass sie eine anziehende Frau war. Obgleich sie mit Inge wenig gemein hatte.

Dr. Wolf roch ihr Parfüm. Sehr dezent, der Geruch, doch kräftig genug, ihn zu bemerken. Gestern, bei der Operation, da hatte sie bestimmt nicht danach geduftet.

Er begann zu ahnen, dass sie heute Abend mit einer festen Absicht zu ihm gekommen war. Und er war doch Menschenkenner genug, um ihr anzusehen, was sie bewegte. Ja. Schwester Gerda hatte recht: Ellen Schendt liebte ihn.

Doch plötzlich fiel in ihm manches zusammen, was zwischen ihm und Inge gestanden hatte. Jetzt geschah es, als er Ellen Schendt gegenüber saß. Und es wurde noch viel stärker, als sie auf stand, um den Schreibtisch herumkam, sich gegen seine Schulter lehnte und sein Haar streichelte.

Er spürte ihre Zuneigung körperlich. Die Berührung ihrer Hand an seinem Kopf wirkte wie elektrisierend. Und doch festigte sich in ihm immer mehr das Bild der Inge, die er liebte, die er immer lieben wollte.

Unvermittelt stand er auf, sah Ellen Schendt an und nahm ihren Arm von seiner Schulter. „Fräulein Schendt, Sie sind ein liebes Mädchen, aber ich bin nicht so, wie Sie es sich denken. Wollen wir nicht besser gute Kollegen bleiben?“

Ihre Augen wurden schmal. In ihr Gesicht trat eine Härte, die er an ihr noch nicht bemerkt hatte. Leise erwiderte sie:

„Sie machen einen Fehler, einen nicht wieder gutzumachenden Fehler. Ich gebe ehrlich zu, dass ich Sie liebe. Vom ersten Augenblick an, da ich Sie sah. Und ich weiß genau, dass sich eines Tages erfüllt, was ich möchte. Ich habe keine Angst. Ich kann darauf warten.“

Sie drehte sich um und ging rasch hinaus.

Er sah ihr ratlos nach, wischte sich übers Haars, das noch von ihrer Hand zerzaust war, und seufzte tief.

Dann gab er sich einen Ruck, zog sich den weißen Kittel wieder an und verließ sein Büro.

*


AUF DEM GANG WAR ES still. Keine Menschenseele weit und breit.

Die Gummisohlen an seinen Schuhen glitten lautlos über die Fliesen. Dann hatte er Zimmer neun der Privatstation erreicht. Er öffnete leise und sah, dass nur die kleine blaue Notlampe über der Tür brannte. Dennoch konnte er Inge sehen. Sie schlief.

Ihr Gesicht wirkte in der diffusen Beleuchtung bleich, fast violett. Die verbundenen Arme lagen auf der Decke, und ihr aufgelöstes blondes Haar wirkte bei der bläulichen Beleuchtung wie die Lockenpracht einer Nymphe.

Er schloss hinter sich leise die Tür, ging bis ans untere Bettende und sah sie lange an. Ihre Atemzüge wurden etwas unruhig, als ahne sie, dass sie beobachtet würde.

Wie lange er dort stand, hätte er selbst nicht sagen können. Aber der Wunsch, Inge in die Arme zu nehmen, sie zu küssen, wurde in ihm so stark, dass er dann neben das Bett trat, sich über sie beugte und sie sanft auf die Stirn küsste.

Sie murmelte etwas im Schlaf, begann die Hände zu bewegen und drehte den Kopf zur Seite.

Er dachte an die Stunden, die er mit ihr gemeinsam verbracht hatte, damals vor dem Unglück. Schöne Stunden, und doch war Inge eigentlich nicht einmal völlig aus ihrer Reserve gegangen. Er meinte zu verstehen, warum das so war.

Er beobachtete ihr Gesicht, sah, wie beim Atmen ihre Nasenflügel bebten, und dann öffnete sie plötzlich die Lider. Sie sah ihn aber nicht an, sondern blickte zur Wand.

„Wer ist da?“, fragte sie leise, und ein bisschen Furcht klang in ihrer Stimme mit.

„Ich, Gert“, sagte er ruhig.

Sie wandte ihm das Gesicht zu, sah ihn aber wohl nicht deutlich, da er das Notlicht hinter sich hatte.

„Gert? Warum kommst du noch zu mir? Ich wollte, du würdest begreifen, dass wir nicht zusammengehören.“

„Warum nicht?“

Sie sah wieder zur Seite.

„Nein. Wir gehören nicht zusammen. Du würdest es mir nie verzeihen, was ich getan habe. Vielleicht ist alles, was du jetzt denkst und tust, nichts als Mitleid.“

„Nein, es ist kein Mitleid.“

„Das sagst du so. Man muss sich auch eingestehen können, wenn man einen Fehler gemacht hat. Ich habe das getan. Gestern Nachmittag ... oder war es heute Nachmittag? ... da habe ich über alles nachgedacht. Über uns beide. Ich habe dich immer geliebt, Gert, ich tue es noch heute. Immer. Du bist so ritterlich, so hilfsbereit, aber ich habe dich so oft betrogen. Mit meinen Gedanken betrogen, Gert. Ich habe oft an ihn gedacht. Du weißt, wen ich meine. Er war schlecht. Er war es wirklich. Aber ...“

Sie schloss müde die Augen.

„Es strengt dich an, und du solltest nicht mehr daran denken. Wenn du wieder gesund wirst, Inge, wird alles gut. Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit. So oder so. Es gibt nichts zu verzeihen oder zu bereinigen. Es gibt nur einen neuen Anfang, aber der muss gut sein.“

Sie sah zu ihm auf.

„Gert, du bist gut. Zu gut für mich. Ich habe auch mit meiner Mutter gesprochen ... über alles.“

Er sah, dass es sie sehr anstrengte.

„Schlaf jetzt, morgen werden wir über alles reden.“

„Schwester Gerda sagt, dass du morgen nicht da bist“, flüsterte sie.

„Ich werde morgen da sein. Den ganzen Tag, Inge. Und ich habe auch für dich Zeit.“

„Und ... und Fräulein Dr. Schendt?“

Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.

„Hast du da auch etwas von Schwester Gerda gehört?“

„Nein ... das Fräulein Doktor war bei mir am Nachmittag.“

„Was?“

„Sie hat sich mit mir unterhalten. Sie ist sehr nett.“

In ihm stieg furchtbare Wut hoch gegen Ellen Schendt.

„Was hat sie gesagt?“, entfuhr es ihm wider seinen Willen, denn Inge brauchte Ruhe.

Inge sah wieder zur Seite.

„Sie liebt dich sehr.“

Ihre Stimme klang sehr gepresst.

Er beugte sich über Inge und sah, dass sie weinte.

„Inge!“

Sie schluchzte.

„Inge, sieh mich an!“, bat er.

Sie wandte ihr Gesicht ihm zu, und er küsste ihren Mund. Ihre Tränen benetzten seine Wangen, aber in diesem Augenblick spürte er, dass nichts mehr zwischen ihnen beiden stand. Alle Liebe, alle Sehnsucht, die sie beide beseelte. und die sie voreinander eben noch zu verbergen suchten, lag in diesem Kuss.

Als sie sich trennten, sagte. Dr. Wolf leise:

„Und jetzt schlaf, Inge, es wird wieder gut!“

„Ja, Liebster“, flüsterte sie.

Er richtete sich auf, strich sanft über ihre Stirn und ging leise hinaus. Als er die Tür schloss, sah er keine zehn Schritte weit Fräulein Dr. Schendt mit der Nachtschwester auf dem Flur stehen. Fräulein Dr. Schendt blickte demonstrativ auf ihre Armbanduhr und rief ihm zu:

„Ist etwas mit dieser Patientin?“

„Haben Sie Nachtdienst?“, fragte er bissig.

„Nein, aber ich fühle mich verpflichtet, auch im Vorübergehen auf das Wohl der Kranken zu achten.“

„Reden Sie keinen Kohl und gehen Sie jetzt!“, fuhr er sie giftig an. „Und Sie, Schwester, sollten mal auf die Rufanlage acht geben. Dort hinten brennt schon die ganze Zeit die Lampe über Zimmer 21! Das wäre für Sie besser, mal nachzusehen, als sich die Zeit zu vertreiben.“

Die Nachtschwester bekam einen roten Kopf und ging.

Fräulein Dr. Schendt aber lächelte maliziös und sagte voller Hohn:

„Der liebe Herr Doktor Wolf reagiert also mit Wutausbrüchen, wenn man dahinterkommt, auf welch kuriose Weise er seine Therapie anstellt, wie?“

Dr. Wolf kochte.

„Gehen Sie zum Teufel!“, schnauzte er sie an und ging in sein Büro.

Sie sah ihm nach, lachte leise und sagte vor sich hin:

„Ich bekomme dich doch! Und ob ich dich bekomme!“

*


ELLEN SCHENDT WAR AM nächsten Morgen unausgeschlafen, als sie sich erhob, wusch und ankleidete. Der Tag war grau in grau, und Ellen musste immerzu an das unerfreuliche Gespräch von letzter Nacht denken. Sie begann sich Vorwürfe zu machen. Vielleicht reagierte Dr. Wolf ganz anders, als sie gedacht hatte.

Die Tatsache, heute Unfallbereitschaft zu haben, gefiel ihr auch nicht. Sie wäre lieber bei der Nierenoperation dabei gewesen, die der Professor heute angesetzt hatte. Statt dessen musste sie in der Aufnahme sitzen, warten, und womöglich mit dem Notarztwagen ausrücken.

Sie wäre statt dessen lieber in Dr. Wolfs – oder wie sie ihn insgeheim nannte: in Gerts Nähe geblieben. Denn er würde dem Professor assistieren.

Das alles an dem Tag, wo sie eigentlich freinehmen wollte, ebenso wie Gert, um beide eine Fahrt zu machen. Und nun hatte er mit Dr. Holmann getauscht.

Um ihn zu ärgern, hatte sie noch gestern Abend ebenfalls einen Tausch mit einem jüngeren Kollegen gemacht. Aber auch da war Dr. Wolf wieder schneller gewesen. Und nun, da sie die Diensteinteilung sah, die man ihr unter der Tür durchgeschoben hatte, entdeckte sie ihren Namen unter der Zeile „Unfallbereitschaft“. Dass sie das Dr. Wolf verdankte, war ihr klar. Er wollte sie also bei der Operation nicht dabei haben.

Der Kaffee schmeckte ihr nicht, die Brötchen waren altbacken, und Schwester Gerda, die sie draußen traf, war auch übelster Laune.

„Mir kann keiner mehr für liebe Jefälligkeiten bekommen“, sagte die schwergewichtige Schwester aufgebracht. „Mir nich’! Der hat mir vielleicht heute morgen angeblubbert, dieser Dr. Wolf. Mir reicht's!“

Und fort war sie.

Ellen hatte das Gefühl, Schwester Gerda gäbe ihr noch die Schuld für Dr. Wolfs Zorn.

Kaum war es acht Uhr, summte schon überall auf der Station der Arztruf, brannten die roten Lampen.

Ellen ging in die Aufnahme, und dort kam ihr schon Dr. Brecht entgegen.

„Na endlich, wo stecken Sie denn?“, rief er. „Los, 'raus, der Wagen wartet schon. Einsatz!“

„Was denn, jetzt schon?“, fragte sie etwas verwirrt, ohne sich zu überlegen, wie einfältig diese Frage war.

Dr. Brecht zuckte die Schultern.

„Die Autofahrer warten nicht immer, bis Sie ausgeschlafen haben. Die fahren sich mitunter auch schon vorher tot. Nun los mit Ihnen!“

Als Ellen den Wagen bestieg, hatte sie plötzlich ein flaues Gefühl. Sie ahnte, dass diese Fahrt ihr nichts Gutes bringen würde. Doch dann schob sie diese Schwäche auf den Kaffee, der ihr vielleicht nicht gut bekommen war, und bemühte sich, an ihre Arbeit zu denken.

Ein paar Minuten später war sie an der Unfallstelle. Ein Kind war unter einen Bus geraten. Der kleine Junge konnte bis jetzt noch nicht befreit werden und brauchte Hilfe, so wie er lag. Unter dem Unterflurmotor des Busses.

Ellen legte sich auf eine Decke, kroch unter den Bus, um an den Jungen heranzukommen. Und dann begriff sie mit einem Blick, dass hier eine Armamputation erfolgen musste. Hier unter dem Bus. Anders war der eingeklemmte Junge nicht zu befreien. Er würde ohne diesen Eingriff verbluten.

Jetzt wusste sie, woher das flaue Gefühl gekommen war. Sie spürte, dass sie in dieser Lage zu diesem Eingriff nicht fähig war. Sie konnte so nichts machen, hatte noch nie so arbeiten müssen. Und doch musste es sein.

Zuerst gab sie dem Kind eine Spritze und stillte das Blut. Aber dann musste sie sich beeilen.

Ich kann es nicht, dachte sie. Ich schaffe das nicht. Er wird verbluten, wenn ich es nicht korrekt mache, aber wie soll ich das? Liegend, im Nassen. Auf einer Decke, die den kalten Asphalt dieses Wintertages kaum isolierte. Nein, ich kann so nicht. Sie merkte schon, wie ihr die Arme lahm wurden.

Draußen war ein Arzt. Er kam wohl aus einer nahen Praxis. Von ihm war auch der Notarztwagen angefordert worden.

„Nun, was ist, Fräulein Kollege? Sie müssen sich beeilen. Warten Sie, ich helfe Ihnen!“

Er kroch zu ihr unter den Wagen.

„Hebt mal die Winden höher!“, rief er den Feuerwehrmännern draußen zu.

Ein kalter Wind wehte unter dem Bus lang. Eisig, und Ellens Hände wurden steif und klamm. Audi der Arzt, ein älterer Herr, fror. Doch sie mussten anfangen.

„Ich bin kein Chirurg. Was ich davon weiß, ist von früher übrig. Dort, würde ich sagen. Über ... Fräulein Kollege, was ist mit Ihnen? Mein Gott, jetzt wird sie auch noch ohnmächtig ...! Herrje, und das sind unsere jungen Ärzte!“

*


ALS ELLEN ERWACHTE, lag sie auf dem Rücksitz eines Streifenwagens. Vorne brabbelte jemand aus einem Lautsprecher, und sie verstand kein Wort. Doch es war niemand außer ihr im Wagen.

Sie fror, blickte an sich hinab und sah den Schmutz auf ihrem Kittel, auf ihren Strümpfen und an ihren Händen. Als sie sich aufrichtete, spürte sie erneut die Schwäche, fasste sich aber und sah durch das Fenster. Gerade wurde eine Bahre in den Notarztwagen geschoben. Dann entdeckte sie die mit Schmutz befleckten Kitteln dastehenden Kollegen. Dr. Brecht und Dr. Wolf.

Dr. Brecht stieg ein, als die Trage im Wagen war, doch Dr. Wolf sprach noch mit dem alten Arzt, dessen blauer Anzug über und über mit Straßenschmutz bedeckt war. Ein paar Feuerwehrleute, Polizisten und Neugierige umringten die Ärzte. Dann fuhr der Notarztwagen weg, und Dr. Wolf kam mit einem Polizisten auf den Wagen zu, in dem Ellen lag.

Der Polizist war ein untersetzter, massiger Mann. Und nun hörte sie, was Dr. Wolf sagte: „Ach, Herr Kolbig, da wird nicht viel sein. Bei Frauen ist das eben so. Sie sind ja sicher verheiratet. Es muss keinen tragischen Grund haben.“

Die Tür wurde geöffnet, und Dr. Wolf sagte, Ellen ansehend:

„Na bitte, sie ist wieder auf dem Damm. – Wie geht es, Fräulein Schendt?“

Sie schämte sich. Sie hatte versagt. Einfach versagt. Zum ersten Male hatte sie selbstständig handeln können, und da war ihr schlecht geworden. Nicht beim Anblick der Verletzung, nein, das kannte sie. Aber vor Kälte, vor Unruhe, vor Angst.

„Sieht noch was blass aus, das Fräulein Doktor.“

Der dicke Kolbig lächelte und sah sie auf eine Weise an, die ihr plötzlich das Blut in die Wangen trieb – als ahne sie, was er dachte.

„Bei meiner Frau war es auch immer so, bevor sie die Buben bekam“, sagte er dann auch noch, und Ellen hätte ihn am liebsten geohrfeigt.

Aber sie war viel zu schlapp, sagte nichts und ließ sich von Dr. Wolf zu seinem Wagen führen.

Seine Nähe hatte sie immer ersehnt. Jetzt war er nahe. Und zu gerne hätte sie diese wenigen Schritte zu dem Taxi, das Dr. Wolf rufen ließ, bis ins Endlose ausgedehnt. Sie spürte seine kräftigen Arme, seine Kraft, als er sie stützte. Er schwieg.

Wortlos half er ihr in den Wagen, wortlos blieb er die ganze Fahrt bis ins Krankenhaus.

Sie fühlte sich schon wieder besser, aber sie wäre gerne ewig neben ihm sitzen geblieben. Auch wenn er kein Wort sprach.

Als sie ihn einmal ansah, wirkte sein Gesicht wie aus Stein gehauen. Er vermied es, sie anzusehen.

Dann stiegen sie aus. Er führte sie bis zum Eingang, winkte dort eine Schwester herbei und sagte dem jungen Mädchen:

„Helfen Sie Fräulein Dr. Schendt in ihr Zimmer. Ich muss wieder in den OP-Saal.“

Enttäuscht sah Ellen zu ihm auf und sagte leise:

„War es schlimm, was mir passiert ist?“

„Nein“, sagte er ruhig. „Ich bitte Sie nur darum, sich meines Vorschlags von gestern Abend zu entsinnen. Sie wissen schon, der Vorschlag von der Freundschaft. Vielleicht gelingt Ihnen das. Alles Gute, ich muss zur Operation.“

Er ging, und Ellen brauchte noch eine halbe Stunde, um wieder ganz „da zu sein“. Dann setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an Dr. Gert Wolf.

*


ACHT TAGE SPÄTER SAßEN sie zu dritt in eben jenem ganz in Leder gehaltenen Zimmer von Familie Peschke.

Frau Peschke hatte ihr Betriebsjournal vor sich auf dem Schreibtisch, Gert saß in einem Ledersessel und blickte zu Inge hin, die auf der Ledercouch lag, die Hände an den Gelenken noch verpflastert, aber sonst wieder ziemlich genesen.

Sie sahen sich an und sprachen nicht. Frau Peschke rechnete, schrieb, und endlich klappte sie das große Journal zu und sah zu Inge hin.

„Na, ihr zwei beiden? Ihr seid so still! Hast du’s ihr schon gesagt, Gert?“

„Nein.“

„Nun hör mal!“, meinte Frau Peschke in gespielter Entrüstung.

Gert lachte. Inge aber richtete sich auf und fragte interessiert:

„Was sollst du mir sagen, Gert?“

Frau Peschke erhob sich und nahm ihr Hauptbuch, nickte Gert zu und ging nach draußen. Inge und Gert waren allein.

„Was sollst du mir sagen?“, wiederholte Inge.

Gert lachte wieder und sah sie aufmerksam an.

„Inge, glaubst du immer noch, dass du ein Kind bekommst?“

Sie wurde knallrot.

„Nein. Aber ... aber es war so, als ob ...“

„Mein Kollege hat dich ja untersucht. Froschtest, Urinuntersuchung, alles negativ. Und auch seine Untersuchung. Ich sagte dir ja, der weibliche Zyklus ist nicht immer regelmäßig. Und jetzt wirst du das inzwischen selbst wissen.“

Sie nickte. Ohne weiter darauf einzugehen, sagte sie unvermittelt:

„Gert, setz dich neben mich, bitte!“

„Aber gern“, sagte er lächelnd und setzte sich auf den Rand der Couch neben sie.

Dann wurde er ernst.

„Es ist nicht das, was ich dir sagen wollte. Dieser Mann ... Hans. Er hat ...“

Sie sah ihn erschrocken an. Ihr schmales Gesicht wurde bleich.

„Gert, sprich bitte nicht weiter! Bitte nicht! Nimm mich, hol deinen Wagen und wir fahren weit weg. Ganz weit weg! Gert, ich halte das alles nicht noch mal aus. Nie mehr. Ich möchte weg. Gert, ich habe nichts mehr als mich selbst. Mutter wird mir vielleicht etwas Geld geben. Aber das alles hat Zeit. Lass uns jetzt wegfahren.“

Er wollte etwas sagen, konnte aber nichts tun, als seine Hand auf ihre Schulter legen, um Inge zu beruhigen. Sie sprach sofort weiter, bevor er ihr alles erklären konnte.

„Gert, ich hasse ihn. Ich möchte ihn anspucken, so hässlich ist er, so gemein und abscheulich. Aber wenn er vor mir steht, ist er wie eine Schlange, und ich bin die Maus. Er ist imstande mich zu hypnotisieren. Ich kann einfach nicht mehr tun, was ich will. Ich kann es nicht. Es war schon immer so, und ich habe nur die Kraft, mich dagegen aufzulehnen, wenn er nicht da ist. Es ist furchtbar. – Gert, wenn er wieder auftaucht und ...“

Sie begann zu weinen, und Gert wollte ihr etwas sagen, aber sie schluchzte so ergriffen, dass er sie aufrichtete, ihr die Hände vom Gesicht nahm und behutsam ihre Tränen abtrocknete.

„Inge, jetzt hör mir einmal genau zu“, sagte er fest und beinahe streng.

Sie schluchzte erneut und stammelte:

„Ich kann nichts tun. Nichts. Er ist ein gemeiner Lump, aber wenn er vor mir steht..

„Hör endlich auf!“, schrie er sie an.

Sie hielt erschrocken inne, sah ihn entsetzt an und wich furchtsam zurück.

Er ließ sie zurücksinken und stand auf.

„Inge, jetzt nimm dich bitte einmal zusammen. Hör zu, was ich dir sage! Ich war heute Morgen im Gefängnis. Dort ist er. Ich habe mit ihm gesprochen. Er wird der Beihilfe zum versuchten Totschlag und des vollendeten Raubüberfalls beschuldigt. Er wird aber vermutlich nicht verurteilt werden.“

Sie schrie erschrocken auf. Doch diesmal blieb sie ruhig, und Dr. Wolf fuhr fort:

„Er ist geisteskrank. Nicht jeder Geisteskranke ist als solcher erkenntlich. Es gibt Formen, die harmlos sind, und es gibt Formen, die sich erst nach langer Untersuchung und Beobachtung erkennen lassen. Dieser Bursche ist kein Typ, der herumlallt oder sich wie ein Säugling benimmt. Mancher denkt, Geisteskranke müssten so sein. Er ist anders. Ich war heute morgen auch bei Professor Holzinger, der für das Gericht solche Ermittlungen anstellt. Die Diagnose leuchtet mir ein. Sie ist gestellt auf Grund der Taten, der Art, wie sich der Kerl benommen hat und was er auf raffinierte Fragen antwortet. Das Resultat ist dieses: Im Grunde ist Hans ein begabter Mensch. Hast du zum Beispiel gewusst, dass er meisterhaft Klavier spielt?“

„Ja“, erwiderte sie nickend. „Er spielt herrlich. So haben war uns überhaupt näher kennengelernt. Auf einem Studentenabend.“

„Er hat komponiert. Irgendein Spießer von Lektor in einem Musikverlag bekam die Arbeit und hat sie womöglich gar nicht näher geprüft. Die Folge war eine Katastrophe. Dieser Junge versuchte es nun nicht etwa woanders. Er glaubte einfach, man wolle ihn nicht haben. Dann kam, weil er statt Betriebswirtschaft zu pauken heimlich komponierte, der erste Durchfall durchs Examen. Dann der zweite Durchfall. Jener Hans verzweifelte. Er glaubte, alle seien gegen ihn. Er begann andere Menschen zu hassen. Jetzt zeigte sich eine gewisse Gabe, die bei Menschen seiner Art häufig anzutreffen ist. Er war imstande, bestimmte Personen in seine Gewalt zu bekommen. Also Menschen zum Beispiel, die sich ohnehin gerne führen lassen, die nicht die Fähigkeit haben, eine Führerrolle zu spielen. Vor allem Frauen. Er hat das bei dir festgestellt. Er hat es auch an anderen Mädchen bemerkt. Aber noch hat er es nicht für seine Zwecke benutzt. Es begann mit dem Taschenraub. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte er indessen ausprobiert, dass seine Gabe mehr anzuwenden ist, als er es gewusst hat. Aber er wollte sichergehen. So kam er hierher. Bei dir wollte er wieder anfangen. Doch bald warst du nur eine von vielen. Er hat Frauen, meist sogar Frauen im besten Alter, wie man sagt, betrogen, bestohlen, übervorteilt. Inzwischen weiß auch die Polizei mehr. Kommissar Glanz hat mir einiges erzählt. Von Frauen, die glaubten, Hans sei ein feiner Kerl. Die ihm ihr Vermögen vermachten. Freiwillig. Jetzt natürlich können sie das alle nicht fassen. Aber er hat sie in seinen Bann gebracht, wie man das laienhaft sagen kann. Es ist schon so etwas wie Hypnose. Da hast du ganz recht. Verglichen mit dem, was Kommissar Glanz über diesen Menschen ermittelt hat, ist dein Fall geradezu harmlos.“

„Mein Gott“, stöhnte Inge. „Früher habe ich ihn sehr gern gehabt. Als wir noch beide in Köln waren. Aber dann ...“

„Ja, es wird immer schlimmer bei solchen Krankheiten. Das lässt nur selten nach. Dieser Mann hasst Frauen wie Männer. Aber bei Frauen will er sich für das schadlos halten, was ihm – wie er denkt – von seiten der Menschheit widerfahren ist. Inge, du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben. Nie mehr!“

Sie vermied es, ihn anzusehen und sagte leise:

„Ich werde immer Angst vor ihm haben. Immer. Seit er damals an diesem Abend mit der Tasche und dem Geld kam. Seitdem. Es verfolgt mich sogar im Traum.“

„Nein, Inge. Ich habe mir lange überlegt, ob ich es dir sage oder nicht. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass er für immer in eine Heilanstalt eingewiesen werden wird.“

„Ist ... ist er frei?“ fragte sie zitternd.

„Aber nein, so beruhige dich doch. Sei einmal ganz ruhig, Inge! Dieser Mann war bereits sehr still, als ich bei ihm war. Ich wollte von ihm wissen, ob er etwas für dich empfindet oder du nur sein Opfer warst. Er bestätigte mir das letztere. Und wie er das sagte, Inge, das will ich dir ersparen. Es war sehr schmutzig. Heute Mittag sollte er in die Heilanstalt gebracht werden. Einer der Männer, die ihn im Gefängnisfahrzeug transportierten, vergaß, die Anschnallgurte zu entfernen. Der Mann, der dreh jahrelang mit seinem Geist verfolgt hat, hat sich an einem solchen Gurt erhängt. Er ist tot, und er wird nie wieder kommen, um dir weh zu tun!“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

„Du lügst, um mich zu beruhigen.“

„Nein. Es ist die reine Wahrheit. Kommissar Glanz wird es dir bestätigen. Auch die Gefängnisverwaltung.“

„Ich kann es nicht glauben. Ihr spielt mir etwas vor. Nur, damit ich mich beruhigen soll.“ Sie richtete sich auf und sah gehetzt um sich.

„Und eines Tages ist er wieder da, und alles beginnt wieder von vorn. Nein! Nein!“

Sie presste die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos.

Er legte seinen Arm um ihre Schulter, schwieg, bis ihr Schluchzen nachließ und sagte dann besänftigend:

„Er kommt nie, nie wieder, Inge. Es ist keine Lüge, das schwöre ich dir.“

Plötzlich straffte sich ihr Körper, und sie stieß sich von Gert weg.

„Ja, ich glaube es dir. Aber ich glaube nicht, dass du je vergessen wirst, dass er und ich ...“

„Dass er und du einmal sehr eng befreundet gewesen sind? Dass er und du auch vor kurzer Zeit noch etwas getan haben, das ...“

„Hör auf!“, schrie sie. „Hör endlich auf! Ich kann es nicht mehr ertragen!“

Sie fuhr herum, sah ihn erregt an und schrie:

„Ich habe mich mit ihm eingelassen, und ich hätte es noch mehr als dieses eine Mal tun müssen. Ja, Gert, ich hätte es tun müssen! Nichts habe ich gegen ihn vermocht, nichts! Und das kann auch ein Mann nicht verstehen, der wie du von dieser Krankheit, wie du es nennst, weiß. Kein Mann verzeiht das einer Frau. Vielleicht wäre es wirklich so gekommen, und ich hätte ein Kind gehabt von ihm. Vielleicht ein geisteskrankes Kind, wer weiß. Mein Gott, Gert, ein Glück, dass es nicht so ist. Aber ich hätte dieses Kind auch geliebt, geliebt wie eine Mutter, die ihr Kind immer lieben wird. Ich wäre vielleicht deine Frau geworden. Aber eines Tages hättest du alles bemerkt. Die Angst vor Hans, das kranke Kind, dann deine ständige Erinnerung daran, dass es das Kind eines Anderen ist. Nein, nein! Gert, kein Mann ist so groß, dass er das verzeiht. Du bist gut, Gert, sehr gut, und ich fühle mich in deiner Gegenwart schuldig. Ich weiß auch, dass ich dich nicht verdiene. Eines Tages weißt du das auch. Aber ich kann dann nicht wieder allein sein. Allein mit meiner Angst vor ihm, allein mit dieser Erinnerung an all das, was gewesen ist.“

Er wartete, bis sie ausgesprochen hatte, dann nahm er ihren Kopf in seine Hände, kam ihrem Gesicht ganz nahe und sah ihr fest in die Augen. Leise sagte er:

„Als du mich gesehen hast in jener Nacht im Krankenhaus, da ich an dein Bett kam und dich auf die Stirn geküsst habe, hattest du da Angst?“

„Nein, merkwürdig, da hatte ich keine Angst.“

„Und dann, als du mich geküsst hast, wolltest du da nicht immer bei mir sein?“

Sie nickte.

„Ja, das wollte ich.“

„Du liebst mich also?“

Sie lächelte.

„Du dummer Junge. Natürlich liebe ich dich. Aber gerade deshalb sage ich ja ...“

„Du sagst mir gar nichts! Ich sage jetzt dir etwas: Ich habe dich sehr, sehr lieb, kleine Inge. Und ich verstehe dich nicht nur, ich verzeihe auch nicht, weil es hier nichts zu verzeihen gibt. Das habe ich dir schon einmal gesagt. Es gibt hier nur eines, Inge: Der Mann, der glaubt, eine Frau müsse rein wie ein Engel sein, wenn er sie heiratet, ist ein Egoist. Das hat jetzt gar nichts damit zu tun. dass es Tausende und Hunderttausende von Frauen gibt, die stolz darauf sein können, solche reinen Engel zu sein, was die körperliche Beziehung zwischen den Geschlechtern angeht. Aber hat je ein Mann ernsthaft an sich die gleiche Anforderung gestellt? Erstaunlicherweise erwartet man vom Manne gerade das Gegenteil. Die Frau aber soll eine Knospe sein, die sich erst dem Manne öffnet. Inge, du hast von mir keine Ahnung gehabt, als du diesen Jungen kennengelernt hast. Ich kenne dich. Du bist ein anständiges Mädchen. Damals hast du geglaubt, er sei der Mann fürs Leben. Ich hatte ungefähr zur gleichen Zeit ein Mädchen, von dem ich auch meinte, sie sei die Frau, die ich heiraten sollte. Sie war es nicht. Und dieser Hans war kein Mann für dich. Dazu sind dann noch Umstände gekommen, die außergewöhnlich sind. Ich sage es dir jetzt nochmals: Du wirst nie wieder von dieser Geschichte sprechen, denn wir haben sie nun ausführlich behandelt. Mich interessiert es ab heute auch nicht mehr. Da gibt es, zum Kuckuck noch mal, ganz andere Schicksale. Ich sehe sie täglich, und dagegen ist deine Sache ein Nichts. – So, jetzt kennst du meine Einstellung.“

Sie trat neben ihn, legte ihren Arm um den seinen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Lange standen sie beide so, ohne etwas zu sagen, ohne sich zu bewegen.

Als Gert dann zur Seite blickte, sah sie zu ihm auf. In ihren Augen schimmerten noch Tränen, doch um ihren Mund stand ein kleines tapferes Lächeln.

„Gert“, sagte sie leise. „Gert, ich habe gar keine Angst mehr.“

Er umfasste sie, und sie beugte ihren Kopf in den Nacken. Behutsam zog er sie an sich und küsste sie. Erst sanft und dann stürmisch, wie sie es wohl von ihm nicht erwartet hatte.

Als er sie freigab, sagte sie, die Arme um seinen Hals geschlungen:

„Gert, wirst du mir auch immer treu sein?“

„Nein“, erwiderte er lächelnd.

Prompt ließ sie ihn los und sah ihn entsetzt an.

„Das sag noch mal!“

„Ich habe noch eine zweite Geliebte, Inge.“

Sie wurde puterrot.

„Gert! Etwa diese, diese Schendt oder wie sie heißt?“

„Aber nicht doch, Inge!“

Er lachte wieder und sagte todernst:

„Meine erste Geliebte heißt Inge Peschke und ist das liebenswerteste Mädchen der Welt. Meine zweite Geliebte heißt St.-Anna-Hospital und braucht mich.“

Jetzt lachte sie auch, stupste ihm mit dem Zeigefinger vor die Nase und sagte übermütig:

„Du alter dummer Kerl, du! Einen so aufzuregen!“

„Also kannst du eifersüchtig werden, hm?“

„Na hör mal! Schließlich liebe ich dich dickfelligen Burschen doch. Und bei euch Männern weiß man ja nie!“

Sie drohte ihm, und er umarmte sie wieder.

Als die Tür aufging, fuhren sie auseinander. Mutter Peschke kam herein, das Hauptbuch unterm Arm. Als habe sie gar nichts gesehen oder sehen wollen, sagte sie, ihre Brille verrutscht auf der Nase:

„Also hört mal zu. Kinder, ich habe hier ausgerechnet ...“

Sie schlug das Hauptbuch auf dem Tisch auf und zeigte auf den Saldo.

„ ... dass wir eigentlich das Kapital dazu hätten.“

„Welches Kapital, Mutti?“, fragte Inge verständnislos, und Gert begriff auch nicht, wovon sie sprach.

Mutter Peschke blickte über die Brille hinweg zu den beiden hin und sagte trocken:

„Nun ja, das Kapital für einen Anbau. Schließlich wird es hier ja zu eng für euch und mich. Und Kinder werden ja hoffentlich auch kommen. Also müssen wir anbauen. Ich habe also ausgerechnet ...“

„Aber Mutti! Woher willst du denn wissen, dass wir ...“

„Wissen? Bin ich blind?“

Die Frau lachte.

„Ihr macht mir Spaß. Stehen da und knutschen, und ich soll nichts ahnen.“

„Aber du hast doch vorhin schon gerechnet. Da wusstest du doch noch gar nicht, ob wir ...“ wollte Inge sagen, aber wieder unterbrach sie die Mutter.

„Na, das ist wieder mal typisch für dich, Inge! Wenn ihr es nicht von alleine begriffen hättet, dass ihr zusammenpasst, dann wäre ich schon auf eine gute Idee gekommen, euch beide zum Traualtar zu bekommen.“

„Aber Mutti!“, rief Inge in gespieltem Zorn.

„Habt ihr eine Ahnung, wozu eine Mutter fähig ist, wenn sie das Beste für ihr Kind will. So, und nun muss ich dir sagen, lieber Gert, dass du sofort zur Klinik kommen sollst. Die haben eben angerufen. Der Professor will dich sprechen, weil er gleich verreisen muss.“

„Ich fahre mit dir, Gert!“, sagte Inge.

*


GERT HATTE INGE IN sein Büro geführt, ihr einen Stoß Illustrierten in die Hand gedrückt und saß nun bei Professor Oberweg. Der alte grazile Herr sah Gert durch die Goldrandbrille an, lächelte und sagte freundlich:

„Jetzt haben sich also die Fronten geklärt, nicht wahr?“

„Wie darf ich das verstehen, Herr Professor?“, fragte Gert überrascht.

Der alte Herr hob beschwörend die Hände.

„Na, ja, man ist zwar alt und verkalkt, aber so ’n bisschen sieht man der Jugend doch noch zu. Fräulein Schendt ist also doch noch gegangen. Ich verstehe das Kind, habe ihr Urlaub gegeben, bis die Kündigung wirksam ist. Hoffentlich trifft sie es woanders besser.“

Gert war etwas erschrocken. Das hatte er nicht gewollt, ja auch nicht geglaubt, dass es bei Ellen Schendt so tief wirken würde.

„Aber es ist noch etwas anderes, Herr Wolf“, sagte der Professor wieder ernst geworden. „Dr. Holmann geht auch.“

„Aber ...“

Der Professor wehrte ab.

„Nein, mit Ihrer unsterblichen Liebe zu Fräulein Peschke hat das nichts zu tun.“

Er lachte.

„Dr. Holmann hat andere Gründe. Er wird als Dozent in Marburg wirken. Das ist für ihn ein Aufstieg.“

„Ich gönne es ihm.“

Der Professor nickte beifällig und fuhr fort.

„Da habe ich nun eine Umbesetzung vornehmen müssen. Ich wollte, mein Lieber, dass Sie den neuen Oberarzt kennenlernen.“

In Gert war die Hoffnung erwacht, er könne womöglich für diesen Posten vorgesehen sein. Aber nun begrub er sie wieder und war gar nicht so traurig, ganz einfach, weil er die Ansichten des Professors sehr respektierte. Chefarzt Oberweg würde wissen, was gut und richtig war.

Er sollte aber eine Überraschung erleben.

„Da, mein lieber Wolf, ist der neue Oberarzt! Sehen Sie dahin!“

Der Professor wies zur Wand, wo ein Waschbecken eingebaut war. Aber da stand niemand. Dr. Wolf runzelte die Brauen. Wollte ihn der Professor auf den Arm nehmen oder ...

„Stehen Sie auf, dann sehen Sie ihn besser.“

Der Professor lachte und wies auf den Spiegel.

„Sehen Sie da hinein. Da steht er doch, nicht wahr? Oberarzt Dr. Wolf. Klingt übrigens sehr attraktiv.“

Bevor Gert etwas sagen konnte – ihm hatte es die Sprache verschlagen –, kam Schwester Gerda ins Zimmer.

Sie legte dem Professor einen Stoß Berichte auf den Tisch und sagte zu Gert, indem sie ihn von unten heraus anschielte:

„Immer noch böse auf mir?“

Gert lachte.

„Nein, Schwester Gerda, ist gestrichen.“

Dann sah sie den Professor an, deutete mit dem Daumen über die Schulter weg auf Gert und fragte geheimnisvoll:

„Wird Doktorchen der Nachfolger von Dr. Holmann?“

D.er Professor knurrte:

„Geht Sie das was an, Sie neugieriges Frauenzimmer? Immer diese Neugierde!“

Dann aber schmunzelte er und sagte freundlich:

„Hätten Sie es denn gerne, wenn er es würde?“

„Nu ja, Herr Professor, wo ich doch allens so miterleben tu, seine Lieben, seine Sorjen, all die aufrejenden Sachen. Ja, und das muss jesagt sein: ’n juter Dokter is’ er ja man och! Was die Patienten sin’, die schwören auf unser Doktorchen.“

Und Schwester Gerda sagte mit dem Brustton der Überzeugung:

„Hab' ich nich’ die janze Zeit jesagt: Unser Doktorchen und das Frollein Peschke, die sind füreinander wie jeschaffen. So wat Schönes von ’nem Paar ...“

Der Professor nahm die Schwester am Arm und knurrte:

„Nun halten Sie mal die Luft an und kommen Sie mit! Die beiden müssen das erst noch verdauen.“

Sprach’s, zog Schwester Gerda mit aus dem Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

Verdutzt sahen ihm Inge und Gert nach. Dann umfasste er sie, zog sie fest an sich und küsste sie voller Liebe.

Als er sie losließ, und sie ein wenig atemlos zu ihm aufsah, fragte sie strahlend: „Bekommen Oberärzte auch Urlaub?“

„Mal sehen. Warum?“

„Ich möchte so gerne mit dir Urlaub machen und dich ganz, ganz liebhaben, und gut aufpassen, damit du mir nicht wegläufst.“

„Ich weiß etwas Besseres.“

„Das wäre?“

„Im Vorbeifahren bestellen wir auch das Aufgebot. Dann heiraten wir vor der Reise, und es wird unsere Hochzeitsreise sein.“

„Träume ich, Gert, oder ist das alles wahr? Zwick mich mal!“

„Nein, da weiß ich etwas Besseres, als dich zu zwicken“, sagte er und gab ihr einen herzhaften Kuss, der erst endete, als der Professor diskret an die Tür klopfte.

––––––––


ENDE

Roman Paket 9 Glenn Stirling Liebesromane für den Strand

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