Читать книгу Roman Paket 9 Glenn Stirling Liebesromane für den Strand - Glenn Stirling - Страница 21

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Die Lagerhalle der Orbis-Farben-Werke gehörte zu den ältesten im Freihafengebiet. Eine vollkommen neue Lagerhalle war nebenan im Bau.

In der alten Halle lagerten die Farbfässer, die für den Export bestimmt waren. Das Dach des alten Gebäudes wurde von mehreren Säulen gestützt. Einige hatten schon längst Risse und die Firma war bereits mehrmals von der Baupolizei aufgefordert worden, das Gebäude zu räumen.

Die Firma hatte das bis zur Fertigstellung des Neubaus mit Einverständnis der Baupolizei hinausschieben können. Doch jetzt war das eingetreten, was die Fachleute der Baupolizei befürchtet hatten. Zwei der gewaltigen Träger der Dachkonstruktion hatten sich gesenkt, einer war später aus seiner Lagerung gerutscht und eine der gewaltigen Säulen, die zur Abstützung des Daches dienten, hatte nachgegeben. Vor einigen Tagen noch wurde gleich nebenan am Neubau eine Klärgrube angelegt und dabei musste mit Presslufthammern unmittelbar neben dem alten Gebäude gearbeitet werden. Vielleicht war dies die Ursache, vielleicht gab es auch andere Gründe für den plötzlichen Einsturz, der am frühen Morgen, kurz nach fünf Uhr, erfolgt war.

Plötzlich war nämlich der zweite gewaltige Träger der Dachkonstruktion abgesackt und das Dach rutschte und stürzte auf die gerade zum Schichtbeginn eingetroffene Mannschaft der Schauerleute, die mit dem Verladen der Fässer auf das direkt an der Pier liegende liberianische Schiff Star of Africa beginnen sollten. Die Verlademannschaft war zweiundvierzig Mann stark, eingeschlossen die Lagerarbeiter, die hier immer beschäftigt wurden. Die große Zahl an Leuten erklärte sich ganz einfach daraus, dass ein Verladen von verschiedenen Fässern mehr Handarbeit erforderte, als dies gewöhnlich der Fall war. Überdies befanden sich zum Augenblick des Unglücks wegen des Regens noch einmal neunundzwanzig Schauerleute unter dem Vordach der Lagerhalle, direkt an der Pier. Sie hatten sich da untergestellt, nachdem ihr Jollenführerboot sie dort abgesetzt hatte. Sie sollten beim Löschen eines Küstenmotorschiffes mitwirken, das aber doch nicht an der Pier festgemacht war. Durch einen glücklichen Umstand fing sich das Dach an einer Ecke, sodass es nicht glatt herunterstürzte, sondern nur mit einer Seite aufschlug. Etwa vierzig Menschen gerieten aber unter das Dach. Die anderen konnten sich retten, bevor es dann endgültig niederstürzte und alles unter sich begrub.

Innerhalb kürzester Zeit gelang es den Rettungsmannschaften der Feuerwehr und der Hafenmeisterei, dreißig Schauerleute und Lagerarbeiter, die verletzt unter den Trümmern lagen, sofort zu befreien und ins Hafenkrankenhaus, aber auch in die Universitätskliniken zu schaffen. Etwa zehn Verletzte oder womöglich gar Tote mussten sich noch unter den Trümmern befinden.

Als die Rettungsarbeiten schon in vollem Gange waren, kam es durch einen Kurzschluss der noch vorhandenen elektrischen Leitungen zur Explosion leicht entzündlicher Gase, die aus aufgerissenen Farbfässern stiegen.

Obgleich es der Feuerwehr relativ schnell gelang, das offene Feuer zu löschen, drangen doch dicke Qualmwolken unter die Trümmer und hielten sich darin fest.

Mit langen Rohrsonden versuchte die Feuerwehr Frischluft unter die Trümmer zu blasen, während sie an einer anderen Stelle den Rauch absaugte. Schwere Unglücksfälle ereigneten sich im Hafengebiet bedauerlicherweise öfter als in anderen Industriegebieten. Für derartige Fälle gab es einen Katastrophenplan der Rettungszentrale, der schon oft genug seine Bewährungsprobe bestehen musste. Nach diesem Plan wurden zuerst die Verletzten in die nähergelegenen Krankenhäuser gebracht. Leichter Verletzte schaffte man in die entfernteren Kliniken und um die ausgesprochen schwersten Fälle musste sich das Ärzteteam des Hafenkrankenhauses kümmern.

Schwester Marita kannte diesen Einsatzplan und wusste, wie sich alles abspielen würde. Nachdem der Rettungswagen durch die Absperrung von Polizei und Feuerwehr gefahren war, rollte er in nächste Nähe des eingestürzten Lagerhauses.

Das ganze Dach des Gebäudes war niedergestürzt, eine der Seitenmauern seitwärts weggekippt, und die Trümmer lagen weit über hundert Meter verstreut. Männer des Technischen Notdienstes und der Feuerwehr versuchten mit Hilfe von zwei Planierraupen wenigstens eine größere Gasse zu bahnen, damit die Feuerwehrfahrzeuge noch näher an die Unfallstelle herankonnten und damit auch ein Weg geschaffen wurde für zwei riesige Kranwagen, die mittlerweile herbeigeholt worden waren, damit sie beginnen konnten, das Dach anzuheben.

Dem Rettungsgesetz nach hatte ein chirurgischer Notarzt das Kommando über alle ärztlichen Maßnahmen, die an der Unfallstelle ergriffen wurden. Dieser Notarzt, der schon erheblich früher als Dr. Preiß zur Unfallstelle gekommen war, gehörte ebenfalls dem Team des Hafenkrankenhauses an und arbeitete als Stationsarzt in der chirurgischen Abteilung. Marita kannte Dr. Eduard Sanders und wusste von seinem Ruf als hervorragender Chirurg. Er war ein Mann Ende dreißig und sein dunkles Haar war an den Schläfen schon ergraut.

Im Augenblick trug er einen gelben Stahlhelm und sein ehemals weißer Arztanzug war schwarz von Schmutz und rot von Blut, sein Gesicht von Schweiß und Dreck gezeichnet. Als Schwester Marita, Dr. Preiß und der Rettungssanitäter Willi ihr Fahrzeug verließen, stieg Dr. Sanders gerade aus dem Klinomobil, in dem schon operiert wurde.

Dr. Sanders kam Harald Preiß entgegen und rief: „Sie kommen genau richtig. Im Augenblick sind noch acht Mann unter dem Dach. Bei zweien muss eine Amputation erfolgen. Das ist besonders deshalb schlimm, weil alle acht unter Rauchvergiftung leiden. Oder sagen wir genauer, es sind die Giftstoffe im Rauch, die sich verheerend ausgewirkt haben. Die Leute haben schwere Kreislaufprobleme. Ich weiß nicht, wie wir die da unten amputieren sollen. Die Feuerwehrleute behaupten, man könnte nicht da unten zu den Leuten hin. Das Dach könnte noch weiter durchsacken und zerschlagen. Sie wollen es anzuheben versuchen. Aber in dieser Zeit können die beiden Verletzten verblutet sein. Ich brauche einen hervorragenden Anästhesisten.“

„Ich bin Internist“, sagte Preiß, „was nicht bedeutet, dass ich nicht in der Lage wäre, eine Narkose zu machen.“

Dr. Sanders warf einen Blick auf Schwester Marita und sagte: „Ich weiß nicht, Herr Kollege, ob wir mit einer Dame etwas anfangen können. Das, was da unter dem Dach liegt, ist reine Männerarbeit.“

Marita befand sich jetzt in einer Verfassung, wo alles in ihr aufgewühlt war Sie blickte Dr. Sanders an und sagte: „Glauben Sie denn, wir Frauen wären aus Marzipan?“

Dr. Sanders legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Nun regen Sie sich mal nicht auf, Schwester. Wir haben so viel zu tun. Helfen Sie denen da drüben bei der Vorbereitung der Schwerverletzten für die Sofortmaßnahmen.“

Marita schwieg, obgleich ihr eine heftige Antwort auf der Zunge lag. Aber sie hatte immer getan, was die Ärzte ihr befahlen; und so wollte sie es auch jetzt halten.

Harald Preiß musste sich seinerseits um die Geretteten kümmern, die schwere Vergiftungserscheinungen aufwiesen. Als Internist war das seine Aufgabe und Schwester Marita half ihm dabei.

Indessen gelang es den Rettungsmannschaften, noch fünf Verletzte unter den Trümmern hervorzuholen. Die wurden sofort in die Klinomobile gebracht, von denen mittlerweile zwei nah der Unfallstelle standen. Und dort versorgte man sie ärztlich, damit sie überhaupt transportiert werden konnten.

Mittlerweile war es dem Technischen Hilfswerk und der Feuerwehr gelungen, die beiden Krane so einzusetzen, dass es ihnen möglich sein würde, jenen Teil des Daches anzuheben, unter dem sich die Schwerverletzten befanden und dort eingeschlossen waren. Bis zu ihnen hatte noch niemand vordringen können

Dr. Preiß war gerade mit der Versorgung eines Schwerverletzten fertig und ließ ihn unter Sauerstoffbeatmung mit dem Rettungswagen zum Hafenkrankenhaus bringen, als Dr. Sanders wieder auftauchte und sagte:

„Wir müssen hin. Die Schwerverletzten dort unten müssen an Ort und Stelle versorgt werden. Man kann nicht einfach so hinkommen, Herr Kollege. Wir sind gezwungen, zu kriechen. Und es besteht ein Risiko. Dieses Dach kann trotz der Kräne jeden Augenblick wieder herunterstürzen. Die sind zwar dabei, abstützende Stempel zu setzen, aber alles ist morsch und kaputt. Wir können auch nicht warten bis die Abstützung völlig fertiggestellt ist. Wer von Ihnen kann mitkommen?“

„Als Anästhesist kann ich Ihnen helfen. Ein Chirurg bin ich nicht.“

„Ich brauche einen Anästhesisten. Ich habe hier weit und breit keinen. Also los, kommen Sie! Und wir müssen noch jemanden haben ... Einen Pfleger, einen OP-Pfleger.“

Es gab keinen OP-Pfleger. Ein Rettungssanitäter der Feuerwehr meldete sich und Dr. Sanders fragte ihn barsch: „Haben Sie schon einmal bei einer Operation assistiert?“

„Operation, nein! Meine Aufgabe ist erste Hilfe und ... “

Dr. Sanders winkte ab. „Verdammt noch mal“, wandte er sich an Dr. Preiß, „wen nehmen wir da mit? Wir müssen jemanden haben. Ich kann doch keine Frau mitnehmen. Und dann ist es noch nicht einmal heraus, ob wir eine Operationsschwester hätten.“

Marita hatte es gehört. Sie ging auf die beiden Männer zu. „Ich habe jahrelang als Operationsschwester gearbeitet. Ich könnte Ihnen helfen."

Sanders musterte sie skeptisch. „Und wieso arbeiten Sie dann in der Inneren Abteilung?“

„Wegen einer Schleimbeutelentzündung im rechten Ellenbogen. Ich musste damals aussetzen und man hat mir geraten, nicht mehr als Operationsschwester zu arbeiten, weil das, wenn ich das Tag für Tag tue, die Entzündung wieder aufflammen lässt.“

„Also gut, in der Not frisst der Teufel Fliegen“, knurrte Dr. Sanders. „Wir können ja nicht noch länger warten bis sie uns einen OP-Pfleger schicken.“

Marita sagte gar nichts.

Sanders schaute sich nach einem Kollegen um, der ebenfalls mitkommen sollte. „Wo bleiben Sie denn, Bertram?“, rief er.

Der etwa gleichaltrige Arzt aus der Universitätsklinik fauchte zurück: „Ich komm ja schon. Nun spielen Sie sich hier nicht so auf! Fliegen kann ich nicht.“

Willi wollte ebenfalls mitkommen, aber Sanders wies ihn zurück. „So wenig wie möglich Leute in die Risikozone bringen. Je mehr es sind, umso gefährlicher könnte es werden. Das reicht. Schlimm genug, dass wir eine Frau mitnehmen müssen.“

Da platzte Marita der Kragen. „Was glauben Sie denn, was eine Frau ist?“, fauchte sie ihn an. „Meinen Sie denn, wir sind zu allem zu dumm?“

Sanders wandte sich ihr kurz zu und sagte: „Tut mir leid. Legen Sie nicht alles auf die Goldwaage, Schwester.“

Dann war es endlich soweit. Ein Rettungssanitäter von der Feuerwehr schleppte die beiden Bereitschaftskoffer, ging vor den anderen ins Trümmerfeld hinein und ein zweiter Feuerwehrmann kam ihm entgegen. Er war völlig erschöpft, sein Gesicht war rußverschmiert.

„Kommen Sie ganz schnell! Es ist höchste Eile! Der Mann verblutet uns.“

Er packte einen der Bereitschaftskoffer und rannte jetzt vor allen anderen her.

Dann kam die Stelle, wo das Dach leicht angehoben war. Der Feuerwehrmann, der vorn ging, ließ sich auf die Knie nieder und über die Schulter rief er zurück: „Hier müssen wir kriechen. Und betet zu Gott, dass dieses Dach hält.“

Ein Glück, dachte Marita, ein Glück, dass ich die Einsatzkombination angezogen habe und nicht im Kleid bin.

Es wurde immer niedriger und dunkler. Die Lampe, die der Rettungssanitäter, der vor Dr. Sanders kroch, ab und zu hochhielt, erhellte nur die Fläche vor ihm. Die anderen hinter ihm waren im Dunkeln. Und ganz am Schluss kam wieder einer von der Feuerwehr. Er hatte ebenfalls eine Lampe, aber Marita wurde davon eher behindert durch den eigenen Schatten, als dass sie etwas erkennen konnte.

Schließlich erreichten sie die Stelle, wo Männer Stempel einsetzten, um das Dach abzustützen. Und immer noch musste die Rettungsmannschaft weiter.

Rohre, wohl Wasserrohre und Fliesen, die kantig und scharf waren, versperrten den Weg.

Endlich erreichten sie eine Stelle, wo der zweite gewaltige Träger der Dachkonstruktion umgekippt war, zugleich aber eine Art Hohlraum geschaffen hatte, sodass es hier wie unter einem ganz flachen Zelt war: Man konnte knien und wenigstens den Oberkörper etwas aufrichten.

Und hier lag der Verletzte.

Dr. Sanders und Dr. Preiß waren schon bei ihm. Ein Rettungssanitäter der Feuerwehr hatte dem Schwerverletzten eine Abbindung am rechten Oberschenkel angelegt.

Dr. Sanders war schon einmal hier gewesen und wusste, dass der Mann, der hier lag, auch innere Verletzungen aufwies. Es gab gar keine andere Möglichkeit, als ihn hier an Ort und Stelle zu operieren. Eine starke innere Blutung war die größte Gefahr für diesen Verunglückten.

Dr. Sanders musste also hier nicht nur eine Amputation vornehmen, sondern auch die Bauchhöhle öffnen, weil er mutmaßte, dass Teile des Dünndarms infolge eines stumpfen Schlages auf die Bauchdecke zerrissen sein konnten. Zudem war es ganz sicher im Bereich der Bauchspeicheldrüse zu einer inneren Blutung gekommen. Der Puls des Schwerverletzten war so klein, dass Dr. Preis, der sich um Kreislauf und Atmung kümmerte, jeden Augenblick mit dem Tod des Verletzten rechnen musste.

Bis auf diesen einen Mann hatte man alle Verletzten herausbringen können. Und dieser hier würde sterben, gelang es nicht, die Blutung rechtzeitig zum Stillstand zu bringen. Die intravenöse Anwendung von Hämostyptika, also blutstillender Mittel, wirkte nicht. Es konnte als sicher angesehen werden, dass ein größeres Organ, vermutlich die Milz, zerrissen war.

Unter Bedingungen, wie Marita noch nie als Schwester gearbeitet hatte, galt es jetzt den Wettlauf mit dem innerlichen Verbluten des Verunglückten zu gewinnen. Während sich der zweite Chirurg, Dr. Bertram, damit befasste, das rechte Bein des Verunglückten unterhalb des Knies zu amputieren, weil der Unterschenkel unter einem Betonklotz festgeklemmt war, begann Dr. Sanders mit der Laparotomie, dem Öffnen der Bauchhöhle. Aber im Augenblick war Harald Preiß noch mit der Narkose beschäftigt.

Das alles geschah im grellen Licht von zwei Halogenlampen, die Rettungssanitäter der Feuerwehr bis hierher verlegt hatten.

Dr. Sanders und Dr. Bertram mussten kniend arbeiten. Marita und Dr. Preiß erging es nicht anders.

Der Kopf des Verunglückten lag im Schoß von Dr. Preiß, der Atmung und Kreislauf überwachte. Die Narkose wirkte sich jetzt voll aus. Der Verunglückte war ohne Bewusstsein und die von Feuerwehrleuten herangebrachten Sauerstoffgeräte traten in Aktion. Der Verletzte war intubiert, also durch ein Rohr bis zum Kehlkopf wurde seine Atmung gewährleistet.

Indessen hatte Dr. Sanders das Skalpell angesetzt. Was jetzt geschah, war im Grunde Routine, wäre Routine gewesen, hätten sie an einem normalen Operationstisch gestanden. Aber so war es eben nicht. Dieser Mann lag unter Trümmern. Da gab es Rohrleitungen, Stücke von Fässern, ein Geschlinge von Drähten, Teile des Dachgerüstes und am Boden eine schmierige Masse aus Farbe und Dreck, die zudem noch stank. Direkt am Platz, wo der Verletzte lag, hatte man Decken auf den Boden gelegt, die sich aber allmählich mit der Farbe vollsogen, und alles zusammen war das glatte Gegenteil eines klinisch sauberen Operationsraumes. Aber es bot sich keine andere Möglichkeit an.

Die beiden Chirurgen, der eine am Bauch des Patienten, der andere mit der Amputation des Unterschenkels beschäftigt, arbeiteten präzise.

Dr. Preiß als Narkosearzt, konzentrierte sich voll und ganz auf den Zustand des Patienten und dessen Beatmung. Er war bereit, kreislaufstärkende Medikamente zu geben, aber noch reichte die Menge des Medikaments aus, die er vorhin schon injiziert hatte. Ein Rettungssanitäter sorgte für die Zufuhr von Blutplasma. Während Dr. Bertram allein arbeitete, brauchte Dr. Sanders bei der Laparotomie, also der Öffnung des Bauchraumes, die Assistenz von Schwester Marita.

Das Licht war hell, aber es warf tiefe Schatten. Eine Operationslampe, die schattenfreies Licht spendete, gab es hier nicht. Dennoch ging es rascher als auf dem Operationstisch . . . Und es musste sehr viel rascher gehen.

Marita half Dr. Sanders beim Einsetzen des Absaugegerätes, füllte dann den freigelegten Raum mit Tupfern, um das Blut aufzusaugen und die Stelle offenzulegen, die abgeklemmt von Nähten geschlossen werden musste.

Plötzlich hörte Marita über sich ein knirschendes, knackendes Geräusch. Sie schrak zusammen, schaute instinktiv nach oben, konnte aber keine Veränderung erkennen. Und da sie die Zusammenhänge nicht kannte, achtete sie nicht allzu sehr darauf.

Der Rettungssanitäter, der eben noch Dr. Bertram geholfen hatte, breitete etwas über dem Patienten aus, und Marita sah, dass es ein Tuch war.

„Es kommt Schmutz herunter“, sagte der Rettungssanitäter. „Jemand muss das halten, sonst kann ich mich nicht um das Plasma kümmern.“

„Wir haben keinen Platz für einen weiteren Mann“, erklärte Dr. Sanders, ohne aufzusehen.

Er musste jetzt sehr rasch handeln, um die Blutung zu stoppen. Es gab nicht nur eine Ruptur der Milz, auch der Dünndarm war mehrfach gerissen, eine große Reinigung wäre erforderlich gewesen. Aber das konnte jetzt nicht vorgenommen werden. Im Augenblick musste sich Dr. Sanders voll und ganz darauf beschränken, erst einmal die Blutung zu stoppen, um den Patienten notfalls bedeckt, mit unverschlossener Operationswunde, aus diesem Chaos von Trümmern herausbringen zu lassen. Der Rest der Operation konnte dann im Klinomobil gemacht werden.

Dr. Bertram war fast fertig. Er schaute kurz auf. „Hält die Narkose noch?“, wandte er sich an Dr. Preiß.

„Hält“, bestätigte Harald.

Plötzlich rief aus dem Zugang, durch den sie alle gekommen waren, ein Feuerwehrmann: „Wie lange dauert das noch?“

„Wenigstens eine halbe Stunde“, entgegnete Dr. Sanders, ohne aufzublicken.

„Das ist unmöglich!“, rief der Feuerwehrmann. „Da müssen Sie weg! Die Decke hält nicht. Sie können nicht hierbleiben.“

„Wenn wir die Operation jetzt unterbrechen, stirbt der Patient“, erklärte Dr. Sanders und ließ sich nicht einmal Zeit, seine Arbeit nur eine Sekunde zu unterbrechen.

„Aber die Decke kommt herunter. Wir haben sie zwar gepackt mit dem Kran, aber an einer Stelle ist kein Halt mehr drin. Die Träger sind total durchgerostet. Alles wird niederbrechen. Sie müssen weg und Sie müssen sofort weg!“

Dr. Sanders blickte kurz auf, sah Marita an und sie erkannte, wie seine Augen über dem Mundschutz funkelten. „Gehen Sie, Schwester, und Sie auch“, wandte er sich an Dr. Bertram. „Und Sie“, er sah jetzt Dr. Preiß an. „Ihr alle geht.“

Der Rettungssanitäter reagierte als erster und schüttelte den Kopf. Marita meinte, ein Lächeln in seinem Gesicht zu sehen.

„Ich befehle jetzt, dass Sie alle gehen!“, wiederholte Dr. Sanders.

„Und Sie?“, fragte Marita.

„Halten Sie sich nicht mit mir auf. Ich werde fertig operieren. Ich kann es Ihnen hinterher oder nie erklären. Aber jetzt müssen Sie alle weg.“

Da hörten sie wieder dieses Knacken über sich. Und der Feuerwehrmann rief von vorn: „Machen Sie doch, dass Sie wegkommen! Schnell, schnell, das bricht in jedem Moment zusammen. Sie können den Mann nicht retten oder wir müssen ihn wegbringen.“

„Man kann ihn nicht bewegen“, erklärte Dr. Sanders. „Gehen Sie alle weg jetzt. Ich mache allein weiter.“

Zwei Feuerwehrleute waren mit Stahlstempeln herangekrochen. Sie richteten sie auf, drehten das Gewinde hoch und machten sie fest.

„Sie müssen weg“, sagte einer der Feuerwehrleute. „Das hält höchstens noch zwei oder drei Minuten.“

Dr. Bertram hatte das Nötigste getan, alles Weitere konnte später gemacht werden oder nie. Er kroch zuerst weg, ihm folgte der Rettungssanitäter. Die beiden Feuerwehrleute, die die Stempel gebracht hatten, verschwanden nun ebenfalls rasch. Zuletzt waren nur noch Dr. Sanders, Dr. Preiß und Marita da. „Nun gehen Sie doch!“, sagte Sanders und schaute kurz auf. „Gehen Sie, Schwester!“

„Es wäre der absolute Tod dieses Patienten.“

Dr. Preiß sah, dass einer der Stempel von den Feuerwehrleuten liegengelassen worden war. Sie hatten ihn gar nicht mehr aufgerichtet. Er nahm ihn jetzt und rammte ihn unter ein herabragendes Stück des Trägers.

Von vorn rief ein Brandmeister der Feuerwehr: „Sie müssen sofort heraus! Hören Sie, Sie müssen heraus!“

„Vielleicht sollten wir wirklich verschwinden“, meinte Harald Preiß. „Sie wollen doch nicht etwa wirklich hier bleiten? Wir bringen ihn zusammen weg, kommen Sie. Wenn er stirbt, ist das eben Schicksal. Aber wir können uns doch nicht alle begraben lassen seinetwegen.“

„Sie brauchen sich nicht begraben zu lassen, Kollege, Sie können gehen. Und nehmen Sie die Schwester mit, um Himmels willen. Ich koche hier allein weiter. Bis ich die Blutung gestoppt habe, dann ... “

Stücke, ganze Stücke brachen oben ab. Dreck rieselte herunter. Marita beugte sich über den Schwerverletzten, damit die Operationswunde nicht beschmutzt werden konnte. Und unter ihr, fast mit dem Gesicht in der Operationswunde, arbeitete Dr. Sanders.

Da brüllte von vorn wieder der Brandmeister: „Jetzt weg, gleich reißt die Stelle aus, wo das Seil festgemacht ist! Jetzt schnell weg, schnell!“

Sanders tat, als sei er taub. Marita half ihm, als ginge sie das alles nichts an. Und er brauchte jetzt ihre Hilfe.

„Ich habe Ihnen befohlen, Sie sollen verschwinden“, murmelte er.

„Sie haben mir gar nichts zu befehlen“, erwiderte sie. „Entweder bleiben wir jetzt alle vier hier oder wir gehen eben. Aber wir gehen zusammen.“

„Hol Sie doch der Teufel!“, knurrte Dr. Sanders und operierte weiter.

Aus der Zeit, wo sie selbst OP-Schwester gewesen war, hatte sie gelernt, gute und schlechte Chirurgen voneinander zu unterscheiden. Dr. Sanders war ein hervorragender Chirurg.

Aber auch Harald machte seine Sache großartig und dass auch für ihn der Augenblick der Bewährung noch kommen sollte, konnten sie alle nicht ahnen. Noch spielte er seine Rolle als Narkotiseur und er spielte sie gut.

Wieder brachen ganze Stücke oben aus. Marita bekam einen Brocken gegen die Schulter, aber sie ließ sich nicht beirren. Das Knacken über ihnen verstärkte sich. Einer der Stempel, die das schwere Dach tragen mussten, drohte zur Seite zu rutschen.

Marita sprang auf, wollte den Stempel festhalten. Dr. Sanders sah es, legte das Skalpell einen Augenblick weg und sagte „Beugen Sie sich über den Verletzten.“

Und als sie es tat, war er es, der mit einem Ruck den schweren Stempel wieder geraderückte. Wenn jetzt die Last über ihnen zunahm, konnte der Stempel sie als Stütze tragen.

Es war Dr. Sanders nun endlich gelungen, die Blutung zum Stillstand zu bringen. Er wollte gerade damit anfangen, die Tupfer zu entfernen, als über ihnen ein Rascheln, dann plötzlich ein scharfes Knacken ertönte und endlich ein Splittern, ein Poltern erfolgte, während zugleich Dreckmassen über sie niederbrach.

„Zu, zu!“, schrie Dr. Sanders. Aber Marita hatte schon reagiert. Sie breitete in fiebernder Hast das Leinenlaken über die Operationsöffnung und beugte sich mit Ihrem Körper über den Verletzten. Harald tat vorn an Kopf und Brust des Verletzten dasselbe, und dann spürten sie alle drei, wie Dreckbrocken, Metallstücke und alles Mögliche auf ihre Rücken prasselten. Es ist aus, dachte Marita, jetzt werden wir begraben, lebendig begraben.

Noch während es donnerte, prasselte und krachte, hörten Marita und die Ärzte die Schreie von Männern. Aber mit einem Male erstarben diese Laute um sie herum.

Sie bekamen kaum Luft, es war absolut dunkel. Sie mussten husten und Harald Preiß verspürte überdies einen starken Schmerz im Rücken. Aber er bemerkte, dass sich ein Schlauch des Beatmungsgerätes losgerissen hatte und zischte. Es gelang ihm trotz seiner Schmerzen und obgleich er nichts sah, die Enden zu ertasten, wo der Schlauch wieder aufgesteckt werden musste.

Und plötzlich gingen die Lampen wieder an, die eben erloschen waren. Erst mit einem' bläulichen schwachen Licht. Es dauerte immer eine Zeit, bis diese Halogenlampen die volle Lichtstärke erreicht hatten. Durch den Staub konnte auch dieses helle Licht nur mit Mühe durchdringen.

Doch allmählich legte sich der Staub und es war noch immer totenstill, bis auf das Zischen des Beatmungsgerätes.

Marita sah, was geschehen war. Ringsum war das Dach niedergebrochen. Und ausgerechnet dieser eine Stempel, der vorhin zu verrutschen drohte und den Dr. Sanders wieder geradegerückt hatte, hielt jetzt alles auf, was sonst auf sie herabgestürzt wäre. So befanden sie sich in einer Art Höhle, die hermetisch nach außen abgeschlossen war.

Sie hörten nichts von dem, was draußen geschah, aber noch immer brannte dieses Licht, das jetzt heller und heller wurde.

Dr. Sanders kauerte in seltsamer Haltung, dass es aussah, als sei ihm der Kopf beim Nachdenken auf die Brust gesunken. Er rührte sich nicht.

„Was ist mit ihm?“, hörte Marita plötzlich die Stimme von Harald Preiß. „Er hat was abbekommen. Verdammt, ich auch, am Rücken, aber ich bin noch wach. Er muss bewusstlos sein.“

In dem Augenblick kam Dr. Sanders zu sich. Er griff sofort mit der rechten Hand nach seinem Hinterkopf. Als er die Hand wieder nach vorn brachte, war sie voll frischen Blutes.

„Was ist. . . was ist mit dem Patienten?“, keuchte er, als sei das, was ihn selbst betraf, völlig belanglos.

„Was ich sehen kann“, erklärte Harald, „ist soweit alles okay. Was ist mit Ihnen?“

„Irgendwas am Kopf. Mir ist so schwummrig. Verdammt noch mal, ich kann nicht klarsehen.“

Marita kümmerte sich um die Kopfverletzung. Er hatte ein ganz schönes Loch im Hinterkopf und wahrscheinlich auch eine Gehirnerschütterung erlitten.

„Wir müssen ihn wegbringen, wir müssen... ich kann nicht mehr operieren. Mir ist schlecht.“

„Commotio cerebri“, sagte Harald trocken. „Es geht doch nur noch ums Zumachen, oder?“

„Wir müssen ihn wegbringen“, wiederholte Sanders.

„Es geht nicht, wir sitzen hier fest“, meinte Marita und blickte voller Spannung auf Harald.

„Ich bin zwar kein Chirurg“, erklärte der, „aber wenn es nur ums Zumachen geht, das kann ich auch.“

Sanders musste sich sehr zusammennehmen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Noch hatte er Mühe, nicht einfach umzukippen.

Dass Licht brannte, war ein Trost; die Kabel waren nicht zerstört worden. Die kurze Unterbrechung des Lichtes, die vorhin stattgefunden hatte, bedeutete nicht viel. Jetzt jedenfalls brauchten sie dieses Licht und obgleich die Lampen eine ziemliche Wärme abgaben, konnte auch dies nichts schaden. Sanders war wirklich nicht mehr in der Lage, die Operation fortzuführen, Marita sah, dass seine Hände zitterten. Dennoch schien es ihm besser zu gehen.

Also gut, fahren Sie fort, Kollege Preiß. Wir müssen erst die Bauchhöhle reinigen. Was ist mit dem Patienten?“

Er lebt. Er lebt und wir können sofort weitermachen“, entgegnete Harald

In diesem Augenblick hatte er sich etwas gedreht und Marita sah, dass sein ganzer Rücken voller Blut war. Ein Eisenteil hatte ihm die Kleidung, aber auch die Haut aufgerissen.

„Ich muss Sie erst mal verbinden“, sagt Marita zu ihm.

„Unsinn. Weitermachen!“

Aber Sie bluten stark. Ich muss etwas machen und wenn ich nur etwas darüberlege.“

„Unsinn, jetzt machen wir weiter hier.“

Sie ließ sich aber nicht abhalten und legte ihm eine Binde, die sie aus dem Notfallkasten entnommen hatte, auf den Rücken, verpflasterte das rasch und sagte:

„Das muss nachher genäht werden.“

„Nachher, nachher“, entgegnete er barsch. „Jetzt geht es um ein Menschenleben. Wir haben jetzt keine Zeit. Sehen wir zu, dass wir das alles sauber halten können.

Hoffentlich buddeln die nicht noch über uns herum, dann fällt alles wieder herunter.“

Unter den Anweisungen von Dr. Sanders, der große Mühe hatte, einen klaren Kopf zu behalten, setzte Harald Preiß die Operation fort. In diesem Augenblick musste er die Arbeit des Anästhesisten und Chirurgen gleichermaßen erfüllen. Marita half ihm und es war eine ganze Menge, was sie zu tun hatte, denn in einem Operationssaal wäre das die Arbeit von drei oder vier Menschen gewesen. Aber irgendwie, so bedauerlich die ganze Situation war, fühlte sie sich frei. Und sie fühlte sich glücklich, dass sie ihre ganze Kraft für einen Menschen einsetzen konnte.

Noch immer lebte der Patient und wie es aussah, hatte er alle Aussichten durchzukommen. Über das Später machte sich Marita keine Gedanken. Irgendwie würde es schon gelingen, sie alle hier herauszuholen.

Es war immer ihr Wunsch gewesen, anderen Menschen zu helfen, dafür war sie Schwester geworden. Aber solche Augenblicke wie jetzt zählten zu den Höhepunkten. Hoffentlich, dachte sie, kommt der Mann durch, damit es sich gelohnt hat.

Sie war es jetzt, die die Bauchhöhle reinigte; die Rupturen waren ja bereits vernäht. Dr. Preiß begann mit dem Schließen der Bauchöffnung. Anfangs bekam er noch helfende Anweisungen von Dr. Sanders, aber plötzlich blieb der still. Erschrocken sah Marita auf und sah, dass Dr. Sanders zur Seite gekippt und offenbar bewusstlos geworden war.

Sie bettete ihn in Seitenlage, dann kümmerte sie sich wieder um ihre Arbeit. Und dann ging alles wie am Schnürchen, jeder Handgriff saß.

„Er ist bewusstlos. Schaffen Sie es allein?“, fragte sie Harald.

„Es muss gehen! Ich raffe alles, was ich einmal gelernt habe, zusammen. Da sehen Sie einen Internisten, der sich als Chirurg versucht, ich will mein Bestes tun“, versicherte er.

Manchmal war es Marita, die ihm sagen konnte, wie er weiterarbeiten musste, weil sie es aus Erfahrung wusste und sich an alles erinnerte, wie es früher gewesen war. Aber so glatt ging es dann doch nicht. Die Behinderung durch den Schatten, den die hellen Lampen verursachten, durch den Schmutz, den sie immer wieder wegtupfen mussten und durch die Enge und dadurch, dass alles im Knien erfolgte, war erheblich. Marita schmerzten die Knie. Sie hatte sich irgendwelche Deckenstücke, die herumlagen, untergelegt, und seitdem ging es ein wenig besser.

Manchmal blickte sie Harald Preiß von der Seite an.

Aber das konnte sie tatsächlich nur einen Augenblick lang tun, dann musste sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. Denn noch immer galt: keine Zeit zu verlieren. Doch während sie ihren Teil der Arbeit leistete, hatte sie Haralds Gesicht im Gedächtnis. Und etwas, für das sie vorher nur Interesse, bei sich selbst für Neugier gehalten hatte, begann sie jetzt immer mehr zu erkennen. Gefallen hatte er ihr ja schon immer. Aber nun geschah etwas, gegen das sie sich verzweifelt zur Wehr setzen wollte. Aber es gelang ihr nicht.

„Nicht so heftig“, mahnte Harald. „Sie dürfen die Naht nicht so fest anziehen, etwas lockerer. Das gibt Verwachsungen:“

Sie erschrak. Mein Gott, ich hätte es wissen müssen, dachte sie. Seine Ermahnungen brachten sie jäh in die Wirklichkeit zurück.

„Entschuldigung“, murmelte sie. Sie lockerte die Naht wieder, dann arbeitete sie weiter. Sie hatte wohl im Unterbewusstsein etwas zu heftig reagiert.

Über ihnen knackte es wieder. Das Holz des Stempels, der die Last trug, gab eigenartige Geräusche von sich. Putz rieselte von oben und Brocken von Mauerwerk fielen um sie herab.

„Jetzt balancieren die da wohl noch oben herum“, meinte Harald, arbeitete aber weiter. „Etwas mehr Sauerstoff, Marita. Das Blut wird dunkel, kümmern Sie sich mal um den Kreislauf.“

Als Marita das tat, stellte sie fest, dass dieser Kreislauf ziemlich unstabil wurde.

„Sieht nicht gut aus, Puls achtzig zu zwanzig.“

„Geben Sie ihm Adrenalin, im Koffer, die Spritze ist aufgezogen. Eine Einwegspritze, rasch!“ Marita tat, was er sagte.

„Der Kreislauf wird besser“, erklärte sie kurz darauf.

Wieder kamen Brocken von oben herunter. Die Sache begann brenzlig zu werden. Und Harald erklärte: „Ich bin gleich fertig. Wir machen jetzt zu. Geben Sie etwas mehr Plasma in den Tropf!“

Während er die Operationswunde verschloss, tat sie, was er ihr sagte. Es schien eine endlos lange Zeit zu vergehen, bis er die Etagennaht geschlossen hatte. Immer wieder fielen währenddessen Brocken von oben herunter und Marita hörte auch ferne Lärmgeräusche, die bis zu ihr durchdrangen. Von einer Sekunde zur anderen kam immer mehr von oben herunter und Marita musste sich mit dem ganzen Körper über den Schwerverletzten beugen, um ihn zu schützen.

Es schien eine Ewigkeit gedauert zu haben, aber dann war die Naht doch fertig. Harald sprühte Sulfonamid-Puder über die Naht und auch um den Drainageschlauch herum, den er sicherheitshalber gesetzt hatte. In einem klinisch sauberen Operationssaal hätte es dessen nicht bedurft. Aber hier war bestimmt mit Entzündungen infolge von Verschmutzung zu rechnen.

Als die Naht feststand, sprühte Harald erneut Sulfonamid-Puder darüber, und der Verband wurde gelegt. Er half Marita dabei und als sie fast fertig waren, ging plötzlich das Licht aus.

„Das hat uns noch gefehlt!“, platzte Harald heraus.

Das Poltern schräg über ihnen wurde immer lauter. Doch plötzlich war Stille.

In diesem Augenblick war Dr. Sanders zu sich gekommen, röchelte, ächzte und dann hörten sie ihn sagen: „Ich muss doch ... ich muss doch weitermachen.“

„Wir sind so gut wie fertig“, sagte Harald. Er richtete sich etwas auf, hatte wohl irgendein Stück Eisen gefunden und klopfte damit gegen einen anderen eisernen Gegenstand. Es hallte so laut, dass es Marita in den Ohren dröhnte.

„Was machen Sie, was... “

„Schon gut, Kollege Sanders. Ich gebe Schallzeichen“, erwiderte Harald.

Und immer wieder klopfte er ein unbestimmtes Zeichen, das Marita nicht kannte.

Dann setzte der Lärm oben wieder ein.

„Die hören uns nicht!“, schrie Harald und seine Hand tastete sich nach vorn.

Plötzlich berührte er bewusst oder nicht Maritas Gesicht damit. Aber er nahm die Hand nicht zurück. Sie spürte seine Finger an ihrem Nacken, dann hörte sie ihn leise sagen: „Wenn es zusammenbricht, werden wir darunter erschlagen und es gibt kaum ein Überleben. Aber ganz gleich, wer von uns durchkommt oder nicht. Für den Fall, dass es mir nicht gelingt, dann sollst du wissen, Marita, dass ich dich liebe.“

Einen Augenblick lang war sie perplex. Aber während dieser Zeit hier unten, fast drei Stunden waren es nun, hatte sich in ihr doch einiges verändert Nichts von ihrer verstandesmäßigen Abwehr, nichts von ihrer Furcht, dass er ein Schürzenjäger war, konnte sie nun noch hindern.

Ich liebe ihn ja auch, dachte sie. Ich liebe ihn so sehr, und er hat recht. Vielleicht sind wir verloren, und dann waren wir nicht einmal einen Augenblick lang glücklich, nur einen Augenblick lang...

Sie hörte, wie Harald mit seinem Kollegen Sanders sprach. Aber dem schien es besser zu gehen und Harald ermahnte ihn, ruhig zu liegen. Dann war er mit seinem Gesicht dem ihren wieder ganz nah.

In ihr war nichts mehr übrig von den Vorurteilen, den ängstlichen Empfindungen. Im Gegenteil, die neuen Empfindungen zeigten sich viel stärker. Und sie hatte sie eigentlich noch nie so stark in sich gespürt wie jetzt. Denn angesichts des Todes befindet sich der Mensch jenseits von Gut und Böse und da zählt nur noch eins: die Wahrheit.

Er hatte noch immer seine Hand an ihrem Hals liegen. Den Gummihandschuh trug er nicht mehr, sie spürte die Wärme seiner Haut. Mit ihrer Linken griff sie danach, fasste nach seinem ausgeprägt männlichen Handgelenk und spürte die Muskeln seines Unterarmes.

Dann sagte sie etwas, das außerhalb ihrer Kontrolle, außerhalb ihres Wollens lag, aber das aus ihrem innersten Herzen kam: „Ich liebe dich auch.“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, war sie erschrocken über sich selbst. Aber sie konnte die Worte nicht zurückholen und sie wollte es auch nicht. Im Grunde hatte sie das gesagt, was sie dachte, was sie empfand, was sie in diesen Sekunden beherrschte. Nein, gedacht hatte sie es nicht. Im Augenblick war sie gar nicht fähig dazu, einen Gedanken zu fassen und dazu noch einen klaren. Aber für sie war es eine Tatsache und nicht erst seit dieser Operation. Sie wurde sich nun darüber klar und mit allen Fasern ihres Herzens drängte es sie zu ihm. Doch sie kniete und bewegte sich nicht, hockte da wie eine Statue. Sie fühlte sich nicht imstande, mehr als das, was sie gesagt hatte, zu sagen. Und mehr hätte er im Grunde auch gar nicht hören wollen.

Wieder brachen Brocken von oben ab, dieses Knirschen, dieses Knacken wurde immer stärker. Irgendwo ratterte ein Presslufthammer. Plötzlich war da oben wieder Stille.

Etwas klopfte an einer Rohrleitung oder einem Stück Eisen.

Harald nahm die Hand von Maritas Hals und nun war er es, der klopfte, der diese Stahlschiene oder was immer es war, behämmerte, der dagegen schlug wie besessen.

Oben blieb es jetzt still.

Dann gingen mit einem Mal die Lampen wieder an und es war so grell, obgleich sie noch gar nicht richtig hell brannten, dass Marita die Augen schließen musste. Die Lampen wurden von Sekunde zu Sekunde heller, wie es bei dieser Art der Fall war.

Blinzelnd blickte Marita als erstes auf Dr. Sanders. Und der wiederum starrte auf den Patienten.

Auch Harald hatte sich über den Patienten gebeugt, richtete sich aber zufrieden wieder auf.

„Es geht ihm gut. Es geht ihm besser als ich dachte. Wenn nur die Beatmung nicht ausfällt.“

Da hockten sie nun in schmutziger Kleidung, hatten den Mundschutz um den Hals hängen, ihre Kappen in den Nacken geschoben, aber sie lebten, alle vier...

Marita blickte auf Harald. In diesem Augenblick sah sie nur ihn und sie dachte: O Harald, ich könnte deine Lippen nehmen und küssen und immer wieder küssen. Ich muss verrückt sein, dass ich jetzt an so etwas denke ...

Plötzlich schreckten sie alle zusammen. Oben knirschte es drohend.

„Die Atmung ist nicht schlecht“, erklärte jetzt Dr. Sanders, dem es offenbar wesentlich besserging. „Der Kreislauf scheint sich zu halten. Was sagt der Puls, Kollege?“

„Der Puls ist stabil. Mein Gott, und die da oben wissen, dass wir hier sind. Hoffentlich haben sie uns bald heraus.“ Wieder Klopfzeichen von draußen. Die Ablenkung ließ Marita auf andere Gedanken kommen. Aber es war immer noch dieses eisige Gefühl im Nacken, das sie plötzlich betroffen hatte, bei ihrem Gedanken, es könnte nun doch mit einem Schlage aus sein. Eigentlich war es nur die Hoffnung, die ihr zum Durchhalten Kraft gab.

Ich muss mich um den Patienten kümmern, dachte sie. Es ist meine erste Pflicht, alles Übrige hat Zeit bis später.

Aber dieser Patient war zäh. Eine Bauchoperation, eine Unterschenkelamputation, trotzdem hielt er durch. Sein Körper hatte den Tod besiegt. Und was weiterkommen würde, konnte in einer Klinik gemacht werden. Dort besaß man günstigere Möglichkeiten als die beiden Ärzte und die Schwester sie hier unten in diesem Loch hatten.

Eine Viertelstunde lang dauerte es und für die drei, die es bei Bewusstsein wahrnahmen, eine Ewigkeit. Aber dann gelang es den Rettern, ein Stück, entfernt so viel von dem Dach abzutragen und eine Öffnung zu schaffen, durch die schließlich ein staubgeschwärzter Feuerwehrmann mit seinem ehemals weißen Helm auf dem Kopf zu ihnen kroch, eine, Handlampe vor sich herschob und dann in diesem röhrenartigen Gang auftauchte, von dem noch ein kleiner Rest in diese Höhle führte, wo der bewusstlose Patient und die drei Retter ausgeharrt hatten.

Noch einmal zehn Minuten und dieser Patient war auf eine Trage gehoben und diese wurde dann von Feuerwehrleuten nach draußen bugsiert. Ähnlich wurde mit Dr. Sanders verfahren, der fast wieder das Bewusstsein verloren hätte. Und erst ganz zuletzt verließen Marita und Harald diesen Platz, der ihnen um ein Haar zum Grab geworden war.

Roman Paket 9 Glenn Stirling Liebesromane für den Strand

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