Читать книгу Roman Paket 9 Glenn Stirling Liebesromane für den Strand - Glenn Stirling - Страница 12
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Tante Hilde saß im Esszimmer am Tisch, das Gesicht in den Händen geborgen und schluchzte. Marie kam mit ihrem Kind auf dem Arm ins Esszimmer, gefolgt von Thomas. Beide blickten auf die weinende Frau. Thomas ging zu seiner Tante, strich ihr tröstend übers Haar.
„Sie wird darüber hinwegkommen. Und dass sie dich hinausgeschickt hat, versteh das doch, Tante. Sie will allein sein. Es ist ein entsetzlicher Schlag. Ich habe das ja selbst noch nicht richtig verstanden. Es ist einfach unvorstellbar. So ein blödsinniger Anruf und auf einmal sollst du kapieren, dass ein Mensch nicht mehr kommt, dass er tot ist, dass es ihn einfach nicht mehr gibt.“
„Thomas, lass sie doch“, mahnte Marie, dessen französischer Akzent ihre Herkunft verriet. Das Baby auf ihren Armen schlief und hatte das Gesicht in der Brust seiner Mutter vergraben.
„Aber ich habe doch recht“, meinte Thomas und blickte auf seine Frau.
Die zierliche Marie nickte ihm zu, schwieg aber. Sie setzte sich ans andere Ende des Tisches und wiegte ihr Kind.
Thomas, der große und breitschultrige junge Mann, ging unruhig im Zimmer auf und ab. Gebeugt wie ein alter. Er lief hin und her und zermarterte sich den Kopf, wie er seiner Schwester helfen konnte. Denn bisher hatte sie ihm immer geholfen. Ihm und neuerdings auch seiner Frau und der kleinen Tochter. Denn es war überwiegend das Geld von Ina, von dem sie lebten und weshalb es ihm ermöglicht wurde, weiter zu studieren. Und jetzt war sie in Not. Doch wie sollte er ihr helfen? Was könnte er für sie tun?
Plötzlich blieb Thomas stehen, sah Tante Hilde an, die aufgehört hatte zu schluchzen, aber noch immer die Hände vors Gesicht gepresst hielt. „Wo ist eigentlich Opa? Weiß der es schon?“
Ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, sagte Tante Hilde: „Bei seinem Freund ... Er kommt heute Nacht nicht.“
Seufzend setzte Thomas seine Wanderung im Zimmer fort. Auf und ab, den Kopf gesenkt und doch fiel ihm nichts ein, womit er seiner Schwester helfen konnte. Und die lag oben auf ihrem Bett, verzweifelt, dass sie den Geliebten verloren hatte.
Mit Bernd Stölze hatte sich Thomas hervorragend verstanden. Ganz im Gegensatz zu dem früheren Freund von Ina, dem Kardiologen Dr. Heinz Flemming. Dessen feinfühlige, sanfte Art missfiel Thomas. Da war ihm die rau herzliche Weise, wie Dr. Bernd Kluge sich gab, viel sympathischer. Zwischen den beiden hatte sich eine richtig tiefe Freundschaft entwickelt und nun würde Bernd nie mehr kommen, sollte sein Porsche nicht mehr vor der Tür stehen. Eigentlich, sagte sich Thomas, hat Tante Hilde gar keinen Grund zum Weinen.
Sie hat Flemming immer viel lieber gemocht und Kluge nie ausstehen können. Wieso weint sie jetzt?
Er sagte nichts, blickte nur auf seine junge dunkelhaarige Frau, die auch ein wenig blass wirkte, was aber nichts mit dem Schock zu tun hatte, der auf die Nachricht von Bernds Tod hin über die Familie hereingebrochen war.
Marie unterbrach die Stille, sah Thomas an und fragte: „Hat sie denn noch einmal telefoniert?“
Thomas nickte. „Hat sie. In Genf haben sie das bestätigt. Der Wagen ist in den Bergen von der Straße abgekommen und in eine tiefe Schlucht gestürzt. Es hat Stunden gedauert, bis die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Toten geborgen werden konnten. Das Auto hatte auch noch Feuer gefangen. Die Toten sind alles Ärzte. Sie werden in ihre Heimatländer übergeführt. Sie werden Bernd hierherbringen.“
Marie, die in Augenblicken der Aufregung Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte, verfiel jetzt auf ihre Muttersprache und sagte auf Französisch: „Wenigstens gut, dass sie nicht hinfliegen muss, um ihn zu identifizieren. Manchmal verlangen die Behörden das.“
„Nein, das haben sie wohl nicht verlangt“, sagte Thomas. Er wiederum hatte deutsch gesprochen.
Die Kleine begann unruhig zu werden.
„Ich muss sie in einer halben Stunde stillen“, erklärte Marie und erhob sich. „Ich gehe jetzt nach oben. Soll ich denn vorher noch nach Ina schauen?“
„Nein, lass sie am besten alleine“, entschied Thomas. „Wenn ich doch wüsste, wie ich ihr helfen könnte ...“
Das Telefon stand neuerdings im Wohnzimmer und als es nach Mitternacht klingelte, hörte es im Haus niemand. Denn Opa, der einzige, der im Erdgeschoß schlief, hatte sich Wattepfropfen in die Ohren gesteckt, wie er es immer tat. Und die oben konnten das Klingeln im Wohnzimmer nicht hören. Auch Ina nicht, die lange wach gelegen hatte und dann endlich doch eingeschlafen war, als die Natur ihr Recht forderte.
Eine Stunde später klingelte das Telefon wieder und diesmal schellte es mehrmals zehnmal. Wieder hörte es niemand, aber irgendwie schien Ina doch davon wach geworden zu sein. Doch da klingelte es nicht mehr. Sie schreckte aus ihrem Schlaf, richtete sich auf und die Wirklichkeit war wieder da.
Nein, dachte sie, es ist kein Traum gewesen. Ich habe diese Nachricht wirklich bekommen. Ich habe tatsächlich mit Genf telefoniert und das ganze Grauenhafte des Vorfalls berichtet bekommen. Ich träume es nicht, auch wenn ich es noch immer nicht fassen kann. Ich vermag es nicht zu glauben und doch ist wohl nicht daran zu zweifeln.
Sie hatte gestern nicht geweint und konnte es auch jetzt nicht. Ihr war, als würde ihr Körper von unten her absterben. Mit einem Mal hatte nichts mehr Sinn.
Eine Liebe wie zwischen Bernd und ihr, so sagte sie sich, werde es niemals mehr geben. Nicht für sie. Solche Dinge, dachte sie, wiederholen sich im Leben nicht. Ihre Beziehung zu Bernd hatte niemals etwas Alltägliches gehabt. Leidenschaftliche Liebe wurde von Streitereien abgelöst, spontane verrückte Einfälle von beiden waren in die Tat umgesetzt worden. Mit Bernd war sie glücklich gewesen wie nie im Leben zuvor. Mit ihm hatte sie Dinge getan und schön gefunden, für die sie sich früher geschämt hätte. An seiner Seite war es ihr möglich gewesen, übermütig und ausgelassen zu sein. Und sie wusste, dass sie nichts von dem jemals vergessen konnte.
Und das alles sollte es nie mehr geben!
Sie lauschte in die Nacht hinein, meinte, ihr Blut in den Ohren rauschen zu hören, spürte, wie ihr Herz schlug und wie ihr die Kälte den Rücken heraufkroch.
„Warum weine ich nicht?“, fragte sie sich. „Ich müsste doch in meinem Schmerz zerfließen in Tränen. Stattdessen sitze ich da, starre in die Dunkelheit und komme mir vor wie tot. Und morgen Früh werde ich in die Klinik gehen, werde meine Arbeit machen wie immer und alle, die es inzwischen erfahren haben, starren mich an wie eine Heilige. Nein, ich werde nicht in die Klinik gehen. Ich werde mich in mein Bett verkriechen, wie ich es als Kind getan habe, wenn ich nicht mehr ein und aus wusste vor Angst.
Gött hat keinen Arzt. Ich muss gehen. Es sind so viele schon weg. Ich muss meinen Dienst machen, ich kann ihn nicht im Stich lassen. Ich kann meine Patienten nicht verraten. Sie brauchen mich.“
Sie legte sich wieder hin, schloss die Augen und ein harter Arbeitstag forderte sein Recht; sie schlief ein.
Unten begann wieder das Telefon zu schellen...