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2. Kapitel

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Rückblick, Rollmops, Rollfeld, Rollstuhl, Rollgut, Tretroller, Rollbrett, aus der Rolle fallen, eine Rolle spielen, Rollentausch, Garnrolle, Rollkragen, Rolle rückwärts, Rollrasen, aufgerollt, abrollen, einrollen. Rollbraten. ** Ein Rollbraten hütet ein Geheimnis. Er ist nicht sofort als das zu erkennen, was man von ihm erwartet, so wie bei einem schieren Stück Fleisch, bei dem es kein Versteckspiel gibt. Nur das Äußere eines Rollbratens verblüfft, damit das Innere sein kann, was es will. Ein Rollbraten spielt nicht nur eine Rolle auf dem Speiseplan, er ist eine Rolle. Eine ziemlich dicke sogar, und wie schon erwähnt, verrät sie nicht, was in ihr steckt. Das zeigt sich erst später, wenn der Rollbraten wie ein aufgeschlagenes Buch auf dem Teller liegt. Erst dann, wenn er sein Innerstes nicht mehr verbergen kann, wird er beurteilt, in gut oder schlecht, vielleicht noch in mangelhaft eingestuft. Er wird mit anderen Rollbraten verglichen, wie ein Weihnachtsbaum mit allen Tannen vor ihm, bis von ihm nichts mehr übrig bleibt, als ein leerer, schmutziger Teller vor einem vollen Bauch. Einer kulinarischen Zusammenführung mit einem Rollbraten wohnt die Erfahrung inne, und hier beginnt meine Geschichte, dass ein Rollbraten eine tote, zerkleinerte, nur noch geringe Schweineexistenz ist, abgelöst von ihrem Ganzen. Sie wird von einem hellen, kleinmaschigen Baumwollnetz fest zusammengehalten, wie von einer Zwangsjacke und von einer Frau, die sich mit einer gestreiften Schürze vor jeder Art von Flecken schützen

möchte, in einem funkelnagelneuen Kupfertopf in viel heißem Fett von allen Seiten scharf und dunkelbraun angebraten. Das Geräusch, das dabei entsteht, erinnert an enorme Wassermassen, die bei einem berstenden Staudamm nicht mehr aufzuhalten sind und in eine Schwindel erregende Tiefe hinabstürzen. Durch das Anbraten entsteht eine Soße, mit deren Unterstützung die Salzkartoffeln rechnen, die später als Beilage fungieren und noch roh und ungeschält, auf der Arbeitsplatte auf einem alten Stück Zeitung, auf dieses Vorankommen warten. Das geschieht in einer unmodernen, braunen Einbauküche im dritten Stock eines Mietshauses in Cuxhaven. Die Frau würzt nun mit Salz und den Zutaten, die sie sorgsam auf einem Holzbrett aufgereiht hat. Es dauert nicht lange, und der köstliche Duft von Bratensaft, Zwiebeln, Lorbeer und Nelken steigt auf, verbreitet sich in der Küche, verlässt sie zaghaft und schwebt langsam den dämmrigen Flur entlang. Er verschwendet sich geringfügig durch das Schlüsselloch der Wohnungstür ins Treppenhaus, bevor er den hellen Wollmantel an der Garderobe streift, nachhaltig markiert und sich durch die offene Tür ins sonnige Wohnzimmer schleicht. Dort liegen vor einem geblümten Zweisitzer auf dem niedrigen Tisch aus abgebeiztem Weichholz neben einer großen Fotografie zwei Tuben Farbe in Elfenbeinschwarz und Titanweiß, sowie zwei Pinsel mit unterschiedlich dicken Kunststoffborsten. Wobei die Borsten eher feinen Fasern gleichen. Das Foto zeigt ein Gesicht in bester Laune vor einer weißen Wand. ** Die Frau, die den Rollbraten inzwischen mehrmals gewendet hat, ist etwa vierzig Jahre alt, entspricht einer gängigen Durchschnittsgröße, ist dünnhäutig, noch voll berufstätig, kocht leidenschaftlich gern und hat ihren ersten Urlaubstag. Wenig gekonnt trällert sie die Arie der Königin der Nacht, und ist kaum noch zu hören, als das Anbratgeräusch von einem lauten Zischen ersetzt wird und es gleich danach kurz blechern scheppert. Sie hat den Rollbraten mit heißem Wasser aus dem Wasserkocher abgelöscht und den Topf mit dem Deckel geschlossen. Eine große Dampfwolke umschmeichelt wolkengleich ihr Gesicht und verfängt sich in ihrem braunen, struppig aufgetürmten Haar, das von einer breiten Hornspange lose zusammengehalten wird. Summend wischt sie mit den Händen über die Schürze und tänzelt auf schlanken Beinen über den Flur ins Wohnzimmer. Vor dem Tisch bleibt sie stehen, schlägt die Hände vor das Gesicht und atmet tief ein. Es scheint so, als wäre das die Basis für einen festen Entschluss. Sie gibt sich einen Ruck und greift nach der weißen Farbtube, öffnet sie, nimmt einen Pinsel, taucht ihn in die Farbe und beginnt im Stehen und nach vorn gebeugt, das schwarzweiße Foto zu bemalen. Wie unter einer eisigen Schneedecke verschwinden in kurzer Zeit erst die lockigen, schulterlangen Haare und danach die Stirn des Gesichts unter deckendem Titanweiß. Sie zögert nicht und übermalt mit der schwarzen Farbe die kaum sichtbaren Augenbrauen auf dem Foto mit dicken Pinselstrichen, die zwischen den Augen ineinander fließen, wie die auf dem Selbstporträt von Frida Kahlo. Sie sehen jetzt aus, wie ein fliegender Vogel mit einer enormen Flügelspannweite. Die Frau lächelt, verschließt die Tuben sehr sorgfältig und geht mit den Pinseln ins Badezimmer. Sie dreht den Wasserhahn auf und lässt den dünnen Strahl zuerst über die schwarz gefärbten Borsten des Pinsels laufen. Die verdünnte Farbe fließt wie schwarze Tränen ins Waschbecken, kurz danach gefolgt von einem weißen Farbschleier des zweiten Pinsels, als wollte er sich tröstend über eine Traurigkeit legen, die die Frau jetzt erreicht hat. Sie schaut mit ernstem Gesicht auf die Vertuschung und dann für einige Sekunden in den Spiegel über dem Waschbecken. Dann geht sie zurück ins Wohnzimmer und legt die nassen Pinsel zu den Farbtuben. ** Krankmacher, freudlos, Grießkloß, Vergesslichkeit, Klage, grußlos, Austernfischer, Sehnenscheidenentzündung, Katenrauchschinken, Rückenschwimmer (Notonecta glauca). Was für ein Name für das winzige Tier, das in ruhigen Gewässern lebt, richtig fies stechen kann und deswegen auch Wasserbiene genannt wird. Es hat einen behaarten Bauch. ** Ich kann überhaupt nicht auf dem Rücken schwimmen. Vielleicht wäre ich eine bessere Schwimmerin, wenn ich auch einen ovalen Körper, Ruderwarzen und verlängerte, starke Beine hätte. Aber dann würde ich zu den Wanzen gehören. Da möchte ich dann doch lieber nicht Rückenschwimmen können, aber mutig vom 10 Meter Turm springen. ** Wespennest, Gedankenfetzen, Puppenspiel, Funkenflug, Lastenaufzug, Umgangston. „Magst Du andre nicht verletzen, lern’ in andre Dich versetzen“. Dichter unbekannt. ** Kleinkaliber, Zierleiste, Notgroschen, Magenerweiterung. ** Die Frau kennt die Verkäuferin an der Fleischtheke im Supermarkt schon sehr gut. Es war nicht ihr erster Rollbraten, den sie nach Hause tragen wollte. Und sie hatte sich auch diesmal unfangreich von ihr beraten lassen und schon beim Kauf beschlossen, den Rollbraten in vier Portionen aufzuteilen. So hatte sie an vier Tagen reichlich Fleisch zu essen. Bevor der Rollbraten bei der Zubereitung an Gewicht verlieren wird, wiegt er ungefähr zwei Kilo. ** Milchkaffee, Kräuterbutter, Schweinsblase, Lampenfuß. Egal, wie ein Lampenfuß steht, auch wenn er drei Füße hat, damit er nicht umfällt, weil man auf einem Bein angeblich nicht stehen kann, bleibt er ein einziger Fuß. Affenzahn, Kurzgeschichte. „Und worum geht es in der Geschichte von Kurt? Und wer ist Kurt überhaupt, kenne ich ihn?“ Ava war immer neugierig auf kleine, spannende Geschichten, die ihre Schwester erzählen konnte, wie niemand sonst, den sie kannte. Und Ida stellte jetzt absichtlich nichts richtig, denn nun gab es wieder eine Gelegenheit für sie, fantasieren zu können. Ihr würde schon eine kurze Geschichte einfallen, mit der sie Ava gut unterhalten konnte. Ava war jünger als sie und hing nun erwartungsvoll an ihren Lippen, als sie zu erzählen begann: „Es geht um ein kleines, rosa Schwein aus Marzipan, das aus Lübeck verschleppt worden war, und in Bad Schwartau dem kleinen Kurt zu Sylvester geschenkt wurde, damit es ihm im neuen Jahr viel Glück brachte. Viel mehr noch, als Du Dir überhaupt vorstellen kannst, und deshalb hatte es um seinen Hals zusätzlich noch ein goldenes Bändchen mit einem vierblättrigen Kleeblatt und einem winzigen Hufeisen. Dann würde das Glück dreimal so groß sein, sagte seine Mutter.“ Ava war zufrieden, die Geschichte von Kurt und dem Glücksschwein begann ihr zu gefallen. Ida erzählte weiter: „Kurt freute sich über das Schweinchen, das in einer knisternden Zellophantüte geschützt verpackt war. Aber er hörte überhaupt nicht zu, als die Mutter noch einmal deutlich von dem Glück sprach, dass das Schweinchen ihm bringen würde, wenn er es hegte und pflegte, so, wie man es auch mit dem Glück macht, damit es einem treu bleibt. Und während die Erwachsenen lautstark mit viel gutem Essen, mit Sekt und Wein, mit Bleigießen, Luftschlangen und albernen Papphüten auf den Köpfen, den letzten Tag des Jahres feierten, ging Kurt fröhlich mit dem Schweinchen in sein Zimmer. Vorsichtig hielt er es in seinen Händen, stand eine Weile mitten in seiner Unordnung und schaute es einfach nur an. Dann wurde er neugierig, wie es sich ohne die Zellophanhülle wohl anfühlen würde und überlegte, ob es sich eingesperrt fühlen würde und er es aus seinem transparenten Gefängnis befreien sollte. Entschlossen, nahm Kurt seine Bastelschere und schnitt bedächtig die Tüte auf. Vorsichtig nahm er das Schweinchen heraus. Es war sehr zart, und er strich behutsam mit der Spitze des Zeigefingers über seinen Rücken. Dann hielt er es gespannt unter die Nase und schnupperte an dem kleinen Schweinebauch. Das Schweinchen duftete so köstlich und Kurt dachte, wenn es so wunderbar duftete, dann musste es herrlich schmecken. Zuerst wagte er, ein wenig an dem Schweinchen zu lecken. Es war so verlockend, und schließlich konnte Kurt nicht mehr widerstehen und biss dem Schwein ganz vorsichtig ein Beinchen ab“. Avas Augen weiteten sich entsetzt. „Und kaum schmeckte Kurt die Süße des köstlichen Marzipans, wurde er immer gieriger, wie die meisten Menschen immer gieriger nach dem ganz großen Glück werden und mit ihrem kleinen Glück nicht mehr zufrieden sind. Und Kurt zögerte keinen Augenblick länger und biss dem Schweinchen nacheinander alle Beine ab, so dass es nicht mehr stehen konnte. Kurt schaute auf das verstümmelte Schwein, fühlte sich nicht mehr ganz so wohl, konnte aber nichts ungeschehen machen und biss dem Schweinchen rasch den Kopf ab, damit es ihn nicht mehr so traurig anschauen konnte. Doch dann sah das Schweinchen wie ein Rollbraten aus. Und Kurt ertrug diesen Anblick erst recht nicht und verschlang den großen Schweinerest ganz und gar und mit ihm das dreifache Glück für das neue Jahr. Zurück blieben das kleine, vierblättrige Kleeblatt und das winzige Hufeisen. Während Kurt noch kaute und die süße Köstlichkeit genoss, steckte er die beiden Glücksbringer zurück in die Zellophantüte und legte sie ganz nach oben auf das Regal, wo alle Sachen lagen, die er nicht mehr brauchte, an die er sich aber erinnern wollte und die zu schade zum Wegwerfen waren“. Ava war empört und zischte: „Ist der blöd“. Dann schwieg sie eine Weile. Sie schien zu überlegen. Dann hörte Ida sie sinnieren: „Aber wenn ich es mir richtig überlege, dann hatte er doch tatsächlich „Schwein gehabt“, wenn auch nur kurz, aber immerhin doch das Glück, Marzipan essen zu können, und deshalb gibt es diese schöne Kurtsgeschichte“. „Richtig“, sagte Ida sehr zufrieden lächelnd. ** Schmalzgebäck, Pandabär, Ziegenbart, Gottesanbeterin. Das ist eine schlanke, springbereite Fressmaschine. Maulsperre, Absprache, Handfeger, Abschussrampe, Lauf, das ist ein beschleunigter Gang, etwas schneller, wird er zum Langstreckenlauf auf der Laufbahn des jeweiligen Lebenslaufes auf teilweise empfindlicher Laufsohle. Endet häufig über ein Laufband in einem Laufrad für Laufburschen. Laufkundschaft. Die läuft vorbei, vielleicht sogar im Laufschritt vor dem Laden hin und her, läuft in den Laden hinein und in ihm herum, kundschaftet aus, lässt der Kauflust freien Lauf oder kauft nichts, läuft aus dem Laden und läuft weg und fragt sich laufend, ob der Laden wohl läuft, er befände sich doch nicht gerade in einer Laufgegend. ** Augenweide, Profilbild, Brustbeutel sind ähnlich wie Turnbeutel. In beiden ist nicht das drin, was draufstehen würde, wenn nicht etwas anderes drin wäre. **

Pfandflaschen, Pinselset, Wegzehrung, Haarwasser, Grundwasser, Wundwasser, Mundwasser, Feldrand, Kammerflimmern, Lederhose, Leitfaden, Seidenvolant, Wegwerfgesellschaft, Kuchenherz, Pragmatismus, Beuteschema, Keilriemen, Drahtzieher, Bauchgefühl.

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