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Es war erst Viertel nach acht, als er ging, und deshalb hatte Hollie keine Hemmungen, um diese Uhrzeit noch bei Kathy Morrison anzurufen. Sie war zwar nicht mehr im Büro, aber eine Mitarbeiterin befand sich noch im Haus, die ebenfalls über das Objekt Garden Place Nummer acht Bescheid wußte.

»Ich versichere Ihnen, Mrs. Ganz, daß die vorherige Bewohnerin nicht in diesem Haus gestorben ist. Ich weiß auch gar nichts über ihren Tod, geschweige denn, daß sie ermordet worden sein soll. Obwohl es damals Gerüchte gab, hat die Polizei keine Anhaltspunkte dafür gefunden. Soweit uns bekannt ist, ist die Dame nach Colorado gezogen.« Sie kicherte. »Wer erzählt Ihnen denn solche Horrorgeschichten?«

»Das ist nicht wichtig. Derjenige hat auch gar nicht behauptet, daß es in dem Haus passiert sei, das habe ich mir wahrscheinlich bloß so vorgestellt. Mir ist in dem Zusammenhang nur wieder eingefallen, daß Kathy eigentlich nicht sehr begeistert über mein Interesse an dem Haus war. Also dachte ich, vielleicht steckt ja doch etwas hinter dem Gerede . . .«

»Moment mal, langsam, jetzt muß ich Sie aber wirklich unterbrechen.« Die Frau stieß erneut ein leises Kichern aus, ehe sie fortfuhr: »Kathy hat sich vielleicht deswegen so verhalten, weil sie die ganze Zeit über immer wieder sehr interessierte Käufer für das Haus hatte und trotzdem aus dem einen oder anderen Grund nie etwas aus dem Geschäft geworden ist. Und irgendwann einmal haben wir alle nur noch gelacht, wenn die Rede auf das Haus kam, und gesagt: Das ist reine Zeitverschwendung, das Objekt brauchst du gar nicht erst herzuzeigen, das ist nämlich verhext. Doch da steckte nichts Ernstes dahinter, das war nur ein typischer Scherz unter Maklern.«

Mittlerweile kam sich Hollie reichlich albern vor, und obwohl sie sich eigentlich gerne noch erkundigt hätte, wieso die Katze im Keller eingeschlossen worden war, hielt sie jetzt lieber den Mund. Sie hatte sich an dem Tag, an dem sie sie gefunden hatte, bereits selbst eine Antwort auf diese Frage gegeben, und die erschien ihr immer noch völlig logisch: Das Haus hatte seit mehr als zwei Jahren leer gestanden, und in der Zeit hatten sich bestimmt ein paar Kinder durch ein Fenster Zutritt verschafft, die Katze mit hineingenommen und sich dann irgend etwas Dummes einfallen lassen.

Die Tonight-Show war gerade zu Ende gegangen, als das Telefon läutete und Hollie schnell den Hörer abnahm, damit Allison und Jake nicht davon geweckt wurden.

»Aha, habe ich dich erwischt, du bist noch auf«, sagte die Stimme. »Was ist, kannst du nicht schlafen?«

Sie stieß einen Seufzer aus. »Was willst du, Jeremy?«

»Ich will neben dir im Bett liegen und meine Hände auf deinen prächtigen Arsch drücken und . . .«

»Gute Nacht.«

»Warte, leg nicht auf!«

Ach, Jeremy, dachte sie, laß mich doch in Ruhe. Du stehst jetzt auf eigenen Füßen wie ich auch. Also erwarte bitte nicht von mir, daß ich dir über diese Zeit auch noch hinweghelfe. Es fällt mir selbst schwer genug, damit zurechtzukommen. »Es ist schon spät«, erklärte sie schließlich. »Ich dachte, es sei etwas passiert.«

»Und wenn ich früher angerufen hätte?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Hör mal, vergiß, was ich gerade gesagt habe. Es gibt nichts Jämmerlicheres als einen wehleidigen Mann. Aber ich habe großartige Neuigkeiten, Prinzessin.«

Obwohl ihre eigenen Ambitionen nie so hochfliegend wie die von Jeremy gewesen waren, hatte sie es doch immer gerne gesehen, wenn seine grauen Augen begeistert aufleuchteten, sobald er über irgendwelche phantastischen Projekte sprach. Aber jetzt schienen die Begeisterung und die Lebhaftigkeit in seiner Stimme schal zu klingen, aufgesetzt.

»Und, willst du gar nichts wissen?«

Sie sagte erst nichts, fragte dann aber doch: »Okay, was sind das für Neuigkeiten?«

»Ich habe einen Job. Bei Travelers, als Vertreter. Bloß ein Anfang, nicht gerade das Große Los, aber warte nur ab. Ich habe nämlich nicht die Absicht, auf dieser Stufe stehenzubleiben. Warte nur, bis ich denen allen gezeigt habe, was in mir steckt.«

»Das ist toll, ich freue mich für dich.« Und das stimmte auch. Aber wie lange würde es dauern, ehe das Interesse an der neuen Arbeit nachließ und er wieder einmal zu dem Schluß kam, daß es mit dem Aufstieg doch nicht rasch genug ging?

»Das heißt auch, daß ich dir Geld schicken kann . . . Du weißt schon, als Unterhaltszahlung für die Kinder.«

»Dann freue ich mich auch für mich.«

Ihr war nicht ganz klar, ob sie es bewußt tat, doch selbst ihr fiel die Skepsis in ihrer Stimme auf. Auf jeden Fall war es vorbei mit der aufgesetzten Freude am anderen Ende der Leitung.

»Du verzeihst wohl nie, was? Du wirst mir dieses Handgemenge immer wieder unter die Nase reiben. Ich wollte dich doch nur aufhalten, damit du dableibst, um mir zuzuhören. Es war Pech, Hollie, einfach gottverdammtes Pech. Wie oft soll ich mich denn deiner Meinung nach noch . . .«

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich von der unerwarteten Schimpftirade erholt, den Hörer wieder aufgelegt und die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte. Gerade als sie den Kopf auf das Kissen legen wollte, klingelte das Telefon erneut. Sie nahm ab, ziemlich wütend diesmal.

»Verdammt, Jeremy, laß mich endlich in Ruhe!«

Schweigen.

»Jeremy?«

Weiter Schweigen.

»Wenn du das bist, dann finde ich das nicht sehr lustig.« Immer noch keine Antwort. Schließlich legte sie auf. Bei dem Anruf, der vorausgegangen war, war es nur natürlich, daß sie jetzt sofort an Jeremy dachte. Aber als sich dann doch keiner meldete . . . Sollte er tatsächlich versuchen, ihr Angst einzujagen?

Hollie stellte am nächsten Morgen gerade den Frühstückskuchen, die Haferflocken und den Saft auf den Tisch, als Allison fragte: »Wer hat denn gestern noch so spät angerufen, Mom?«

»Gibt’s keine Bananen?« krähte Jake dazwischen.

Hollie nahm eine Banane aus einer Holzschüssel auf der Küchentheke und warf sie ihrem Sohn zu. An Allison gewandt, meinte sie: »Dürfte ich vielleicht wissen, was du um diese späte Stunde noch getrieben hast?«

»Ich konnte nicht schlafen und habe einen Brief geschrieben.«

»An wen denn?«

»An Grandma und Grandpa.«

Merkwürdigerweise kamen Allison und Hollies Eltern hervorragend miteinander aus, und auch wenn sie es nie ansprachen, war Allison doch genau die Art von Tochter, die sie selbst so gerne gehabt hätten. Hollie grinste in sich hinein; es war schon seltsam, wie das Leben manchmal so spielt. Tut mir leid, Mom und Dad, auch diesmal hat euch eure Tochter wieder einen Streich gespielt.

Allison fragte noch mal: »Also, wer war es?«

Hollie schaute hoch. »Oh, das. Dein Vater.«

»Sag bloß nicht, daß er schon wieder unsere Verabredung verschieben wollte?«

»Nein, nein, er holt euch um sechs ab. Zumindest hat er nichts Gegenteiliges gesagt.«

»Was hat er dann gewollt?«

Hollie goß sich Kaffee ein und nahm ein Stück Kuchen. »Er hat einen Job gefunden.«

»Tatsächlich«, sagte Jake. »Wo?«

»Bei der Travelers-Versicherungsgesellschaft.«

»Soll das heißen, daß du ihm verzeihst, daß er unser ganzes Geld verloren hat?« fragte Jake.

»Es geht nicht darum, ob ich ihm verzeihe.«

»Um was dann?«

»Ich dachte, ich hätte das bereits erklärt. Euer Vater und ich haben aus verschiedenen Gründen, die nichts mit euch Kindern zu tun haben, beschlossen, lieber getrennte Wege zu gehen. Besser, dem Ganzen jetzt ein Ende zu setzen, als an einer Sache festzuhalten, die längst vorbei ist . . . um sich schließlich irgendwann einmal zu hassen.«

»Daddy könnte dich nie hassen.«

»Die Gefühle zwischen einem Mann und einer Frau sind etwas sehr Zerbrechliches.«

»Aber wenn er sich ändert?«

Wie sie vermied auch Jake, das Wort spielen in den Mund zu nehmen, doch man konnte die Probleme in ihrer Beziehung nicht auf diesen einen Punkt reduzieren. Da ging es um viel mehr,, um Vertrauen, Loyalität, Respekt und etliche andere Dinge, die in Ehen vorhanden sein sollten . . .

»Es ist einfach zu spät, Jake, das alles wieder rückgängig zu machen. Und du solltest verstehen, daß dein Vater jetzt nur noch sich selbst gegenüber verantwortlich ist. Er braucht es nicht, daß ich ihm verzeihe.«

»Ja, aber ich möchte wetten, daß er nichts dagegen hätte.« Sie beschloß, es dabei zu belassen. »Willst du noch etwas Milch?« fragte sie.

»Nein.« Jake schaute auf die Uhr und stand auf. »Ich komme noch zu spät, wenn ich mich nicht beeile.« Er schnappte sich seine grüne Schultasche von der Küchentheke, riß die Kühlschranktür auf, holte sein Pausenbrot heraus und stopfte es in die Tasche. Dann blickte er sich suchend um.

»Unter dem Sofa habe ich etwas gesehen, das schaute wie ein Mathebuch aus«, meinte Hollie.

Jake stürzte ins Wohnzimmer, während Allison noch wissen wollte: »Und der andere Anruf?«

»Da hat sich jemand verwählt. Na ja, vielleicht auch nicht . . . war eher so, als ob es irgendein Spinner probiert hätte. Aber einer von denen, die nichts sagen.«

Allison trank ihren Saft aus, stand auf, stellte das Glas in das Spülbecken und ging ins Badezimmer. In der Tür blieb sie kurz stehen und drehte sich noch einmal um.

»Das klingt jetzt vielleicht doof, aber . . . na ja, du meinst nicht, daß das Dylan gewesen sein könnte?«

»Nein. Er mag ja eine Nervensäge sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er so weit geht.«

Jake, der mit dem Mathebuch aus dem Wohnzimmer zurückkam, bückte sich unter Allisons Arm hindurch.

»Wieso sollte der sie überhaupt anrufen?« fragte er.

»Du sagst das so, als ob du ihn kennen würdest«, meinte Hollie.

»Nun, eigentlich nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Also, der Name von dem großen Jungen, der gestern mit Garys Bruder zusammen war . . . der war Dylan.«

Es war zwischen der zweiten und dritten Stunde, als Toby Cramer, ein mageres, sommersprossiges Mädchen, das ein As in Biologie war und das sich vom ersten Schultag an Allison gegenüber freundlich verhalten hatte, dieser bestätigte, daß Ray Anderson tatsächlich Dylans bester Freund war.

»Aber Dylan hat einen Haufen Anhänger«, fügte sie hinzu.

»Das verstehe ich nicht, er ist doch ein solcher Idiot.«

»Klar, doch er ist einfach ein scharfer Typ.«

»Klingt aus deinem Mund ja nicht sehr überzeugend.«

»Sicher, aber wir beide sind da auch in der Minderheit. Bei den meisten Mädchen kommt er sehr gut an, wenigstens bei den doofen Tussis, hinter denen er normalerweise her ist. Ich kenne eine, die ist einmal nur knapp einer Vergewaltigung entkommen, als sie mit Dylan verabredet war. Und bei seinem gräßlichen Ruf, sich so plump ranzuschmeißen, würde es mich nicht überraschen, wenn es noch andere gäbe.«

Allison machte große Augen. »Tatsächlich? Was war mit dem Mädchen, was ist mit ihr passiert?«

»Das war Joyce. Die ist letztes Jahr an die Westküste weggezogen. Sie hatte Dylan einmal zu sich nach Hause eingeladen, als ihre Eltern nicht da waren. Sie haben sich geküßt und rumgeknutscht . . . du weißt schon. Dann ist ihr die Sache irgendwie zu weit gegangen, und sie wollte aufhören, aber er nicht Sie hat geschrien und ihn getreten und so. Wie sie es erzählt hat, hat er ihr die Jeans zerrissen.«

»Ist ja schrecklich!«

»Tja . . . zum Glück kam ihr Bruder rechtzeitig heim. Er war auf dem College und wurde eigentlich erst am nächsten Tag zu Hause erwartet.«

»Ich hoffe, er hat es ihm richtig gezeigt.«

»Na ja, probiert hat er’s jedenfalls. Aber Stanley kann nicht so gut zuschlagen wie Dylan. Der hat ihm nämlich ein blaues Auge verpaßt und ihm fest den Kiefer gebrochen. Am nächsten Tag hat er seinen Freunden einen Haufen Lügen erzählt, was er und Joyce alles zusammen getrieben hätten.«

Allison schüttelte nur den Kopf. »Ist Ray auch so?«

»Vielleicht, aber ich habe nie irgendwelche Geschichten über ihn gehört Es wundert mich, daß du Dylan noch nicht mit Ray gesehen hast. Normalerweise stecken die beiden immer zusammen.«

»Sobald ich Dylan zu Gesicht bekomme, drehe ich mich um und gehe in die andere Richtung.«

»Das muß aber schwer sein, nachdem ihr beide doch so nahe beieinander wohnt.«

Allison blieb stehen und sah Toby fragend an. »Was soll das heißen, ›so nahe beieinander‹?«

»Du wohnst doch am Garden Place, oder?«

»Ja, schon. Aber was . . .«

»Kennst du den Betonklotz mit dem grünen Dach? Das Haus ist ziemlich groß und . . .«

»Ja, sicher«, warf Allison hastig und ungeduldig ein.

»Na ja, da wohnt er.«

»Du lügst.«

»Wieso sollte ich dich anlügen? Außerdem kann ich gar nicht glauben, daß du das nicht wußtest.« Toby sah sie mißtrauisch von der Seite an. »Oder willst du mich vielleicht auf den Arm nehmen, weil du ihn dir doch angeln möchtest? Und ich kann dich dann nächste Woche draußen auf dem Flur bewundern, wie du Arm in Arm mit Dylan herumläufst und seinen gräßlichen Freunden Kußhändchen zuwirfst?« Allison riß entsetzt den Mund auf. »Toll, vielen Dank. Mit anderen Worten, du hältst mich für eine Lügnerin.«

Toby seufzte und legte beschwichtigend ihre Hand auf Allisons Arm. »Tut mir leid. Du läßt Dylan ja dauernd abblitzen, ich weiß. Ich habe bisher noch von keiner anderen gehört, die das getan hätte. Dazu gehört wirklich Mut.«

»Mut? Wieso?«

»Na ja, irgendwie schon. Schau dir doch nur an, was mit Joyce und ihrem Bruder passiert ist.«

Als Jake bereits eine Viertelstunde überfällig war, ging Allison aus dem Haus und in Richtung seiner Schule. Nur zwei Blocks weiter gabelte sie ihn auf.

»Wo willst du denn hin?« fragte er, nicht gerade sehr begeistert, seine große Schwester zu sehen.

»Nirgendwohin.« Sie machte kehrt, stopfte ihre Hände in die Taschen ihrer Jeansjacke und lief neben ihm her. »Du bist spät dran. Wo warst du?«

»Ich bin noch etwas länger geblieben und habe mich für den Computerclub eingeschrieben.«

Sie nickte. »An welchem Tag findet der denn statt?«

»Das weiß ich jetzt noch nicht. Mr. Woodbury, unser Lehrer – der kennt sich wirklich toll aus –, hat gemeint, daß wir es in ein paar Tagen erfahren werden.« Er warf einen schnellen Blick in die Runde – Gott sei Dank war keiner in der Nähe –, und warnte dann seine Schwester: »Aber komm bloß nicht auf die Idee, mir noch mal hinterherzuschnüffeln.«

Sie setzte gerade zu einer Erklärung an, aber das konnte sie sich sparen. Er wußte ganz genau, weshalb sie gekommen war. Sie fragte sich ernsthaft, warum sich Jungs immer so machohaft aufführen mußten. War das ein angelerntes Verhalten, oder war es bereits irgendwo in ihrem genetischen Programm verankert? Sie würde mal ihren Biologielehrer danach fragen.

Es war vier Uhr, als das Telefon läutete und sie den Hörer abnahm.

»Wie geht’s, wie steht’s, meine Süße?« wollte die Stimme wissen.

Ihr war sofort klar, daß er es war. Vor Schreck machte ihr Herz gleich einen Satz. »Dylan?«

»Da schau an, sie hat doch meine Stimme gleich wiedererkannt. Ich mag Puppen, die schnell kapieren. Manche Typen stehen ja darauf, wenn Blonde doof und unterwürfig sind, aber zu denen gehöre ich bestimmt nicht.«

»Bist du dir da so sicher?« erwiderte sie und hoffte, daß ihre Worte spitz genug waren, um als Abfuhr aufgefaßt zu werden.

»Ja, so was, Humor hat sie also auch noch.«

Sie wollte sich aus seinem Mund nicht noch weitere Komplimente über ihren Sinn für Humor anhören. »Ich muß jetzt auflegen«, sagte sie deshalb.

»Nein, noch nicht, nicht bevor du mich nicht zu Ende angehört hast. Ich möchte dich nämlich näher kennenlernen. So einfach ist das. Wieso hast du nur solche Angst vor mir?«

»Habe ich gar nicht.«

»Und ob du Schiß hast, das höre ich doch deiner Stimme an, die wird immer ganz zittrig und atemlos, wenn du mit mir sprichst. Kann natürlich sein, daß ich die Zeichen mißdeute. Vielleicht soll das ja auch heißen, daß du mich willst.«

Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Nervös spielte sie mit der Telefonschnur und wickelte sie so fest um ihren Finger, daß es ihr das Blut abschnürte. Schnell lockerte sie sie wieder.

»Komm schon, Süße, sag es dem lieben Dylan. Reg ich dich vielleicht auf?«

Als sie endlich ihre Stimme wiederfand, antwortete sie: »Nein, im Gegenteil, du kotzt mich an. Und nenn mich nicht dauernd ›Süße‹.«

»Okay, ich hör auf damit. Siehst du, wie leicht das geht? Aber jetzt sei doch mal ehrlich, was ist es denn, das dich an mir so nervt?«

Sie holte tief Luft und sagte dann mit einer Stimme, die nicht im entferntesten so gelassen klang, wie sie eigentlich sollte: »Daß du dich für etwas ganz Besonderes hältst.«

Er lachte, dasselbe klugscheißerische Lachen wie gestern in der Cafeteria. »Jetzt mach aber mal halblang«, erwiderte er und schnappte beleidigt nach Luft. »Willst du damit sagen, daß ich es vielleicht nicht bin?«

»Ich weiß übrigens, daß du gestern abend bei uns angerufen hast.«

»Aha. Und was habe ich gesagt?«

»Und ich weiß auch, daß du Gary Anderson auf meinen Bruder gehetzt hast.«

»Hat dein Bruder dir vielleicht weisgemacht, daß ich den kleinen Gary mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen habe?«

»Werde endlich erwachsen, und laß mich in Ruhe, Dylan!« Diesmal klang ihre Stimme klar und entschlossen, so daß selbst ihm die Wut darin nicht entgehen konnte.

»Warte!«

»Was denn noch?«

»Wenn ich dir verspreche, dich eine Woche nicht mehr anzumachen, Süße . . . bist du dann ein bißchen netter zu mir? Denn dann . . .«

Allison legte rasch auf, während er noch weiterredete. Sie war froh, daß er nicht da war und sah, wie sie rot wurde. Sie ging ins Wohnzimmer hinüber, zog die Stores vor dem Panoramafenster zur Seite und schaute auf die Straße hinaus. In der Ferne sah sie sein Haus: nackter Beton, eine Eiche im Vorgarten. Ein dicker Ast reichte bis auf wenige Zentimeter an ein Fenster im ersten Stock heran. Sie fragte sich, ob dahinter wohl sein Zimmer lag.

»Wieso hast du mich nicht in der Firma angerufen?« fragte Hollie, als sie am Abend gemeinsam abspülten und Allison in groben Zügen ihre Gespräche mit Toby und Dylan wiedergab.

»Warum, was hättest du tun können?«

Hollie seufzte. »Okay. Aber wenn er wieder anruft, leg einfach auf. Ich weiß, es ist sehr verführerisch, sich mit ihm rumzustreiten, doch wenn man so einem Idioten auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkt, wird er das als Ermutigung auffassen.«

»Woher weißt du eigentlich so gut ober solche Sachen Bescheid? Ich dachte immer, du hättest nicht viel mit Jungs zu tun gehabt?«

»Hatte ich auch nicht, wenigstens nicht bis zum College. Dann bin ich allerdings nur so mit Anträgen bombardiert worden.«

»Und Daddy hat dich gerettet?«

Hollie zögerte kurz, ehe sie antwortete: »Irgendwie hat er das tatsächlich getan, glaube ich.«

Allison nickte und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.

»Ich denke, ich rufe mal Chelsea an.«

»Du hattest diese Woche doch schon dein Ferngespräch«, sagte Hollie. »Außerdem hast du am Wochenende jede Menge Zeit, dich mit ihr zu unterhalten.«

Hollie schränkte die Anrufe nach Bloomfield nur ungern ein, aber bei den Gebühren für Ferngespräche blieb ihr gar keine andere Wahl. Solange sie allein auf ihr Gehalt angewiesen waren – und wie es aussah, würde das auch noch eine Weile so bleiben –, kamen sie ohnehin kaum über die Runden. Doch bald würden die Kinder hier neue Freunde gefunden haben, und auch wenn sie deswegen nicht gleich ihre alten vergäßen, so würde das Bedürfnis nach Kontakt mit ihnen bestimmt deutlich nachlassen.

Hollie nahm die Zeitung vom Couchtisch, legte sie aber gleich wieder hin. Da Jake bestimmt eifrig mit seinem Computer beschäftigt und Allison auch schon für den Abend in ihrem Zimmer verschwunden war, sollte sie die Zeit vielleicht einmal nutzen, um hinunter in den Keller zu gehen und sich mit dem neuen IBM-Programm vertraut zu machen, das Elaine ihr kopiert hatte.

Bei der Gelegenheit könnte sie auch gleich mit einem der Artikel anfangen, die sie für die Firmenzeitung schreiben sollte, wie ihr Chef ihr ans Herz gelegt hatte. Der Termin war zwar erst nächsten Dienstag, aber bei der vielen anderen Arbeit, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelte, wäre es bestimmt kein Fehler, wenn sie bald damit anfinge. Sie ging in die Küche, öffnete die Tür zum Keller und stieg hinunter. Irgendwie fühlte sie sich dort unten immer noch etwas beklommen, aber sie war fest entschlossen, nicht an diese verdammte Katze zu denken.

Allison hatte absolut nicht die Absicht, auch nur noch ein einziges Wort mit Dylan zu wechseln. Als sie in ihrem Zimmer war, ließ sie sich quer über das Bett fallen und betrachtete zufrieden ihr neues Reich. Mom hatte ihr erlaubt, es völlig allein einzurichten – ganz in Weiß und Rosa, mit zwei schwarzen, flauschigen Teppichen als Kontrastpunkten. An die eine große weiße Wand hatte Allison ein Cheerleading Girl gezeichnet, das ein Büffelhorn in der Hand hielt. Aus diesem Horn quollen ein halbes Dutzend Sprechblasen mit allen möglichen Sprüchen, die ihr besonders gefielen und die sie sorgfältig mit bunten Markierstiften hineingeschrieben hatte. Die anderen drei Wände waren mit Wimpeln und Bildern gepflastert, alles Erinnerungen an schöne Zeiten, an ihre besten Freunde und an Bloomfield.

Da sie ihre Hausaufgaben bereits erledigt hatte, hatte sie nichts mehr zu tun. Sie rollte sich auf den Bauch, holte einen Kugelschreiber aus ihrem Schreibtisch und fing an, auf ihren Ordnern herumzukritzeln. Sie konnte ganz gut Karikaturen zeichnen, denn sie erfaßte auf den ersten Blick das Charakteristische an einem Gesicht und brachte es ironisch verzerrt und witzig zu Papier. In Bloomfield hatten ihre Ordner immer die buntesten Deckel von allen gehabt. Aber hier waren ihre Bucheinbände noch so öde und fad wie ihr ganzes neues Leben.

Am Samstag sollte Chelsea zu Besuch kommen – die Erlaubnis dazu hatte sie bereits vor über einer Woche erhalten. Bis dahin waren zwar nur noch zwei Tage, aber das Wochenende schien unendlich weit weg zu sein. Es war schon schlimm genug, daß Allison ihre Freundinnen nicht mehr sehen konnte, aber was das Ganze fast unerträglich machte, war die Tatsache, daß sie auch nicht mehr so einfach zum Telefonhörer greifen konnte, um sie anzurufen. Als sie erfahren hatte, daß sie umziehen würden, hatte sie, so gut sie konnte, ihre Gefühle vor Mom verheimlicht. Die hatte schon genügend Probleme mit Daddy, und dann mußte sie auch noch das Haus verkaufen und das alles. Da war es nicht nötig, ihr die Sache noch schwerer zu machen. Aber im Moment war Allison diejenige, die litt, also dachte vielleicht mal jemand auch an sie?

Sie haßte Union, sie haßte die neue Schule, und sie haßte dieses Viertel mit diesem merkwürdigen Roger und seiner Schwester, die von der anderen Straßenseite her immer durch ihr Wohnzimmerfenster glotzten. Und sie vermißte Daddy, obwohl sie eigentlich nie wußte, was sie mit ihm reden sollte, wenn sie ihn mal sah. Und dann Dylan. Er hatte sie zwar nicht angefaßt, und sie konnte sich eigentlich auch nicht vorstellen, daß er es probieren würde. Außerdem hatte sie nicht die Absicht, ihm jemals nahe genug zu kommen und ihm Gelegenheit dazu zu geben. Aber in einem Punkt hatte er recht – im Gegensatz zu den anderen Jungs, mit denen sie zusammen aufgewachsen war, machte er sie nervös.

Schließlich streckte sie doch die Hand aus, nahm das Telefon vom Schreibtisch und stellte es auf ihr Bett. Soweit Allison wußte, hatte Mom bisher immer alle Telefonrechnungen gezahlt, ohne sich jedes einzelne Gespräch anzusehen. Weshalb sollte sich daran jetzt etwas ändern? Eigentlich konnte sie gar nicht glauben, daß sie es tatsächlich tat. Normalerweise hatte Allison immer irgendwelche Bedenken, das hätten sogar ihre engsten Freunde bestätigt. Aber jetzt schob sie alle ihre Bedenken beiseite und begann Chelseas Nummer zu wählen.

Ein perfektes Opfer

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