Читать книгу Ein perfektes Opfer - Gloria Murphy - Страница 7
4
ОглавлениеAuf ihrem Weg den Staatsforst entlang kamen sie an einem Schild vorbei, und Jake fragte: »Was ist das eigentlich, ein staatlicher Forst, Mom?«
»Eine Art Naturschutzgebiet. Das heißt, es ist Land, das dem Staat gehört und um das er sich kümmert. Es darf an keine Privatperson verkauft und auch nicht bebaut werden.«
Jake beugte sich nach vorn. »Du meinst, so zum Schutz der Umwelt?«
Sie nickte. »Und um den Tieren einen Raum zum Leben zu sichern.«
»Gibt es da auch Bären?«
»Ich wußte doch, daß er das fragen würde«, stöhnte Allison und rollte mit den Augen.
»Und, sind da welche?« Jake ließ nicht locker.
»Schwarzbären, nehme ich an.«
»Können wir uns die anschauen?«
»Frag mich das im Frühjahr noch mal«, antwortete Hollie und fügte dann mit einem schnellen Blick nach hinten hinzu: »Trägst du eigentlich deine Uhr?«
Er hielt sein rechtes Handgelenk in die Höhe und zeigte stolz seine psychedelisch grüne Swatch-Uhr.
»Gut. Wenn wir in Bloomfield sind, hast du nämlich bis Mittag Zeit, die Runde bei deinen Freunden zu machen, dann treffen wir uns in unserer alten Siedlung wieder.« An Allison gewandt, meinte sie: »Das gilt auch für dich und Chelsea. Auf dem Rückweg halten wir irgendwo zum Einkaufen an.«
In der Zwischenzeit erledigte Hollie ihre eigenen Besuche. Sie schaute bei drei früheren Nachbarn vorbei, und als sie sich mit den Kindern gegen Mittag am verabredeten Ort traf, hatte sie bereits eine Überdosis Koffein intus. Die ganze Zeit, die sie in ihrem alten Viertel verbracht hatte, hatte sie nicht einen Blick auf das Haus geworfen, das früher ihr Heim gewesen war, und sie hatte auch keine Fragen über die Leute gestellt, die es gekauft hatten und nun Teil der Gemeinschaft waren.
Als sie wieder zurück in Union waren, hielt sie kurz am Fieldstone-Einkaufszentrum, um den wöchentlichen Einkauf zu erledigen, nur daß sie diesmal doppelt so viele Riegel und andere Süßigkeiten besorgte. Jake leistete ihr Gesellschaft, während Allison und Chelsea in den Boutiquen herumstöberten. Es war schon zwei, als sie nach Hause kamen, und es wurde fest vier Uhr, bis Hollie die Lebensmittel aufgeräumt und Mittagessen für die Kinder zubereitet hatte. Dann erst konnte sie nach draußen, um noch etwas im Garten zu arbeiten.
Hollie überlegte, ob die normale Müllabfuhr wohl auch Laub und abgeschnittene Äste mitnahm. Als sie sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie eine Gestalt hinter dem Fenster der Spears hastig zurückwich. Roger? Na ja, sie würde die Gartenabfälle einfach mal rausstellen. Wenn das falsch war, würde Roger sie bestimmt auf ihren Irrtum aufmerksam machen.
Sie hatte gehofft, daß in dem Schuppen auch eine Heckenschere und ein Rechen wären, aber sie hatte kein Glück. Also hob sie die Bodenklappe zum Keller und ging hinunter. Jetzt, da er halbwegs aufgeräumt war, genügte ein einziger Blick, und schon hatte sie neben dem Heißwasserbereiter ganz hinten an der Wand eine Heckenschere und eine Harke entdeckt. Ehe sie wieder nach draußen zurückkehrte, ging sie noch kurz in ihr Arbeitszimmer. Am Abend zuvor, als die Kinder mit Jeremy unterwegs gewesen waren, hätte sie den Artikel für die Firmenzeitschrift fertiggeschrieben. Jetzt mußte sie nur noch ein paar Kleinigkeiten ändern, was hoffentlich bis morgen erledigt wäre.
Aber als sie nun einen kurzen Blick auf den Schreibtisch warf, konnte sie den Artikel nirgendwo sehen. Sie ging näher ran, fest überzeugt, die ausgedruckte Kopie gleich obenauf liegengelassen zu haben. Alles war ordentlich aufgeräumt, da war nichts, worunter sie hätte nachschauen können. Schließlich legte Hollie die Gartengeräte auf den Boden, stürmte halb die Treppe hinauf und rief: »War eines von euch Kindern in meinem Arbeitsraum?«
Erst Schweigen, dann zweimal ein deutliches »Nein« – das eine kam aus der Küche, das andere aus Allisons Zimmer. »Habt ihr vielleicht meinen Artikel gesehen – zwei Seiten bedrucktes Papier?«
Wieder wurde ihre Frage verneint. Jake tauchte schließlich oben auf der Treppe auf, an einem Sandwich mit Erdnußbutter und Marmelade kauend.
»Wie hieß der Artikel?« fragte er.
»Stern-Adler rührt die Werbetrommel für die Gratisausgabe von Medikamenten an Waisenkinder. Wieso, hast du ihn vielleicht gesehen?«
Er biß ein Stück von seinem Sandwich ab und schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollt’s nur wissen.«
Hollie kehrte in den Keller zurück. Hatte sie den Artikel vielleicht irgendwo anders hingelegt und konnte sich nur nicht mehr daran erinnern? Sie begab sich zu ihrem Computer, startete das Programm und ging in die für Stern-Adler neu angelegte Datei. Erleichtert seufzte sie auf, als der Artikel erschien. Was hatte sie denn erwartet, daß der auch weg wäre? Schließlich schaltete sie den Drucker an und ließ eine zweite Kopie heraus. Diesmal würde sie den Artikel in die oberste . . .
Kaum hatte sie die oberste Schublade aufgezogen, sah sie den Artikel – zwei sauber zusammengeheftete Seiten, die oben auf einem gelb linierten Block lagen. Als sie sich draußen im Garten wieder an die Arbeit machte, fiel es ihr sehr schwer, diesen albernen Vorfall aus dem Kopf zu bekommen. Sie konnte sich noch sosehr das Gehirn zermartern und sich zu erinnern versuchen, wann sie die Kopie in die Schublade gelegt hatte, es gelang ihr einfach nicht.
Da sie sich bei dem Gedanken immer noch nicht wohl fühlte, die Kinder am Abend allein zu lassen, war Hollie fast soweit, die Verabredung zum Essen wieder abzusagen, aber als sie dies den beiden Mädchen gegenüber erwähnte, wollten die zwei nichts davon hören. Chelsea, ein dunkelhaariger, koboldhafter Teenager, der immer schnell mit seiner Meinung bei der Hand war, erklärte beleidigt: »Aber wir brauchen doch keinen Babysitter, Mrs. Ganz.«
Hollie warf Allison einen fragenden Blick zu, die zustimmend nickte. »Okay, aber ihr versprecht mir, daß ihr niemanden ins Haus laßt. Ich werde euch die Telefonnummern aufschreiben, unter denen ihr mich erreichen könnt. Falls irgend etwas passiert, ruft bitte sofort an.«
Hollie trug eine kurzärmlige weiße Bluse, einen schwarzweiß karierten Baumwollblazer und einen schwarzen Rock, als sie gegen halb sieben das Haus verließ. Und um acht waren sie und Elaine bereits völlig in ihr Abendessen vertieft, das aus gebratenem Reis, Huhn, Garnelen in Gemüse und Eierrollen bestand. Die Tische in dem dezent beleuchteten Restaurant, dessen Wände mit grün bedruckter Seide bespannt waren, waren mit reichlich Abstand plaziert und zusätzlich noch durch Bambusstangen und Flechtwerk voneinander getrennt.
»Ich hasse dieses chinesische Essen«, meinte Hollie. »Man kann richtig süchtig danach werden.«
Elaine versetzte scherzhaft Hollies Hand einen Klaps, die gerade für Nachschub auf ihrem Teller sorgen wollte. »Dann iß nichts mehr, und du brauchst auch nicht mehr zu jammern.«
»Halt dich raus aus meinem Teller«, erwiderte Hollie lachend, während sie noch eine Garnele auf die Gabel spießte. »Du weißt doch genau, daß ich das nur gesagt habe, um mein Gewissen zu beruhigen.« Ein paar Sekunden später meinte sie: »Vielleicht sollte ich die Kinder mal anrufen.«
»Die wissen doch, wo du bist. Ach übrigens, Mike hat heute mit Jeremy gesprochen. Er ist ihm auf der Post über den Weg gelaufen.«
»So?«
»Hast du schon mal von den Anonymen Spielern gehört?«
»Ob ich schon mal was von ihnen gehört habe? Als ich noch mit Jeremy zusammenlebte, hatte ich eine eigene Schublade nur für ihre Broschüren.«
»Also, er geht seit neuestem regelmäßig dorthin. Es gibt offensichtlich eine Ortsgruppe in New Britain, die sich jeden Abend trifft. So oft wird er wahrscheinlich nicht hingehen, aber ich denke doch . . .«
»Mag schon sein«, unterbrach Hollie sie. »Wirklich, das ist ja alles schön und gut, und ich bin auch echt froh, daß er etwas gegen seine Spielerei unternimmt Aber ich glaube nicht, daß das sein einziges Problem ist« Bis jetzt war sie nicht fähig gewesen, irgend jemandem von den wenigen Malen zu erzählen, bei denen er gewalttätig geworden war, nicht einmal ihrer besten Freundin. Es war schon merkwürdig, vom Kopf her war ihr klar, daß sie keine Verantwortung für sein Verhalten trug, aber trotzdem schämte sie sich. Außerdem, was sollte es jetzt noch nützen, es jemandem zu erzählen, nun, da sie das alles hinter sich hatte?
»Was hat er denn sonst noch für Probleme?«
Hollie schüttelte den Kopf und hoffte, daß sie nicht bereits zuviel gesagt hatte. »Ach, manchmal benimmt er sich eben wie ein richtiges Kind, das ist alles. Er läßt sich immer nur von seinen Gefühlen und nie von seinem Kopf leiten.« Elaine tat sich noch etwas von der Entensauce auf den Teller. »Wie viele andere Männer auch, die ich kenne.«
Hollie zuckte mit den Schultern und wünschte, sie würden das Thema wechseln. »Es betrifft mich jedenfalls nicht mehr.«
»Er ist aber immer noch dein Mann.«
»Einzig dem Buchstaben des Gesetzes nach, meine Liebe. Die Scheidung wird im Sommer rechtskräftig sein.« Hollie nahm ihre Serviette vom Schoß, säuberte sich die Hände und kramte in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld zum Telefonieren. Dabei holte sie auch einen einzelnen Schlüssel heraus und schob ihn Elaine über den Tisch zu. »Hier, bevor ich es vergesse.«
»Was soll ich damit?«
»Das ist ein Hausschlüssel von mir, den ich übrig habe. Dem Menschen, der einem am nächsten steht und am liebsten ist, dem sollte man doch einen geben.«
»Ich dachte immer, das sei der nächste Nachbar, nicht deine Freundin.«
Hollie meinte achselzuckend: »Ach, das gilt doch beides.« Sie stand auf und spielte mit dem Kleingeld in ihrer Hand. »Ich rufe mal schnell bei den Kindern an. Wenn ich wieder zurückkomme, reden wir in aller Ruhe und Ausführlichkeit über Mode, Politik, Arbeit, wenn du willst, auch über mein erschreckend nachlassendes Gedächtnis – such dir was aus. Aber bitte nicht über Jeremy.«
»Was hat Mom denn gewollt?« fragte Jake, nachdem Allison aufgelegt hatte.
»Nichts, kümmere dich wieder um deine Angelegenheiten«, antwortete sie, während sie etwas Klebstoff auf einen der abgebissenen Fingernägel von Chelsea tropfen ließ und anschließend vorsichtig den bereits in Form gefeilten falschen Nagel aufdrückte. »Du weißt genau, daß du dir das sparen kannst, wenn du dir die Nägel nur wachsen läßt.«
»Ich habe es ja versucht, aber ich schaffe es nicht Meistens merke ich gar nicht, daß ich darauf herumbeiße. Es ist kaum zu glauben, aber ich tue es sogar im Schlaf. Gracie sagt, daß es da so ein scheußlich schmeckendes Zeug gibt, das man auf den Nagel streicht. Wenn man dann zu beißen anfängt...«
Allison verzog das Gesicht. »Igitt. Ich verstehe. Das klingt ja schrecklich.«
»Na ja, entweder – oder.« Jake, dem ein Büschel Haare widerborstig vom Kopf stand und der ihnen immer noch neugierig zuhörte, wurde angefahren: »Hau ab, du Zwerg.«
»Mir ist aber langweilig. Ich will mich unterhalten.«
»Dann geh und unterhalte dich mit deinem Hamster.«
»Er mag aber nicht spielen«, entgegnete Jake, trottete ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und schaute hinaus. »He, da ist Roger und geht spazieren.«
»Wer ist das?« fragte Chelsea.
»Der interessiert dich bestimmt nicht«, antwortete Allison. »Ein ganz merkwürdiger Typ, zufälligerweise unser Nachbar.«
Jetzt sah Jake seine Chance gekommen, auch endlich etwas zur Unterhaltung beizutragen. »Er beobachtet uns immer von seinem Fenster aus«, sagte er aufgeregt. »Und er geht nur nachts aus dem Haus. Wie ein Vampir.«
Diesmal warf ihm Allison einen vernichtenden Blick zu. »Jetzt komm schon, Jake, hau ab.«
Er ließ den Vorhang fallen, schob seine rutschende Brille wieder hoch und schlenderte zur Tür. »Ich habe Hunger.«
»In der Küche sind noch Maischips auf dem obersten Regal. Mach zwei Schüsseln damit voll – eine für uns. Und bring eine Flasche Cola mit.«
Beide Mädchen trugen ihre verwaschensten Madonna-T- Shirts, die so groß und ausgebeult waren, daß sie sie auch als Nachthemden benutzten. Kaum war Jake draußen, fragte Chelsea: »Er geht nur nachts raus?«
Allison nickte und wedelte mit der Hand. »Ich glaube, er ist allergisch gegen die Sonne.«
»Aha«, meinte Chelsea zufrieden. »Okay, dann erzähl mir was über diesen Dylan.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Er ist ein totaler Blödmann.«
»Aber süß.«
Schweigen.
»Allison, du hast selbst gesagt, daß er süß ist.«
»Okay, irgendwo schon«, gestand Allison und bemühte sich, Chelseas Hand ruhig zu halten. »Jedenfalls scheinen das alle anderen zu finden.«
Chelsea kniff ihre dunklen Augen zusammen und versuchte Allison ins Gesicht zu sehen, aber die konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit. »Bist du wirklich ganz sicher, daß du ihn nicht magst?«
Allison richtete sich kerzengerade auf und warf dabei ihre Nagelfeile auf den Boden. »Natürlich bin ich mir sicher.«
»Beruhige dich wieder, war ja nur eine Frage.«
Jake kam mit dem Imbiß aus der Küche zurück, und das Thema wurde gewechselt.
Es war so gegen zehn, die beiden Mädchen saßen gerade mit gekreuzten Beinen auf Allisons Bett und unterhielten sich bei laut plärrender Musik, als Jake ins Zimmer gestürmt kam. Zwischen den beiden lag ein Stapel Fotos. »Du kannst wohl nicht anklopfen«, fuhr Allison ihn ein,
»Tut mir leid. Habt ihr das Geräusch gehört?«
Allison streckte die Hand aus, drehte die Lautstärke leiser und lauschte. Dann schüttelte sie den Kopf und sah Chelsea fragend an, die ebenfalls den Kopf schüttelte. Schließlich stand sie doch auf, ging zum Fenster und schaute vorn und über der Auffahrt hinaus. Kein Wagen, nichts.
»Ich habe aber was gehört, ganz bestimmt«, beharrte Jake und stampfte zur Bekräftigung seiner Worte durchs Zimmer.
»Woher kam das Geräusch denn?«
»Von vorn, von hinten . . . von überall her.«
Die Mädchen liefen mit ihm durch sämtliche Zimmer, und die drei landeten schließlich in der Küche und vor der Hintertür.
»Wartet! Horcht mal!« sagte Jake in dem Moment. Es klopfte tatsächlich an der Tür. Daraufhin ertönte ein dumpfes Geräusch draußen auf der Veranda.
»Das hört sich an, als wäre eine Eichel heruntergefallen«, meinte Chelsea, eilte zur Tür und öffnete sie. Barfuß trat sie in die kühle Luft hinaus und bückte sich. Auf dem Treppenabsatz lag tatsächlich eine Eichel, die sie Allison unter die Nase hielt.
Allison warf einen kurzen Blick darauf, spähte dann aber prüfend hinaus in die Dunkelheit und stieß die Fliegengittertür auf.
»Chelsea, komm schnell wieder rein.«
»Warte ’ne Sekunde, da ist noch eine . . .« Und genau in dem Moment tauchten ungefähr ein Dutzend Jungen und Mädchen mit weißen Papiertüten und Sechserpacks mit Bier auf – aus dem Nichts, wie es schien. Sie schoben erst Chelsea, dann Allison beiseite. Dylan war der letzte, der ins Haus trat.
»Hallo, meine Süße«, sagte er und baute sich vor Allison auf.
Diese starrte ihn ungläubig an und konnte einfach nicht fassen, was da um sie herum geschah, während sie und Chelsea wie zwei Idiotinnen dastanden und noch dazu fast gar nichts anhatten. »Raus mit dir, und zwar augenblicklich!« fauchte sie ihn an. »Und nimm deine schönen Freunde mit!«
Neben ihr erschien ein Junge mit einem ganz kurzen Haarschnitt und musterte sie anzüglich von oben bis unten. »Nicht übel. He, Dylan, weißt du noch, die Blonde, die einmal hier gewohnt hat, der Babysitter?«
Dylan nickte grinsend. »Wie könnte ich die vergessen.«
»Heilige Scheiße, kannst du dich noch erinnern, wie die immer rumgelaufen ist, mit ihren rückenfreien Oberteilen und den knappen Shorts? Und wie sie sich immer in ihrem Bikini gesonnt hat? Was ist aus der eigentlich geworden?«
»Ich habe gehört, daß sie eines Tages auf und davon ist . . . einfach so verschwunden. Seither hat sie keiner mehr gesehen.« Er warf Allison einen schrägen Blick zu und schüttelte in gespielter Besorgnis den Kopf. »Was hübschen Blondinen manchmal so alles zustößt.«
Was sollte das heißen? Wollte er ihr damit drohen? »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, und es ist mir auch egal«, stieß sie aus und verschränkte entschlossen die Arme vor der Brust. »Ich will, daß du von hier verschwindest, Dylan.«
»Lassen wir die Party doch endlich steigen!« rief eines der Mädchen dazwischen. Irgend jemand schob den großen runden Couchtisch zur Seite und stellte die Pappkartons voller Hähnchen, Pommes frites und Bier darauf.
»Wir brauchen noch Eis«, sagte ein anderer. »Und einen Eimer oder so was.«
Plötzlich taten alle so, als ob sie hier zu Hause wären. Sie zogen ihre Schuhe und Jacken aus, lümmelten sich auf Couch und Sesseln, zündeten sich Zigaretten an, wühlten in den Schubläden und Schränken und verbrauchten sämtliche Eiswürfel aus dem Tiefkühlfach. Überall war laute Musik, alle lachten und unterhielten sich.
Die Polizei, Notruf 911 . . . Allison griff nach dem Telefonhörer, aber als Dylan plötzlich neben ihr auftauchte, zitterten ihre Finger so stark, daß er ihr ohne jede Gegenwehr den Hörer aus der Hand nehmen und wieder auf die Gabel legen konnte. Und um sie noch mehr zu reizen, klopfte er Jake auf die Schulter und sagte: »He, Kleiner, komm doch her und leiste uns bei unserer Party Gesellschaft.«
Allison schob Dylans Hand von seiner Schulter und zog Jake an sich. »Faß ihn nicht an!« fauchte sie und beugte sich zu ihrem Bruder nieder. Sie flüsterte Jake etwas ins Ohr und schob ihn dann hinter ihren Rücken.
Dylan hob beide Hände, als wollte er sagen: Ich bin doch völlig harmlos.
»He, jetzt schlag mich mal nicht gleich. Ich bin nur ein freundlicher Kerl, der dir etwas Gutes antun will. Heute ist schließlich Samstag abend, du bist neu in der Stadt, warum sollen wir da nicht eine kleine Willkommensparty für dich schmeißen? Aber jetzt weiß ich wirklich nicht so recht . . . Was ist eigentlich mit deiner Schulfreundin aus Bloomfield?« Er warf Chelsea einen fragenden Blick zu. »Bist du auch so ein kalter Fisch?«
»Ihre Mutter wird dich umbringen«, gab Chelsea zur Antwort.
»Tatsächlich?« Dylan hob eine Dose Budweiser an den Mund, nahm einen kräftigen Schluck und meinte dann mit einem arroganten Grinsen: »Ich habe ihre Mutter schon gesehen – gar nicht so übel für ihr Alter. Sie schaute eigentlich nicht böse und verbiestert aus, aber was weiß man schon, habe ich recht?«
Dylan bekam überhaupt nicht mit, daß Jake sich zur Tür hinausschlich, und die anderen achteten erst recht nicht auf ihn. Kaum war er aus dem Haus, rannte er in den vorderen Teil des Gartens. »Woody, gleich gegenüber in dem Haus mit den Säulen«, hatte seine Schwester ihm gesagt. Erst als er vor der Eingangstür stand, verlangsamte er seinen Schritt. Nur im Erdgeschoß brannte schwaches Licht, oben war alles dunkel.
Er konnte die Klingel nicht finden und griff deshalb nach dem Türklopfer aus Messing. Knappe dreißig Sekunden später hörte er Schritte, die sich der Tür näherten, welche gleich darauf aufging.
Als Hollie, bemerkenswert guter Laune und bestens erholt, zwei Stunden später das Haus betrat, kam Chelsea gerade aus dem Badezimmer, und Allison befand sich auf allen vieren im Wohnzimmer, wo sie an einem Stück Teppich herumschrubbte.
»Na, Mädchen, was habt ihr denn ausgeschüttet?« fragte sie, als sie ihre Handtasche auf den Couchtisch stellte. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Allison, wo ist dein Bruder?«
Schweigen.
»Allison.«
»Er ist mit Woody in seinem Zimmer«, antwortete Chelsea.
»Er und Woody?« Hollie setzte sich gerade in Richtung Jakes Zimmer in Bewegung, als dieser herauskam; der junge Mann von gegenüber stand hinter ihm.
»Hallo, Mom«, begrüßte Jake sie.
Hollie warf einen fragenden Blick auf Allison, die noch immer auf dem Boden kniete und schrubbte. »Würdest du bitte damit aufhören, Allison!«
Allison schaute sie an, als ob sie nicht ganz bei sich wäre.
»Was ist hier eigentlich los?«
»Vielleicht sollte ich . . .« begann Woody und trat einen Schritt vor.
»Nein, mir wäre lieber, sie würde es mir erklären.«
Ihr Tonfall war ziemlich scharf, so daß Woody schnell einen Rückzieher machte.
»Sei doch nicht böse auf ihn«, meinte Jake. »Er hat doch überhaupt nichts getan.«
»Jake, bitte!« Hollie wollte auf der Stelle eine Antwort hören, und zwar von ihrer Tochter. Wieso bekam sie sie nicht? Sie ging zu Allison, beugte sich über sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Einer von ihnen hat ein Stück Hähnchen auf den Boden fallen lassen«, sagte Allison endlich. »Und dann ist ein anderer reingetreten und hat es nicht weggeputzt. Kannst du dir vorstellen, was das für Schweine sind?«
»Von wem redest du, bitte schön?«
Jetzt meldete Chelsea sich zu Wort. »Von Dylan. Und von seinen aufdringlichen Freunden. Sie waren ungefähr zu zehnt, vielleicht auch mehr. Sie wollten irgendwo eine Party feiern und kamen auf die Schnapsidee, es ausgerechnet hier zu tun. Dabei war es ihnen natürlich völlig egal, daß sie weder eingeladen noch erwünscht waren. Sie haben sich sogar was zu essen und zu trinken mitgebracht.«
»Wie sind sie überhaupt hier reingekommen?« Keine Antwort, also wiederholte sie die Frage etwas lauter.
»Wir hörten draußen auf der hinteren Veranda ein Geräusch, eine Eichel war auf die Bretter gefallen.«
»Es war alles meine Schuld, Mrs. Ganz«, mischte Chelsea sich ein. »Ich war es, die die Tür aufgemacht hat. Wir hatten ja keine Ahnung, daß sie draußen waren, erst als sie alle ins Haus stürmten.«
»Ich wollte noch telefonieren«, fuhr Allison jetzt fort. »Aber er . . . Dylan hat mir den Hörer aus der Hand gerissen. Also habe ich Jake zu Woody rübergeschickt.«
»Woody ist der Lehrer in meinem Computerclub«, fügte Jake erklärend hinzu.
Hollie seufzte, nickte begreifend und wandte sich dann an den jungen Mann mit den hellbraunen Augen, der immer noch wartend dastand. »Ich wollte nicht unhöflich sein, Woody, es ist nur so, daß . . .«
Er trat erneut einen Schritt vor und streckte ihr diesmal die Hand entgegen – breite, kräftige Finger mit sauberen, kurzen Nägeln. Sie ergriff seine Hand, die sich kühl anfühlte. »Ich verstehe schon«, erwiderte er. »Sie fragen sich, was dieser Kerl immer noch in Ihrem Haus zu suchen hat, richtig? Das ist schon in Ordnung, im Ernst. Sie heißen Hollie, nicht wahr?«
Er hatte eine nette Stimme, tief und beruhigend. »Es sieht so aus, als stünde ich gleich doppelt in Ihrer Schuld, Woody«, sagte sie. »Allison hat mir nämlich erzählt, wie Sie ihr auch gestern schon geholfen haben.«
Er zuckte mit den Schultern und meinte: »Das war doch keine große Sache.«
»Oh, für uns schon.« Dann wandte sie sich an Allison, die immer noch den nassen Teppich in der Hand hielt. »Warum gehst du nicht ins Bett, Schätzchen? Wir können ja morgen über die Sache reden.«
»Aber ich möchte . . .«
Hollie umfaßte Allisons schmale Schultern und zog sie hoch. »Das hast du sauber genug geputzt. Wirklich.«
Als Allisons Kopf auf die Schulter ihrer Mutter sank, flossen endlich die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte. Aber sie ballte die Hände zu Fäusten und wischte sie energisch aus dem Gesicht. »Ich war so wütend, Mommy, aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die belegten das Haus mit Beschlag, als ob es ihnen gehörte. Ich wollte mich ja gegen ihn wehren, doch ich fühlte mich so hilflos.«
Es dauerte noch fast eine Viertelstunde, bis die Kinder sich endlich beruhigt hatten, aber Hollie war überzeugt, daß die Mädchen noch endlos lange miteinander im Bett tuscheln und flüstern würden. Sie fragte Woody, ob es ihm etwas ausmache, kurz zu warten, was offensichtlich nicht der Fall war, denn als sie etwas später wieder ins Wohnzimmer zurückkam, saß er entspannt im Lehnstuhl, die Ellbogen auf den Armlehnen abgestützt. Als sie ihn da so sitzen sah, fühlte sie sich plötzlich schrecklich müde. Sie zog ihren Blazer aus und warf ihn aufs Sofa.
»Vielen Dank, daß Sie noch geblieben sind, Woody«, sagte sie. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, etwas Kaltes vielleicht?«
Er schüttelte den Kopf, und dabei fiel ihm wohl die langsam verblassende Prellung an ihrem Oberarm auf. Als er merkte, daß ihr das peinlich war, wandte er schnell den Blick ab. »Nein danke, ich bin wunschlos glücklich«, antwortete er. »Aber was ist mit Ihnen?«
Sie stieß ein dünnes Lachen aus und ließ sich ihm gegenüber aufs Sofa sinken. »Ich fürchte, mir geht es nicht ganz so gut. Ich habe eine Stinkwut auf diesen Kerl – so eine Unverfrorenheit Jetzt sind meine Kinder nicht einmal mehr in ihrem eigenen Haus sicher. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was wohl passiert wäre, wenn Sie nicht herübergekommen wären.«
Er schaute einen Moment auf den Teppich und blickte sie dann an. »Um die Wahrheit zu sagen, so viel habe ich auch wieder nicht getan. Sobald der Haufen mich vorn auf das Haus zukommen sah, haben sich alle schnurstracks nach hinten hinaus verzogen. Dabei haben sie aber eine unglaubliche Schweinerei hinterlassen. Allison und ihre Freundin hatten alle Hände voll zu tun, das wieder aufzuräumen. Doch es war den beiden Mädchen deutlich anzusehen, daß sie ziemlich aus dem Häuschen waren, selbst nachdem alles wieder in Ordnung war. Also habe ich beschlossen, noch etwas zu bleiben und auf Sie zu warten. Ich wollte Ihnen damit aber keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Bitte, Sie müssen sich doch nicht dafür entschuldigen«, sagte sie.
»Okay, dann lassen wir das für heute.« Er lächelte, machte eine entsprechende Geste, und Hollie dachte: Wie selbstsicher dieser junge Mann für sein Alter doch ist. »Wie ging diese Geschichte eigentlich los?« fragte er.
Hollie zuckte mit den Schultern. »Wie es scheint, wollte Dylan sich mit Allison verabreden, aber sie wies ihn ab. Und seitdem wird sie ununterbrochen von ihm belästigt.«
»Der Junge kann einem aber auch wirklich auf die Nerven gehen.«
Seine Bemerkung weckte wieder alle Lebensgeister in ihr. »Dann kennen Sie ihn näher?«
»Nun ja, er ist hier in der Nachbarschaft aufgewachsen, so wie ich auch«, antwortete er. »Ich bin nur ein paar Jahre älter als er.«
»Wie viele denn?«
»Vier, fünf Jahre. Ich schätze ihn auf siebzehn. Ich bin zweiundzwanzig.«
»Tatsächlich? Sie machen einen älteren Eindruck.«
Er stieß ein amüsiertes Lachen aus und drohte scherzhaft mit dem Finger. »Das sagen Sie jetzt, aber warten Sie nur, bis Sie mich näher kennenlernen.«
Sie betrachtete ihn nachdenklich. Er ist nett, dachte sie. Und wenn man ihn vielleicht auch nicht gerade als gutaussehend bezeichnen konnte, so lag doch etwas sehr Anziehendes in seinem offenen, intelligenten Gesicht. »Leben Sie bei Ihren Eltern?«
»Bei meiner Mutter. Sie ist leider ans Haus gefesselt — Polyarthritis.«
Hollies Lächeln verschwand. »Eine Großtante von mir war auch daran erkrankt. Das ist wirklich eine schlimme Sache.«
»Nun, meine Mutter hat sehr abgebaut, seit mein Vater gestorben ist Das ist jetzt ungefähr sechs Jahre her. Wegen der Krankheit mußte sie auch ihre Karriere aufgeben, und ihre Karriere und mein Vater waren so ziemlich ihr ganzer Lebensinhalt.«
»Ich bin sicher, das war nicht alles . . .« setzte sie an.
»Sagt Ihnen der Name Eleanor Egan Woods etwas?«
»Die Pianistin?«
Seine Augen funkelten vor Stolz. »Genau die«, erwiderte er. »Woods ist ihr Künstlername.«
Eleanor Egan Woods war zwar nicht im ganzen Land bekannt, konnte aber durchaus als lokale Berühmtheit bezeichnet werden, die in fast allen Konzertsälen der Ostküste aufgetreten war.
»Aber natürlich«, meinte Hollie. »Sie war wunderbar und so schön. Ich habe sie einmal vor Jahren im Bushneil Auditorium in Hartford gehört. Vielleicht kann ich sie ja mal besuchen und ihr sagen, wie sehr ich ihre Musik genossen habe.«
»Ich hätte bestimmt nichts dagegen, aber ich fürchte, sie wird nicht einverstanden sein. Sie geht überhaupt nicht mehr aus dem Haus und empfängt auch keine Besucher. Es ist schon schwierig genug für mich, sie dazu zu überreden, wenigstens zweimal im Monat eine Putzfrau reinzulassen.«
»Ich verstehe«, erwiderte sie langsam, auch wenn sie es sich eigentlich nicht vorstellen konnte.
Das stolze Funkeln in seinen Augen war mittlerweile erloschen – Schmerz war an seine Stelle getreten. »Vielleicht ist es pure Eitelkeit«, sagte er. »Sie ist nämlich etwas verkrüppelt, vor allem an den Händen. Oder vielleicht ist es auch nur Ausdruck des Zorns einer alten Frau auf die ganze Welt, weil ihr Talent und ihre Schönheit dahin sind. Ich weiß nicht genau, was der Grund ist, aber ich füge mich ihren Wünschen.«
Auf Hollies Bitte hin erzählte Woody ihr noch mehr über Dylan. Soweit er wußte, hatte Dylan keine Vorstrafen. Das kann aber noch kommen, dachte Hollie. Doch harmlos sei er in den letzten Jahren nie gewesen.
Woodys Beschreibung von Dylan wurde bald durch ein Piepsen unterbrochen, das aus der Tasche seiner Jeansjacke drang. Er zog das Gerät heraus, schaute auf die Nummer und bat darum, das Telefon benützen zu dürfen, um kurz zu Hause anzurufen. Er ließ es lange läuten, aber offensichtlich meldete seine Mutter sich nicht. Und so ging er gleich darauf.
Hollie sah ihm nach, wie er über die Straße lief. Eleanor Woods – ihre Nachbarin. Wie schrecklich, wenn das eigene Talent durch eine so grausame Krankheit zerstört wird. Aber bald kehrten Hollies Gedanken wieder zu dem zurück, was an diesem Abend in ihrem Haus geschehen war.
Obwohl sie die Sache mit Allison erst am nächsten Morgen besprechen wollte, beschloß sie noch an diesem Abend, daß es an der Zeit war, mit Dylans Eltern über dessen Verhalten zu sprechen. Als sie ins Bett ging, legte sie sich im Kopf ihre Worte für diese Unterhaltung zurecht. Es gibt keine Eltern, die es gerne hören, daß ihr Kind sich schlecht oder gar bösartig benimmt Denn damit greift man automatisch auch sie selbst an. Und genau das hatte sie als neu hinzugezogene Nachbarin vor. Trotzdem, verantwortliche Eltern würden doch bestimmt wissen wollen, was ihr Kind so alles treibt, vor allem wenn dieses Kind anderen damit Kummer bereitet.