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Die ganze Nacht hindurch wurde Hollie von Alpträumen gequält, in denen sie und die Kinder gigantischen, ihnen übel wollenden Augen ausgesetzt waren, die überall herumschwebten und jede ihrer Bewegungen beobachteten, selbst im Schlaf. Als sie am nächsten Morgen schließlich um fünf Uhr schweißgebadet aufwachte, wäre sie am liebsten gleich über die Straße gerannt und hätte ihre Wut und ihre Empörung an den Bradleys ausgelassen. Aber wenn sie sich Hoffnungen auf ihre Zusammenarbeit machte, dann mußte sie sich zivilisiert benehmen. Und dazu gehörte ihrer Meinung nach auch, daß sie an einem Sonntagmorgen nicht vor zehn Uhr früh an ihre Tür klopfte.

Und deshalb war es genau Punkt zehn, als sie, mit Jeans und einer leichten Jacke bekleidet, die Straße hinunterging. In der breiten, halbrunden Auffahrt waren drei Wagen geparkt. Die kleine Frau, die Hollie die Tür öffnete, hatte einen Schmollmund und runde grüne Augen, die sich sofort mißtrauisch verengten.

»Ich bin Hollie Ganz«, stellte Hollie sich vor und deutete auf ihr Haus. »Ihre neue Nachbarin.«

Die Frau nickte, warf einen Blick auf den kleinen Bungalow, als müßte sie sich erst dessen Existenz versichern, und ließ lange und prüfend ihre Augen auf Hollie ruhen. Zögernd machte sie schließlich die Tür etwas weiter auf.

»Ja, dann kommen Sie doch herein. Ich bin Pauline Bradley.«

Die Frau trug ein Seidenkleid mit Paisleymuster, dazu Pumps mit flachen Absätzen, und eine ihrer Hände spielte mit einer einreihigen Kette aus Zuchtperlen. »Wir müssen aber um elf zur Messe«, fügte sie schnell hinzu.

»Ich würde gerne mit Ihnen kurz über Dylan sprechen.«

»So? Dann hole ich rasch meinen Mann.« Sie führte ihren Gast ins Wohnzimmer, das fast so groß war wie Hollies ganzes Haus, und während Hollie ihre Jacke auszog und auf dem Sofa Platz nahm, lief Pauline nach oben. Ein paar Minuten später war sie wieder zurück. »Charlie wird gleich bei uns sein«, meinte sie. »Er ist gerade mit Duschen fertig.«

»Es tut mir leid, wenn ich ungelegen komme«, sagte Hollie, ärgerte sich aber gleichzeitig, daß sie sich entschuldigte.

»In welche Kirche gehen Sie denn, Mrs. Ganz?«

»Hollie . . . Ich gehe nicht zur Kirche.«

Eine Frau mit einem Stock in der Hand steckte den Kopf ins Wohnzimmer. »Mutter«, sagte Pauline, »das ist unsere neue Nachbarin Hollie Ganz. Du hast doch bestimmt schon das Mädchen und seinen kleinen Bruder auf dem Weg zur Schule gesehen.«

Also wußte sie, daß es sie gab. Hollie grüßte die alte Dame, deren Name nicht erwähnt wurde und die sie von oben bis unten musterte, nickte und sich dann an Pauline wandte: »Wir werden doch nicht wieder zu spät zur Kirche kommen, oder?«

In dem Moment trat mit forschen Schritten ein Mann mit schlecht sitzendem Toupet und dröhnender Stimme ins Zimmer und zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Er streckte Hollie eine manikürte Hand entgegen, sah sie abschätzend an und nickte dann anerkennend mit dem Kopf. »Charlie Bradley. Freut mich, Sie kennenzulernen, Hollie. Meine Frau hat mir leider verschwiegen, daß Sie so gut aussehen.«

Man mußte nicht besonders intelligent sein, um zu erkennen, woher Dylan sein Auftreten hatte. Charlies Körpersprache war die eines aggressiven Verkäufers, vielleicht eines Gebrauchtwagenhändlers. Er ließ Hollie nicht aus den Augen, während er Pauline auftrug: »Geh und sag Ma, daß ich in fünf Minuten komme.«

Pauline machte Anstalten, vom Sofa aufzustehen.

»Nein, bitte«, warf Hollie ein. »Ich hätte gern, daß Sie sich auch anhören, was ich zu sagen habe.«

»Charlie ist aber für so etwas . . .«

»Entspannen Sie sich, Hollie.« Er streckte den Arm aus und legte seine weiche weiße Hand auf ihren nackten Unterarm.

»Nehmen Sie bitte Ihre Hand da weg«, sagte sie, da sie sich durch seine plötzliche plumpe Vertraulichkeit bedrängt fühlte.

»Nun, nun, ich will doch nichts von Ihnen!«

»Mein Gott, was haben Sie denn für ein Problem?« fragte Pauline kopfschüttelnd.

»Nicht ich, Ihr Sohn ist es, der ein Problem hat«, antwortete Hollie und wünschte, das Gespräch nicht mit einem so negativen Einstieg eröffnet zu haben. Aber das konnte sie jetzt auch nicht mehr ändern, und so fuhr sie fort: »Seit meine Tochter hier an der Schule ist, ist kein einziger Tag vergangen, an dem er sie nicht belästigt hat. Und deswegen würde ich das gerne mit Ihnen beiden besprechen.«

»Na gut, dann sprechen Sie«, erwiderte Charlie langsam und feindselig.

»Allison ist gerade mal vierzehn, sie besucht die erste Klasse der High-School«, begann Hollie. »Dylan wollte mit ihr ausgehen, und sie hat ihn abgewiesen. Aber er weigert sich, ihr Nein als Antwort gelten zu lassen.«

Charlies Augen wanderten erneut abschätzend über Hollies Beine, über die sanften Rundungen ihrer Baumwollbluse, über ihr Gesicht. »Er ist also hartnäckig und hat einen guten Geschmack – das heißt, falls die Kleine nach ihrer Mutter kommt.«

Bildete er sich tatsächlich ein, daß er ihr damit imponieren konnte? »Die Sache geht noch weiter«, sagte sie, und langsam dämmerte ihr, daß die Auseinandersetzung härter werden würde, als sie gedacht hatte. »Außerdem ruft er spätabends noch bei mir zu Hause an und legt auf, sobald ich mich melde.«

»Wie kommen Sie auf die Idee, daß das Dylan sein könnte?«

»Weil alles zusammenpaßt. Ich wüßte sonst niemanden, der so etwas machen würde.«

»So?«

Selbst ihr kam ihre Behauptung jetzt ziemlich haltlos vor; sie hätte sie gar nicht erst anführen dürfen. Deshalb wechselte sie schnell das Thema und fuhr mit ihren Beschwerden fort. »Freitag nach der Schule hat er Allison abgefangen und sie mit dem Wagen absichtlich so bedrängt, daß sie nicht über die Straße und nach Hause gehen konnte. Und gestern abend sind er und seine Freunde in mein Haus eingedrungen, während ich nicht da war.«

»Sie sind eingedrungen?« warf Pauline ein.

»Überlaß das nur mir, Liebling«, sagte Charlie, tätschelte die Hand seiner Frau und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Hollie zu. »Wollen Sie damit sagen, daß er in ein leeres Haus eingedrungen ist?«

»Meine Kinder waren daheim.«

»Hat er ein Fenster eingeworfen oder eine Tür aufgebrochen?«

»Eines der Kinder hat die Tür aufgemacht, weil sie zuvor draußen ein Geräusch gehört hatten.«

»Ich verstehe. Von welchem Kind ist denn hier die Rede?«

»Sie heißt Chelsea«, antwortete Hollie. Langsam, aber sicher wurde sie immer wütender, doch sie ließ sich von seinen Fragen nicht aus der Fassung bringen. »Und sie ist eine Freundin meiner Tochter, die bei uns übernachtet hat.«

»Also war bereits eine Party im Gange.«

»Es gab keine Party, wir hatten nur eine Freundin meiner Tochter über Nacht zu Gast.«

»Mir klingt das aber ganz so, als hätten da zwei kleine Mädchen ihren Spaß haben wollen.« Er streckte den Arm auf der Rückenlehne des Sofas aus, so daß jetzt seine Hand nur wenige Zentimeter neben ihrer Schulter lag. Und als sie ein wenig zurückwich, um wieder mehr Platz zwischen sich und ihn zu bringen, fiel ihr auf, wie seine Augen spöttisch funkelten. »Das ist doch kein Verbrechen, Hollie. Heutzutage amüsieren sich auch die jungen Mädchen ganz gerne. Das sollten Sie doch wissen. Wir leben in einem freizügigen Zeitalter.«

»Die Kinder hatten Dylan aber nicht reingebeten.«

»Ich verstehe. Ist er grob geworden? Um ins Haus zu kommen, meine ich?«

Es war hoffnungslos. Wieso machte sie sich überhaupt die Mühe? »Mr. Bradley, Ihr Sohn hat nicht nur sich selbst und seine Freunde in mein Haus eingeladen, sondern hat sich darüber hinaus geweigert, wieder zu gehen, als man ihn dazu aufforderte. Außerdem haben er und seine Bande ein totales Chaos hinterlassen und meine Kinder zu Tode erschreckt. Erst als sie sahen, daß am Vordereingang ein Nachbar auftauchte, sind er und seine schönen Freunde endlich aus meinem Haus verschwunden.«

»Tatsächlich? Welcher Nachbar denn?«

»Woody.«

»Leon Woodbury.« Charlie Bradley schüttelte den Kopf und grinste. »Woody, der weiße Ritter.«

Hollie stand auf und zog ihre Jacke an. »Hören Sie, die Sache ist ganz einfach. Ich möchte, daß Ihr Sohn aufhört, sich weiter so zu benehmen, Mr. Bradley. Ich möchte nicht, daß er meiner Tochter oder meinem Sohn zu nahe kommt Ich will mir nämlich nicht jedes Mal Sorgen machen müssen, wenn ich meine Kinder allein lasse. Als ich das Haus kaufte, sagte man mir, aß dies hier ein ruhiges und sicheres Viertel sei.«

»Das ist es auch, zumindest war es das« erwiderte Charlie, als würde er eine Art Heiligtum verteidigen. »Aber ich kann einfach nicht glauben, daß mein Junge so etwas macht, zumindest nicht mit der bösen Absicht, die Ihrer Meinung nach dahintersteckt. Ich denke viel eher, daß wir es hier mit einer übersteigerten Einbildungskraft zu tun haben, die alle diese Probleme verursacht. Ich weiß nur noch nicht, um wessen Einbildungskraft es dabei geht, um die Ihrer Tochter oder um die Ihre. Vielleicht sogar um beide.«

Sie starrte ihn ungläubig an. »Wie kommen Sie nur auf die Idee, so etwas zu sagen? Sie kennen mich ja nicht einmal!«

»Nun, es ist noch keine zehn Minuten her, da haben Sie eine gänzlich harmlose, freundliche Geste völlig mißdeutet«, erklärte er. »Eine simple Berührung am Arm wurde von Ihnen bereits als obszöne Handlung interpretiert. Und obwohl ich mir durchaus der Tatsache bewußt bin, daß eine Frau ohne Mann heutzutage ein größeres Risiko . . .«

Kein weiteres Wort wollte sie sich von diesem unsäglichen Maulhelden mehr anhören. Sie stürmte zur Tür, so wütend und frustriert, daß sie am liebsten laut geschrien hätte, machte dann aber doch noch einmal kehrt. Pauline lief ihr hinterher, aber Hollie ignorierte sie, warf Charlie, der noch immer auf dem Sofa saß, einen entschlossenen Blick zu und sagte so sachlich und höflich, wie es ihr nur möglich war: »Wenn Dylan uns noch einmal belästigt, wende ich mich an die Polizei.«

Er zuckte nur lächelnd mit den Schultern. »Sie können tun, was Sie für richtig halten.«

»Charlie ist Anwalt«, fügte Pauline erklärend hinzu.

Großartig. Kein Gebrauchtwagenhändler, ein Rechtsanwalt. Als Hollie die Haustür öffnen wollte, streckte Pauline den Arm aus und hielt sie zurück. Mit hoher, gepreßter Stimme sagte sie: »Ich kenne Sie . . . und Typen wie Sie. Sie gehören zu den Frauen, die die Männer erst anmachen und ihnen dann, wenn sie darauf anspringen, ihre schmutzigen Gedanken vorwerfen.«

Während der nächsten zwanzig Minuten war Hollie völlig darin versunken, die Bäume, die ihr Haus säumten, zu stutzen, dann prüfend zurückzutreten, um erneut hier oder da etwas abzuschneiden. Plötzlich bemerkte sie, daß jemand hinter ihr stand. Sie fuhr so zusammen, daß ihr die Heckenschere fast aus der Hand flog.

»Roger!« stieß sie aus, nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. »Ich habe Sie gar nicht kommen hören.«

Roger Spear trug einen beigen Trenchcoat und einen steifen Hut mit breiter Krempe, der ihn vermutlich vor der Sonne schützen sollte, die sich aber bereits hinter den Wolken verzogen hatte. Er lächelte, streckte die Hand nach ihrer Schere aus und meinte in seiner ruhigen, förmlichen Art: »Darf ich, Hollie?«

Sie schaute unentschlossen auf die Schere, dann auf ihn, überließ sie ihm aber wortlos. Er trat näher an einen der Bäume heran und drehte sich um. »Also, das hier ist eine Silberkiefer, eine sehr schöne natürliche Begrenzung zwischen zwei Gärten, die einen guten Schutz Ihrer Privatsphäre garantiert. Doch«, fuhr er fort und deutete zur besseren Demonstration mit der Spitze der Schere auf die entsprechenden Stellen, »es ist sehr wichtig, diese unteren, abgestorbenen Äste abzuschneiden, wenn Sie wollen, daß der Baum dicht und üppig nachwächst.«

Während er ihr das alles erklärte, beschnitt er nebenbei die Bäume. Hollie warf einen schnellen Blick auf seinen eigenen großen Garten, der sauber und ordentlich war; nicht ein Stück Papier oder ein abgestorbenes Blatt lag auf dem Rasen herum. »Sie kümmern sich wohl selbst um die Pflege Ihres Gartens?«

»Ja, richtig. Aber ich bin natürlich immer nur nachts draußen. Den größten Teil der Gartenarbeit erledige ich nach Einbruch der Dämmerung. Also, seien Sie nicht überrascht, wenn Sie mich mal Unkraut jätend in der Dunkelheit herumtappen sehen.« Als sie nichts darauf erwiderte, drehte er sich um und musterte sie auf dieselbe beunruhigende Art wie neulich an dem Abend. »Haben Sie mich eigentlich schon mal nachts gesehen, Hollie?«

Sie schüttelte den Kopf. Wieso stellte er ihr diese merkwürdige Frage? Was machte es schon aus, ob sie ihn gesehen hatte oder nicht? »Vielleicht sollten Sie jetzt auch nicht in der Sonne stehen«, meinte sie und wünschte, er würde ihren Wink mit dem Zaunpfahl kapieren und gehen.

»Wahrscheinlich nicht, Sie haben recht«, erwiderte er. »Danke, daß Sie so besorgt um mich sind. Aber als ich Sie derart aufgeregt und durcheinander aus dem Haus der Bradleys kommen sah, da dachte ich mir, daß ich vielleicht mal eine Ausnahme machen sollte.«

Die körperliche Anstrengung hatte tatsächlich ihren Zweck erfüllt und sie wieder ruhiger werden lassen. Doch als sie Roger jetzt sagen hörte, daß er sie die ganze Zeit über, seit sie von den Bradleys zurückgekommen war, bei ihrer Arbeit beobachtet hatte, stieg erneut kribbelnde Unruhe in ihr auf.

»Margaret riet mir zwar, mich nicht einzumischen«, fügte er nach einem Augenblick noch an, »aber hin und wieder ist es nicht schlecht, wenn wir unseren Instinkten folgen, nicht wahr?«

Wie sollte sie nur mit diesem Menschen umgehen? Er war höflich und nicht aufdringlich, und soweit sie es beurteilen konnte, versuchte er nur, ihr behilflich zu sein. Trotzdem war ihr der Mann nicht geheuer. Hollie verkniff es sich schließlich, ihn darauf anzusprechen, warum er sie von seinem Fenster aus beobachtete, und er fuhr weiter fort, die abgestorbenen Äste abzuschneiden.

»Charlie Bradley ist kein Mann von hohem moralischen Standard«, sagte Roger so leise, daß sie nicht sicher war, ob die Bemerkung an sie gerichtet war oder nicht. Doch etwas lauter setzte er hinzu: »Verheiratete Männer, die hinter anderen Frauen her sind, sind die schlimmsten Sünder von allen. Aber Charlie wird das eines Tages schon erkennen. O ja, das wird er . . . und auch seine Zeit wird kommen.«

Nach dem Mittagessen fuhren sie Chelsea nach Hause, und auf dem Rückweg erzählte Hollie Allison von ihrem erfolglosen Versuch, sich mit den Bradleys vernünftig zu einigen.

Allison, die neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, wandte ihr voller Empörung das Gesicht zu. »Ja, glauben die vielleicht, daß ich lüge?«

»Nein, das denken sie sicher nicht«, antwortete Hollie. »Ihre Reaktion ist nur eine Form der Abwehr, zu der manche Menschen greifen, um Dinge zu verdrängen, die sie lieber nicht hören wollen. In dem Fall ziehen die Bradleys es eben vor, sich nicht mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, daß ihr Sohn sich verbrecherisch benimmt.«

»Und was werden wir jetzt machen?«

»Nun, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Was hältst du davon, wenn ich mal mit Dylan selbst rede?«

»O nein, bloß nicht!« entfuhr es Allison. »Wie kommst du nur auf . . .«

»Warte, laß mich doch ausreden, Schatz.« Hollie verstummte kurz, während sie einen schnellen Blick über ihre Schulter warf, um sich nach links in den fließenden Verkehr auf der Schnellstraße einzuordnen. »Erst muß ich einmal herausfinden, ob er überhaupt dazu bereit ist, mit mir zu reden. Wenn ja, dann könnten wir ausmachen, uns irgendwo zu treffen, auf neutralem Boden sozusagen.«

Allison setzte sich wieder zurück und lehnte ihren Kopf gegen die Nackenstütze. Nachdenklich meinte sie: »Was willst du ihm denn sagen?«

»Eigentlich wollte ich an sein Ehrgefühl appellieren. Er ist älter als du – nur ein paar Jahre zwar, aber in eurem Alter macht das noch eine Menge aus. Und außerdem ist er viel erfahrener als du.« Hollie hatte bereits den ganzen Vormittag darüber nachgedacht, wie es wäre, mit Dylan selbst zu reden, seit Rogers Bemerkungen an diesem Morgen. Vielleicht war auch Charlie Bradleys schamlose Anmache oder die persönliche Bekanntschaft mit dem Ehepaar ausschlaggebend. Sie konnte sich jedoch vorstellen, daß die Kommunikation zwischen Eltern und Sohn – wenn überhaupt – nur minimal war. Also sollte sie vielleicht, bevor sie zur Polizei ging, versuchen, sich mit ihm selbst zu einigen.

»Das klappt nie«, meinte Allison und schüttelte heftig den Kopf. »Außerdem wird er postwendend zu seinen Freunden laufen und ihnen brühwarm alles erzählen. Und ich werde zum Gespött der ganzen Schule.«

»Wir haben keine andere Wahl, Allison. Wir können doch nicht zulassen, daß er unsere Freiheit einschränkt oder unser Haus versaut, so wie gestern abend.«

»Und wenn er nicht auf dich hört? Wenn alles nur noch schlimmer wird?«

»Dann kann ich immer noch zur Polizei gehen. Es gibt Gesetze gegen Belästigung. Und wenn Reden nichts hilft, tja, dann . . . dann kann er wenigstens nicht sagen, daß er nicht ausreichend gewarnt wurde.«

Nachdem sie das Geschirr vom sonntäglichen Mittagessen abgespült hatte und die Kinder in ihren Zimmern verschwunden waren – Allison ans Telefon und Jake zu seinem Goldhamster –, wollte Hollie gerade hinunter in ihr Arbeitszimmer gehen, um den Artikel zu beenden, als es an der Tür läutete. Sie machte auf und sah sich Jeremy gegenüber. Zuversichtlich lächelnd und sich offenbar sehr zu Hause fühlend, trat er ein. Er trug ein flott gestreiftes Hemd und schick zerknitterte, locker fallende Freizeithosen. Sein Sportjackett, das er mit dem Daumen am Aufhänger festhielt, hatte er lässig über die rechte Schulter geworfen – ganz so, als ob er einer Zeitschriftenreklame entstiegen wäre, wären da nicht die dunklen Ringe unter seinen Augen gewesen.

Sie trat einen Schritt zurück. »Was machst du denn hier?«

»Was soll das heißen, sind am Sonntag bei euch keine Besucher willkommen?«

»Ich weiß genau, daß ich dich gebeten habe, bevor du erscheinst, anzurufen.«

Er zuckte nur mit den Schultern und warf seine Jacke über einen Stuhl. »Ich hab’s vergessen – erschieß mich. Jetzt komm, Hollie, entspann dich. Meinst du nicht, daß du hier etwas zu unflexibel reagierst?« Ehe sie einen Einwand vorbringen konnte, hob er die Hand. »Außerdem wollte ich mich entschuldigen.«

»Es besteht kein Grund dazu.«

»Nein, nein, da widerspreche ich dir entschieden. Ich habe dich an dem Abend sehr verärgert, als ich dir vorschreiben wollte, wie du mit diesem Jungen umzugehen hast Ich hatte nicht die geringste Veranlassung zu glauben, du würdest nicht allein mit der Sache fertig werden.«

Sie warf Jeremy einen skeptischen Blick zu und mußte an den Anruf denken, der erfolgte, nachdem er weggewesen war. Wie einfach wäre es doch gewesen, wenn sie hätte direkt sein und ihn fragen können, ob er das war. Aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er es nie zugeben würde, wenn er es wirklich war. Doch wenn er es nicht war, würde sie ihm mit ihrer Frage nur wieder jede Menge Gründe liefern zu glauben, daß sie seinen Schutz tatsächlich benötigte.

»Mir ist mittlerweile klar, daß du dir auch nur Sorgen gemacht hast, also vergessen wir, was passiert ist Okay?«

Er steuerte einen Sessel an, aber sie verstellte ihm den Weg, ehe er sich setzen konnte. »Bitte, Jeremy, nicht jetzt.«

»Wann dann?«

»Ich weiß nicht. Bitte, nütz die Situation nicht aus.«

Er hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste. »Herr im Himmel, was nütze ich denn aus? Ich bin doch nur gekommen, um meine Familie zu besuchen, und du benimmst dich, als würde ich ein Verbrechen begehen.«

Sie stand immer noch zwischen ihm und dem Sessel. »Ich meine es ernst, ich möchte, daß du gehst . . .«

Jakes Stimme, der seinen Vater rief, unterbrach sie mitten im Satz, und dann kam Jake selbst angelaufen und stürzte Jeremy in die Arme. »He, Mom, wieso sagst du nicht Bescheid, daß Daddy gekommen ist?« Und ehe sie eine Antwort geben konnte – vorausgesetzt, ihr wäre eine eingefallen, die Jake befriedigt hätte –, fuhr er bereits fort: »Du bleibst doch ein bißchen, oder? Willst du das Haus anschauen, Daddy? Du hast es ja noch nie ganz gesehen. «

Er nahm Jeremy an der Hand und führte ihn von einem Zimmer zum anderen: in seines, in das von Allison und dann in ihr Schlafzimmer. Nach einer, wie Hollie schien, unendlich langen Zeit ging es hinunter in den Keller.

Von oben konnte sie hören, wie sie einen Gummiball auf den Fußboden aus Beton warfen, herumtobten und sich lachend unterhielten, mal lauter, manchmal aber auch so leise, daß sie kaum etwas zu verstehen vermochte. Es verging eine gute halbe Stunde, ehe sie nach oben kamen – Jake ganz rot im Gesicht und total aufgedreht, freudig grinsend, daß seine Welt wenigstens vorübergehend wieder in Ordnung war.

Jeremy gab Hollie eine kleine Fotografie – das Bild einer Frau, der jemand mit einem schwarzen Filzstift dickere Augenbrauen, einen Vollbart und Brillengläser aufgemalt und zusätzlich noch ein paar Schneidezähne geschwärzt hatte. »Was ist denn das?« fragte sie.

»Das habe ich innen im Sicherungskasten gefunden.«

Sie wandte den Blick von dem Foto und schaute ihn fragend an. »Was hattest du in meinem Sicherungskasten zu suchen?«

Jeremy tat ihre Frage mit einem Achselzucken ab. »Wollte nur mal nachsehen, ob eure elektrischen Leitungen in Ordnung sind. Da steckt kein großes Geheimnis dahinter.« Er stupste sie an. »Aber schau dir doch mal die Frau genauer an.«

Hollie betrachtete erneut die Fotografie. »Ja, und?«

»Kommt sie dir nicht bekannt vor?«

»Nein. Wieso, sollte sie?«

Jeremy und Jake sahen einander an und brachen in ein Gelächter aus.

»Was ist denn?« wollte Hollie wissen.

Jeremy zuckte nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Laß, vergiß es.«

Schließlich forderte Hollie Jake auf: »Dann sag du es mir.« Jake schob seine rutschende Brille hoch und meinte kichernd: »Also, als Daddy und ich das Foto entdeckten, da dachten wir, das seist du.«

Sie schaute erst zu Jake und zu Jeremy und dann wieder auf das Foto. Mit einer Stimme, die deutlich ausdrückte, was sie von diesem Vergleich hielt, sagte sie schließlich: »Na, ich danke euch sehr.«

»Aber sieh doch mal richtig hin, Hollie, es besteht eine eindeutige . . .« setzte Jeremy an, doch sie trat ihm auf die Zehen.

»Ich warne euch beide, kein Wort mehr!« Sich das Lachen verbeißend, warf sie die Aufnahme auf die Küchentheke. Diesen Augenblick der Entspannung nutzte Jeremy schnell zu seinen Gunsten aus, legte Hollie den Arm um die Taille und zog sie an sich. Völlig überrumpelt riß sie sich von ihm los. Sie war verlegen und kam sich wie ein naives Schulmädchen vor, daß sie nicht mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte. Noch dazu direkt vor Jakes Augen – das würde den Jungen, der ohnehin schon durcheinander genug war, nur noch mehr verwirren. Als sie es endlich geschafft hatte, Jeremy in Richtung Haustür zu schieben, war seine alte Streitlust wieder erwacht, und unter anderem wollte er auch hartnäckig wissen, was sie denn nun in bezug auf Dylan unternommen habe.

»Es ist alles geregelt«, log sie und schloß die Tür hinter ihm. Jake ging in sein Zimmer, und Hollie, die spürte, wie sich eine Migräne in ihrem Kopf zusammenbraute, aber fest entschlossen war, ihren Artikel noch zu beenden, machte sich auf die Suche nach einem Aspirin. Als sie die Flasche mit den Tabletten aus dem Hängeschrank holte, schaute sie sich noch mal das Foto auf der Küchentheke an und fragte sich, was es in ihrem Sicherungskasten zu suchen hatte. Wer war die Frau? Sie wußte genau, daß das Foto bei ihrem Einzug nicht dort gewesen war. Aber als sie das Bild doch noch einmal betrachtete, da sah auch sie es: Es war eindeutig eine Ähnlichkeit mit ihr vorhanden.

Als sie sich dann endlich an ihren Computer gesetzt hatte, vermochte sie kaum an ihrem Artikel zu arbeiten. Jeremy, Dylan, dieses merkwürdige Foto und ein ständiges Knarzen in den Wänden und ein Stöhnen in den Wasserleitungen störten sie in ihrer Konzentration. Aber erst als sie auch noch das Gefühl hatte, wieder von irgendwoher beobachtet zu werden, konnte sie überhaupt nichts mehr machen. Die Muskeln in Armen und Schultern verkrampften sich, und ihre Hände fingen zu schwitzen an.

Sie blickte hoch und schaute sich in dem kleinen Raum um – nichts. Sie drehte ihren Stuhl in Richtung des winzigen Fensters an der Seite – die roten Vorhänge waren offen, enthüllten aber nichts als Dunkelheit. Trotzdem ging sie ans Fenster und zog mit einem Ruck die Vorhänge zu. Dann kehrte sie an den Schreibtisch zurück und schaltete den Computer aus.

Ein perfektes Opfer

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