Читать книгу Ein perfektes Opfer - Gloria Murphy - Страница 6
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ОглавлениеMein Chef hat mich zum Essen eingeladen«, erzählte Hollie am nächsten Tag Elaine, als sie von der Firma aus mit ihr telefonierte.
»Der, der immer soviel schwitzt?«
»Genau der.«
»Und, was hast du gesagt?«
»Aber Elaine«, erwiderte sie und schaute aus dem Fenster, »du weißt doch ganz genau, daß ich nie mit einem Vorgesetzten ausgehen würde.«
Hollie hockte in einem eineinhalb mal drei Meter kleinen Kabäuschen im zweiten Stock von Stern-Adler, das direkt gegenüber von Harvey Boyntons Büro lag. Ein großes Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Schornsteinkasten des darunterliegenden Labors hatte, nahm den größten Teil der einen Wand ein. Zwei Türen neben ihr befand sich ein weiteres Büro, das sich drei Sekretärinnen und vier Texter teilten. Dazwischen standen eine Xerox-Kopiermaschine und ein langer honiggelber Holztisch, auf dem normalerweise Vorlagen für Werbebroschüren, Schulungsmaterialien, irgendwelche Faltblätter und Rundschreiben auslagen.
»Im Ernst? Mal angenommen, er wäre Robert Redford – und noch zu haben?«
»Okay, ich werde mich deutlicher ausdrücken. Ich würde nie mit Harvey Boynton ausgehen.«
»Schön, und was hast du nun gesagt?«
»Ich habe dankend abgelehnt.«
»Und?«
»Und nichts. Er hat meine Ablehnung huldvoll akzeptiert.« Hollie brachte ganze zwanzig Minuten ihrer einstündigen Mittagspause damit zu, Elaine von ihren ersten Tagen in Union zu erzählen. Elaine war ihre engste Freundin, seit Hollie nach Bloomfield gezogen war. Sie erinnerte sich noch genau an ihren ersten Tag dort. Die ganze Arbeit in dem neuen Haus war an ihr hängengeblieben, die Schlepperei, das Auspacken, Saubermachen, Aufhängen der Vorhänge und Einkaufen. Und während sie versuchte, nicht die Geduld mit einer übermüdeten und überdrehten Vierjährigen zu verlieren, hatte es obendrein noch an der Tür geläutet.
»Ich hätte Ihnen ja gerne einen Auflauf gebracht«, sagte die Frau mit dem dunklen Teint, dem großen Mund, den perfekten Zähnen und dem umwerfenden Lächeln, die mit einem Kleinkind im Schlepptau auf der Schwelle stand, als Hollie öffnete. »Aber ich kann nun mal nicht kochen, wenigstens nicht gut. Also biete ich Ihnen etwas Besseres an als etwas zu essen, nämlich Zeit, kinderfreie Zeit. Einen Tag in der Woche passe ich auf Ihr Kind auf. Suchen Sie sich aus, welchen Sie wollen, und geben Sie mir einfach acht Stunden vorher Bescheid.« Hollie stellte sie gleich auf den Prüfstand, indem sie bereits am nächsten Tag auf ihr Angebot zurückkam.
»So etwas fehlt dir wahrscheinlich gerade noch, eine weitere Belastung«, meinte Elaine nun, nachdem sie von Dylan Bradley erfahren hatte.
»Ich würde ihm am liebsten höchstpersönlich die Ohren langziehen, doch Allison will selbst damit fertig werden, und das ist vermutlich auch richtig so. Vielleicht bin ich ja zu optimistisch, aber ich bin eigentlich sicher, daß dieser Gockel sich bald ein anderes Opfer suchen wird.«
»Es hört sich ja auch ganz so an, als wäre er einer von denen, die in kürzester Zeit von einer zur anderen hüpfen.«
»Das stimmt.«
»Hast du eigentlich mal mit Jeremy gesprochen?«
»Über Dylan?«
»Nein, generell.«
Hollie begann hektisch ihren Schreibtisch aufzuräumen. Sie haßte es, im Chaos arbeiten zu müssen, aber da sie so wenig Platz hatte, drohte sie immer wieder darin zu versinken. »Ach«, meinte sie und schob ein paar Papiere in eine Aktenablage, »mir ist es lieber, wenn Jeremy nichts davon erfährt. Ich kann es nicht gebrauchen, daß er wieder einmal durchdreht oder auf diese Weise eine gute Ausrede geliefert bekommt, sich zu sehr in mein Leben einzumischen. Er hat außerdem genug am Hals, sein eigenes Durcheinander in den Griff zu kriegen. Aber er hat angerufen, wenn du das wissen wolltest.«
»Mike hat mir von dem Job erzählt.«
»Richtig, und jetzt dürfte er uns auch finanziell unter die Arme greifen können. Aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Ansonsten holt er Allison und Jake heute abend ab und geht mit ihnen zum Essen und zum Bowling. Es wäre schön, wenn er sich von seinem neuen Gehalt eine Wohnung leisten könnte, die groß genug ist, daß die Kinder gelegentlich bei ihm übernachten.«
»Willst du sie denn jetzt schon loswerden?«
Hollie grinste über den Scherz ihrer Freundin. »Du weißt genau, daß es nicht so ist. Aber es würde ihnen gefallen, vor allem Jake. Und selbstverständlich ist Allison ganz versessen darauf, wieder einmal mehr Zeit mit ihren Freundinnen verbringen zu können. So, wie es momentan aussieht, werde ich ihre Ferngespräche rigoros einschränken müssen. Die meinen kann ich zum Glück in der Firma fuhren.«
»Schick sie doch mal übers Wochenende her. Du kennst mich ja, kochen kann ich immer noch nicht, aber ich lasse mir die leckersten Sachen ins Haus bringen. Außerdem weißt du genau, daß Allison hier immer willkommen ist.«
Hollie legte das letzte Papier ab und drehte den Stuhl wieder in Richtung Fenster. »Danke, Elaine, ich werde es mir merken. Dieses Wochenende besucht uns übrigens Chelsea Grant. Mensch, du fehlst mir vielleicht. Habe ich tatsächlich zu dir gesagt, daß mir meine neue Nachbarschaft gefällt?«
»Soweit ich mich erinnere, hast du fürchterlich damit angegeben. Ah, Hollie, da kommt mir gerade eine ganz tolle Idee. Mike ist übers Wochenende geschäftlich in Cleveland. Wie wär’s, wenn wir beide uns Samstag abend in Hartford träfen? Wir könnten dort in aller Ruhe gemütlich zu Abend essen.«,
Die Hauptstadt des Bundesstaates, in der Hollie aufgewachsen war, lag nur eine Dreiviertelstunde Fahrt von Union entfernt, wobei der größte Teil der Strecke auch noch über den Highway ging. Aber mit diesem aufdringlichen Jungen in unmittelbarer Nachbarschaft und angesichts der Tatsache, daß Allison eine Freundin über Nacht im Haus hatte, wußte Hollie nicht so recht, ob sie das tun sollte.
»He, ich höre nichts.«
»Ich habe nur an die Kinder gedacht.«
»Ich glaube, daß die heilfroh sein werden, wenn sie dich endlich einmal los sind. Meiner Erfahrung nach solltest du nämlich folgendes tun: den Kühlschrank auffüllen und dich rar machen. Und wenn du dich wegen dieses Jungen sorgst, hör auf damit. Er ist bestimmt ein lästiger Kerl, aber Allison ist ein kluges und verantwortungsbewußtes Mädchen. Sie wird ihn schon nicht ins Haus lassen. Und was noch wichtiger ist, du willst doch bestimmt nicht, daß sie glaubt, du würdest ihr nicht vertrauen und sie nicht für fähig halten, mit diesen Dingen allein fertig zu werden.«
Es war das letzte Argument, das bei Hollie den Ausschlag gab. »Okay, du hast mich überzeugt.«
Sie legte den Hörer auf und starrte gedankenverloren auf die vielen Schornsteine unter sich. Zum Teufel, Jeremy, wieso mußtest du alles kaputtmachen?
Allison war auf dem Heimweg von der Schule und legte gerade das letzte Stück auf der Ashmore Road zurück, als ein Wagen neben ihr am Straßenrand hielt.
»Soll ich dich mitnehmen?«
Allison warf einen fragenden Blick in den blauen Torino mit dem unsäglichen schwarzen Plüschwürfel am Rückspiegel. Dylan hatte sein widerspenstiges Haar aus dem Gesicht gekämmt, was sein kantiges Kinn noch betonte. Unter buschigen, unregelmäßigen Brauen blickten kühle grüne Augen. Allison schluckte, schüttelte den Kopf und wich zurück. Auf dem Beifahrersitz saß ein Junge, aus dessen Mundwinkel ein Zahnstocher ragte. Wahrscheinlich Ray.
»Na komm schon, Süße, wir sind doch Nachbarn«, sagte Dylan, während er über die Rückenlehne griff, um die hintere Tür zu öffnen. Aber sie schüttelte erneut den Kopf und fing zu laufen an. Er folgte ihr mit dem Wagen.
»Ich gehe lieber zu Fuß«, meinte sie.
»Kein Problem, dann leisten wir dir eben Gesellschaft.« Er nahm eine Packung Fruchtkaugummi aus der Tasche, steckte sich einen Streifen in den Mund und hielt ihr dann die Packung hin. »Willst du einen?« fragte er.
»Nein, danke«, antwortete sie. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie einen grünen Minirock aus Jeansstoff trug, und sie fragte sich, ob er vielleicht doch zu kurz war, und wünschte, sie hätte am Morgen Hosen angezogen.
»Kannst du denn nie locker sein?«
»Und hörst du nie auf, mir auf die Nerven zu gehen?« fragte sie, starr geradeaus blickend, zurück.
Da bremste er und riß die Autotür auf. Allison fing zu laufen an. Plötzlich gab er Gas, und der Wagen schoß mit einem Satz nach vorn und holte sie im Nu wieder ein. Und so ging es in einem fort. Verlangsamte sie ihren Schritt, wurde auch der Wagen langsamer, lief sie schneller, trat Dylan wieder aufs Gas. Ein Spielchen, mit dem sie ganz und gar nicht einverstanden war.
»Wo willst du denn eigentlich hin, Süße?« fragte er irgendwann.
Sie gab ihm keine Antwort und bat ihn auch nicht, mit der Verfolgungsjagd aufzuhören. Sie wußte, es wäre sinnlos. Schließlich bog sie in den Garden Place ein und konnte bereits ihr Haus sehen. Als sie quer über die Straße darauf zusteuerte, brachte Dylan den Torino genau vor ihren Füßen zum Stehen. Sie machte noch einen Schritt vorwärts, aber der Wagen fuhr wieder an und schnitt ihr den Weg ab, so daß sie nicht über die Straße gehen konnte.
Allison warf Dylan einen bösen Blick zu und rannte zum hinteren Ende des Wagens, der jedoch schnell zurückgesetzt wurde und ihr erneut den Weg versperrte. Das wiederholte sich noch eine ganze Weile, und Dylan und der andere Junge lachten sich halb krank über ihre vergeblichen Versuche, ihnen mit vor Wut mittlerweile hochrotem Kopf zu entkommen.
Und dann, als ob die Dinge nicht schon schlimm genug waren, fing sie auch noch zu weinen an. Erst merkte sie es gar nicht, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Und obwohl sie sie schnell wegwischte, waren sie Dylan und seinem Freund nicht entgangen.
»Ja, was haben wir denn da?« lästerte Dylan erst. »Eine junge Dame in Not?« Aber dann fügte er mit gespieltem Verständnis hinzu: »Na, komm her, Kleine, ich werde dir schon nichts tun. Komm zu mir, damit ich dir die Tränen trocknen kann.«
Sie brachte kein Wort heraus. Hätte sie den Mund aufgemacht, wären die Tränen nur noch reichlicher geflossen. Sie brauchte jetzt dringend Hilfe – die alte Dame oder Roger, einen von beiden vielleicht. Allison schaute zu dem Fenster der Spears hinüber und registrierte gerade noch, wie sich hastig eine Gestalt dahinter zurückzog.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. »Es ist alles in Ordnung«, sagte der junge Mann. Er war nicht groß, aber auch nicht klein, etwa Anfang Zwanzig, und machte einen ehrlichen Eindruck mit seinem breiten Kinn, den offenen Gesichtszügen und dem kurzgeschnittenen braunen Haar. Er warf Dylan in seinem Torino einen verächtlichen Blick zu.
»Hau ab«, sagte er schließlich.
»Willst du vielleicht was von mir, du Holzkopf, du?«
Der Fremde stellte sich direkt vor den Wagen hin, legte eine Hand auf die glänzend polierte Motorhaube und strich beinahe zärtlich darüber. »Schön poliert hast du dein Auto«, meinte er. »Was benutzt du denn dafür?«
Dylan hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt, und man sah seinem Gesicht deutlich an, wie genervt er war. »Spucke«, antwortete er.
Der Fremde verschränkte die Arme vor der Brust und nickte anerkennend. »Tatsächlich? Hast du eigentlich schon mal diese Reklame für Autowachs im Fernsehen gesehen? Zuerst wird die Motorhaube eingewachst, dann schüttet jemand Feuerzeugbenzin darüber, hält ein Streichholz dran, und, voilà, es brennt. Anschließend werden die Flammen gelöscht, die Rückstände abgewaschen, und im Handumdrehen ist nichts mehr zu sehen. Du weißt doch, was die Leute von mir sagen: Ich bin einem Experiment nie abgeneigt.«
Zum ersten Mal schien Dylan verunsichert zu sein.
»Ich zähle bis zehn.«
Dylan murmelte Ray irgend etwas zu und setzte schließlich ein gequältes Grinsen auf, um wenigstens sein Gesicht zu wahren. »Na klar doch, ist kein Problem, wir sehen uns später.« Und bei diesen Worten deutete er auf Allison. »Damit bist du gemeint, Süße.«
Während der Fremde sie über die Straße und das letzte Stück bis zum Haus begleitete, wagte sie nicht ein einziges Mal, den Blick zu heben. Der Auftritt war ihr so peinlich, daß sie den jungen Mann nicht einmal ansehen konnte, um sich bei ihm zu bedanken.
»Zeig ihm bloß nicht, daß du dich ärgerst, das wäre die größte Genugtuung für ihn. Und das willst du doch nicht, oder? Außerdem gibt es an jeder High-School ein paar von diesen Schwachköpfen, oder etwa nicht?«
Allison nickte, und schweigend setzten sie ihren Weg bis vor ihre Haustür fort.
»Ist deine Mutter daheim?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wann kommt sie denn nach Hause?«
»Normalerweise gegen fünf.«
Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, steckte ihn ins Schloß, sperrte auf und öffnete die Tür. »Hör mal, ich muß mir doch jetzt keine Sorgen mehr um dich machen, oder? Ich meine, du wirst dein Gesicht nicht in das Waffeleisen stecken oder etwas ähnlich Häßliches anstellen?«
Er versuchte sie zum Lachen zu bringen, was ihm auch tatsächlich gelang. Endlich wagte sie, ihn anzuschauen, und begegnete einem beruhigenden Lächeln. »Nein, keine Sorge, ich bin okay«, sagte sie. »Danke.«
»War mir ein Vergnügen.« Er wandte sich zum Gehen, blieb aber noch kurz stehen. »Ach übrigens, mein Name ist Woody. Falls der Kerl dich noch mal belästigt, klopf einfach an meine Tür.« Dabei deutete er über die Straße. »Ich wohne da in dem großen Haus mit den Säulen. Wie heißt du eigentlich?«
»Allison.«
Plötzlich fing irgendwas zu piepsen an. Woody zog ein kleines Gerät aus der Gesäßtasche seiner Jeans und schaltete mit einer geschickten Bewegung den Signalton aus. Seine Finger waren dick und kurz und hatten abgebissene Nägel.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Allison.« Auf seine Hosentasche deutend, fügte er stirnrunzelnd hinzu: »Die Pflicht ruft.«
Da sie noch bei der Reinigung und der Bank hatte vorbeischauen müssen, kam ihre Mutter an diesem Abend erst nach sechs nach Hause, und das genau in dem Moment, in dem auch ihr Vater eintraf, so daß Allison, bevor sie mit Jake und Jeremy wegging, Hollie nicht mehr erzählen konnte, was ihr an diesem Tag mit Dylan passiert war. Mittlerweile kam ihr die Sache außerdem nicht mehr ganz so schlimm vor, und das war vielleicht auch der Grund, weshalb sie sich nicht viel dabei dachte, als sie den Vorfall beim Abendessen mit ihrem Daddy so nebenbei erwähnte.
Vielleicht fiel ihr aber auch gerade nichts anderes ein, um dem verlegenen Schweigen ein Ende zu bereiten, das sie oft überfiel, wenn sie zu dritt zusammen waren. Doch was auch immer der Grund war, in dem Moment, in dem sie die Sprache darauf brachte und sah, wie ihr Vater empört die Stirn runzelte, da wußte sie, daß es ein Fehler gewesen war. Als sie an diesem Abend gegen halb zwölf wieder zu Hause waren, ging er nämlich gleich als erstes zu ihrer Mom und stellte sie vorwurfsvoll zur Rede. »Was zum Teufel hat die Sache mit Allison zu bedeuten?«
Hollie wich erschrocken erst einmal einen Schritt zurück und warf Allison einen fragenden Blick zu. »Was ist denn eigentlich passiert?«
»Ich hätte es dir schon noch gesagt . . .« begann Allison.
»Sie ist heute nachmittag fast überfallen worden«, fuhr Jeremy ihr in einer groben Übertreibung dessen ins Wort, was sie ihm erzählt hatte. »Und wenn ich sie richtig verstanden habe, weißt du auch noch genau darüber Bescheid, daß es dieser Junge seit dem ersten Schultag auf sie abgesehen hat.«
»Geht es um Dylan?« fragte Hollie.
Allison rückte ein Stück näher an ihren Vater heran und versuchte ihn zu beruhigen. »Aber so schlimm war es auch wieder nicht, Daddy.«
Jeremy drehte sich zu ihr um, und seine Miene wurde freundlicher, als er ihr den Arm um die Schulter legte. »Reg dich nicht auf, Kleine, mach dir keine Sorgen. Laß das ruhig deine Eltern regeln. Du mußt diesen Versager nicht auch noch in Schutz nehmen. Dem Knaben sollte irgend jemand gründlich die Meinung sagen.«
»Erzähl mir doch erst mal, was passiert ist«, forderte Hollie ihre Tochter auf.
Allison holte tief Luft; sie war wütend und verlegen und fühlte sich wieder wie eine Zweijährige, während die beiden wie früher über ihren Kopf hinweg über sie redeten und einen Riesenwirbel veranstalteten.
»Er hat mich ja nicht angerührt oder so was. Er ist mir nur mit seinem Wagen gefolgt und wollte mich dann nicht über die Straße zu unserem Haus lassen. Da ist ein junger Mann namens Woody aufgetaucht, ein Nachbar, und hat ihn verscheucht. Das war alles.«
Mom schickte sie und Jake auf ihre Zimmer, aber Jake machte ein Theater und wollte unbedingt noch bleiben. Doch wie immer wußte Daddy genau, wie er ihn am besten überreden konnte. Der fast einsachtzig große, kräftige Mann beugte sich zu Jake hinunter und hob ihn hoch. »He, Kumpel«, sagte er, während er den lachenden Jungen so mühelos durch die Luft wirbelte, als wäre er ein Säckchen mit Zwiebeln, »hör du mal besser auf deine Mom. Haben wir uns verstanden?«
Nachdem sein Vater ihn wieder abgesetzt hatte, schlang Jake beide Arme um ihn, als wollte er ihn nie mehr loslassen, gehorchte ihm aber dann und ging auf sein Zimmer. Allison war bereits verschwunden, froh, daß sie so den Streit nicht mehr mitbekam, der unweigerlich folgen würde. Sie wünschte nur, sie wäre nicht diejenige gewesen, die ihn ausgelöst hatte. In ihrem Zimmer warf sie sich auf ihr Bett und ließ sich die Geschichte, die sie eben ihrer Mutter erzählt hatte, noch mal durch den Kopf gehen. Ja, fast genauso hatte es sich auch abgespielt, nur ihre Angst und das Gefühl, gedemütigt zu werden, hatte sie weggelassen.
War Dylan vielleicht nur ein Clown mit einer großen Klappe? Und verschlimmerte sie vielleicht alles nur noch, wenn sie sich weiter so zimperlich benahm?
»Okay, Jeremy, ich danke dir wirklich sehr, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast«, sagte Hollie scharf, kaum daß die Kinder außer Hörweite waren. »Aber jetzt übernehme ich wieder.«
»Kannst du das denn?«
»Was soll das heißen?«
»Es handelt sich hier immerhin um einen ziemlich skrupellosen Burschen, der sich offensichtlich gern als großer Macker aufspielt und die Kleineren an der Schule erschreckt. Deswegen bin ich der Meinung, daß ich mich um die Sache kümmern sollte, nicht du.«
Jeremy hatte schon früher die Angewohnheit gehabt, immer näher an sie heranzurücken, während er mit ihr sprach, so, als wollte er seine Argumente auf diese Weise noch unterstreichen, aber jetzt empfand sie seine Art als extrem einschüchternd. Sie wich deshalb so weit zurück, bis das Sofa zwischen ihnen stand. »Das ist ja wirklich lustig, Jeremy, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, daß du dich früher schon so gerne mit den Problemen der Kinder auseinandergesetzt hast.«
»Hier geht es schließlich auch nicht um irgendeinen Zehnjährigen, der einem anderen in seinem Alter auf die Nase haut.«
»Hör bitte auf damit! Behandle mich nicht wie eines von diesen braven Frauchen, das nur darauf wartet, Anweisungen von ihrem Herrn und Meister zu bekommen. Ich bin schließlich diejenige, die sich die ganze Zeit um das Haus, die Kinder und alles andere gekümmert hat – nicht du!
Und deswegen wiederhole ich noch einmal: Ich kenne das Problem, und ich werde eine Lösung dafür finden.«
Doch Jeremy ließ nicht locker. Langsam und bestimmt, aber mit einem wütenden Unterton, sprach er weiter. »Ja, begreifst du denn nicht? Der Junge würde doch nie so weit gehen, wenn er nicht glaubte, daß er damit durchkäme.« »Und du denkst wohl, daß ich mich einfach hinstellen und zusehen werde, wie er Allison weiter belästigt, oder wie?«
»Nun, etwas anderes tust du doch auch nicht, oder?«
»Bisher ist er in seinem Verhalten auch noch nie so weit gegangen, jedenfalls war es nicht so, daß ich eingreifen mußte. Im übrigen wollte Allison die Sache in die Hand nehmen, und ich war einverstanden damit. Außerdem hofften wir, daß es mit der Zeit von selbst wieder besser würde – das passiert ja oft in solchen Fällen.«
»Okay, du hast also abgewartet, aber es hat sich nichts geändert. Und was nun? Willst du jetzt diesem kleinen Mistkerl eine Tracht Prügel verpassen . . . oder soll ich das machen?«
Diese Bemerkung verdiente nicht einmal eine Antwort; sie funkelte ihn nur böse an.
Er wußte, daß er damit zu weit gegangen war, und versuchte zu retten, was noch zu retten war. »Sieh mal, ich will damit doch nur sagen . . .«
Hollie ging zur Tür und öffnete sie. »Du sagst jetzt besser gar nichts mehr. Gute Nacht, Jeremy.«
»Hollie, ich will dir doch keine Knüppel zwischen die Beine werfen. Ich biete dir doch nur meine Hilfe an, weil ich dich, weil ich die Kinder liebe . . . Ihr seid schließlich mein ganzes Leben. Es ist nicht fair, mich aus allem auszuschließen!«
Hollie wußte, daß Allison sich noch nicht beruhigt hatte, und ging deshalb in ihr Zimmer, nachdem sie überprüft hatte, ob alle Türen verriegelt und alle Lichter gelöscht waren. Allison lag auf der Steppdecke, und es brannte nur eine kleine Leselampe. Als die Tür geöffnet wurde, richtete sie sich auf. »Das soll aber nicht heißen, daß du jetzt gleich in die Schule rennen wirst . . .« fing sie an.
Hollie setzte sich zu ihrer Tochter auf die Bettkante, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie auf die Stirn. »Hör auf, dir soviel Gedanken zu machen, okay? Außerdem würde ich nie etwas unternehmen, ohne vorher mit dir darüber zu reden. Aber ich will, daß du mir eines versprichst: Du mußt es mir unbedingt sagen, wenn diese Sache schlimmer wird.«
»Das hätte ich ja auch in dem Fall, Mom, ehrlich. Es war nur so, heute abend mit Daddy . . .«
»Ist schon in Ordnung, Liebling, du brauchst mir nichts zu erklären.«
Sie schlug die Bettdecke auf, und Allison schlüpfte zwischen die Laken, während Hollie diese unter ihrem Kinn feststopfte – zum ersten Mal seit Jahren wieder.
All diese Jahre. Wo waren sie nur hin? Hollie ging in ihr Zimmer und dachte an Jeremy. Ihre ganzen Probleme hatten mit Jeremys Spielerei erst angefangen. Aus dem wöchentlichen Pokerabend mit den Jungs waren irgendwann zwei Spielabende in der Woche geworden. Dann war an den Nachmittagen am Wochenende im Veteranenclub noch ein »Freundschaftsspiel«, das alles andere als freundschaftlich war, dazugekommen. Später die Lottozettel, die sie zerrissen und zerknüllt im Aschenbecher des Wagens oder in Jeremys Hosentaschen gefunden hatte, und die unzähligen Wetten beim Sport. Und schließlich die Rubbellose – sofortige Auszahlung garantiert. Wie hätte er da widerstehen können?
Eigentlich war seine Spielsucht nur ein Abfallprodukt gewesen. Jeremy wußte nämlich recht genau, was er wollte, er hatte bloß keine Geduld und konnte es nicht erwarten, bis er es bekam. In seinem letzten Jahr auf dem College hätte er schon fast das Studium abgebrochen, weil er unbedingt bei einem riskanten Geschäft mitmachen wollte. Und er hätte es auch getan, wenn aus dem Geschäft etwas geworden wäre. Hollie bewunderte seinen Hunger und seine Gier – sie war damals noch zu jung und zu unerfahren, um sich möglicher Risiken und Fallstricke bewußt zu sein.
»Schau mich an – ich will bis ganz oben an die Spitze, und immer nur erster Klasse. Und wie es das Glück so will«, sagte er oft und zauberte dabei hinter einem ihrer Ohren ein Stück Pappdeckel hervor, »sitzt du genau neben mir. Was immer du möchtest, Prinzessin, du mußt es nur sagen. Ist es ein Kopftuch aus schwarzem Nerz, mit Smaragden bestickt?« Jeremy Ganz – das bedeutete Spaß und Abenteuer, und obwohl Dutzende ihrer Mitstudenten darin wetteiferten, seine Aufmerksamkeit zu erringen, entschied er sich für sie. Wie konnte sie da widerstehen?
Sie war tatsächlich nicht dazu in der Lage – das heißt, bis Jeremy sein Studium abschloß und sich auf die Suche nach dem »richtigen« Job machte; da ließ ihre Begeisterung zum ersten Mal etwas nach. Sie war bereits mit Allison im fünften Monat schwanger, als er sich endlich herabließ, eine niedrigere Stelle anzunehmen, so daß sie es sich endlich leisten konnten, nicht mehr seinem Cousin Larry in New Britain auf der Tasche zu liegen. Er besorgte ihnen ein klaustrophobisch kleines Zweizimmerapartment über einem Feinkostgeschäft. Die einzige Küchenschabe, die Allison bis dahin je gesehen hatte, war eine Zeichnung in einem Bilderbuch aus der Bücherei gewesen; da war sie in die fünfte Klasse gegangen. Die Wirklichkeit holte sie rasch ein. Da sie das College abgebrochen hatte, boten ihr ihre Eltern an, ihr das Studium zu zahlen, wenn sie wieder zurückkehrte. Hollie nahm ihr Angebot an und begann im Abendunterricht an der University von Hartford zu studieren, als Allison vier Monate alt war. Das war ungefähr um die Zeit, als Jeremy zwei aufeinanderfolgende Tage von seiner Arbeitsstelle fernblieb, um lieber auf die Rennbahn von Rhode Island zu gehen. Als ihn sein Chef bei Merrill Lynch in Gegenwart von Kollegen deswegen zur Rede stellte, verlor Jeremy die Beherrschung, schlug nach ihm und wurde prompt entlassen.
Jeremy hatte damals bereits in größerem Umfang gespielt – und immer war es nur die eine Nummer oder die eine Karte, die ihn von dem großen Gewinn trennte. Es bedurfte noch einiger solcher Episoden und unzähliger Streitereien zwischen ihnen, ehe sie es sich endlich eingestand, daß ihre Ehe im Begriff war zu scheitern. Ihre Geduld war fast erschöpft, und so drohte sie, Allison zu nehmen und mit dem Kind zu ihren Eltern zurückzukehren, obwohl sie gar nicht sicher war, ob sie mit dieser Situation zurechtkäme. Aber mit einem Baby, für das sie zu sorgen hatte, ihrem Abendstudium und ohne Aussicht, jemals finanzielle Unterstützung von Jeremy zu erhalten – was blieb ihr da schon anderes übrig?
Und ihre Entscheidung erwies sich als richtig. Gerade als sie den letzten Koffer durch die Tür schleppen wollte, schwor er ihr feierlich, daß er mit dem Spielen aufhören würde. Innerhalb von vier Monaten hatte er in einem Laden mit zwei Räumen ein Versicherungsbüro eröffnet. Jeremy verlegte sich mit derselben Leidenschaft auf das neue Geschäft, mit der er sich auf alles andere stürzte, was er in Angriff nahm, und in weniger als zwei Jahren waren sie in der Lage, eine Anzahlung auf ein wunderschönes Siebenzimmerhaus in Bloomfield, einer aufstrebenden jungen Gemeinde außerhalb von Hartford, zu leisten. Jake kam ein paar Jahre später zur Welt. Es war eine schöne Zeit – die beste ihrer Ehe –, und sie dauerte fast zehn Jahre.
Doch das gehörte jetzt alles der Vergangenheit an – zusammen mit den sechzehntausend Dollar Ersparnissen, den dreitausend Dollar in Aktien, den beiden Pfandbriefen zu je fünfzehnhundert Dollar, die den Kindern gehörten, den fünfundsiebzigtausend Dollar, die er noch den Buchmachern schuldete. Was für ein glücklicher Zufall, daß dies fast genau die Summe war, die sie und Jeremy für ihr Haus herausbekamen, wenn sie es verkauften.
»Nein, ich werde das Haus nicht verkaufen«, hatte sie gesagt.
»Die könnten mich ziemlich in die Mangel nehmen. Oder Schlimmeres.«
Sie verkauften das Haus.
Fast ein Jahr war das so gegangen, und sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt. Jetzt, im Rückblick, waren die Anzeichen so leicht zu erkennen. Ihr waren seine Zerstreutheit, seine immer häufigeren Abendtermine, seine hektische Aktivität schon aufgefallen, aber er hatte das immer alles auf das schlechter gehende Geschäft, die Rezession geschoben. Doch sie hätte es besser wissen müssen. Jeremy konnte zwar ziemlich unbeherrscht sein, aber er hatte noch nie die Hand gegen sie erhoben. An dem Abend, an dem er ihr von seinen Spielschulden erzählte und damit ihrer Ehe den Todesstoß versetzte, an dem Abend hatte er sie auch ins Gesicht geschlagen.
Sie strich vorsichtig über die noch immer nicht ganz verheilte Prellung an ihrem Arm; die hatte er ihr an dem Tag beigefügt, an dem sie ihn verlassen hatte.
Hollie stieß einen tiefen Seufzer aus, während sie die Zeitung nahm und sich damit auf die Couch legte. Keine fünf Minuten später läutete das Telefon.
Sie schreckte hoch und nahm den Hörer ab. »Hallo .. .« Sie wartete und sagte dann noch einmal: »Hallo.«
Schweigen.
Hollie legte auf und mußte an den Anruf am Abend zuvor denken. Beide Male war es schon spät gewesen, und beide Male hatte der Anrufer erst eine Weile gewartet, damit derjenige, der sich meldete, auch ein richtig mulmiges Gefühl bekam. War es möglich, daß dieser Dylan aus verletzter Eitelkeit so weit gehen würde? Sie stand auf, trat zum
Fenster, schob die geblümten Baumwollvorhänge beiseite und schaute auf die Straße hinaus. Bis auf eine einsame Lampe an einem Türpfosten waren Dylans Haus und Garten dunkel. Plötzlich fiel ihr Jeremy wieder ein.
Ein eisiger Schauer kroch ihr den Nacken hoch und ließ sie zusammenzucken. Rasch zog sie die Vorhänge wieder zu und warf einen hastigen Blick den Gang hinunter. Sie hatte draußen zwar weder etwas gesehen noch etwas gehört, das dieses Unbehagen in ihr ausgelöst hätte, aber sie hatte so ein Gefühl, als ob irgend jemand sie beobachtete.