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PROLOG

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»Morgens früh um sechs kommt die kleine Hex’.«

Mutter und Kind saßen sich auf dem Rasen gegenüber und klatschten rhythmisch in die Hände. »Entschuldigen Sie«, sagte Chris.

»Morgens früh um sieben...«

»Verzeihung, aber...«

»... schabt sie gelbe Rüben.«

»Hören Sie, bitte!«

Die Mutter blickte auf und sah Chris blinzelnd an. Sie hielt ihre Hand vor die Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen. Chris kniete sich neben sie ins Gras und spürte sofort die angenehme Kühle des Bodens an ihren nackten Beinen. Sie nahm ein Bild aus ihrer Handtasche und hielt es der Frau hin: blondes Haar, blaue Augen; auf dem zerknitterten Foto zog sich ein Knick durch das markante Lippenprofil eines Jungen.

»Das ist mein Sohn Kevin«, sagte sie. »Haben Sie ihn vielleicht gesehen?«

Das Kind stand auf und ließ sich in den Schoß seiner Mutter plumpsen. Sie zog es dicht an sich – fast zu dicht. Sie starrte auf Chris, dann auf das Bild und wieder auf Chris. Oje, dachte Chris, war sie vielleicht eine von den vielen, die sie schon gefragt hatte?

Endlich antwortete die Frau mit einem Kopfschütteln: »Nein, es tut mir leid. Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Hier ... im Park.«

»Haben Sie die Polizei schon verständigt?«

»Ja, natürlich. Sie suchen ja auch schon.«

Chris begann auf einmal, mit dem Kopf zu nicken. Sie schnalzte mit der Zunge und rang um die richtigen Worte, die aber nicht kamen, weil es keine gab.

»Falls Sie ihn doch noch sehen... Ich heiße Chris. Chris Mathews. Ich bin jeden Tag hier.« Sie stand langsam auf und deutete auf ein rotes Sandsteinhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Ich wohne gleich da drüben.«

Die Frau folgte zuerst Chris’ Handbewegung, dann richtete sie ihren Blick wieder auf deren Gesicht.

»Selbstverständlich. Ich werde Ausschau halten. Seit wann vermissen Sie ihn denn?«

»Heute sind es genau neun Monate.«

Chris vernahm das Atemstocken und drehte sich gleich weg. Sie konnte die wortlose Anklage in dem Gesicht dieser Frau einfach nicht ertragen – die gleiche Anklage, die sie täglich in Neils Augen lesen konnte: So schwer kann es doch nicht sein, auf einen kleinen Jungen aufzupassen.

Wenn er nur einmal die Worte aussprechen würde, nur ein einziges Mal. Eine Anschuldigung wäre leichter zu ertragen als dieses Schweigen. Aber Neil wünschte sich nichts sehnlicher, als zu vergessen, daß Kevin je gelebt hatte. Und im Grunde wollten das alle – alle außer ihr.

Chris hatte schon stundenlang die Gegend nach Kevin abgesucht. Sie war müde, und die Hitze machte ihr zu schaffen. Am Vormittag, als sie das Haus verließ, zeigte das Thermometer schon über fünfunddreißig Grad an. Jetzt fühlte sich ihre Kleidung auf der Haut an, als sei sie festgeklebt. Sie setzte sich auf eine Bank, öffnete die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse und schaute zu den Kindern hinüber, die spielten, Sandwiches aßen und Limonade tranken. Ein kleiner Junge mit strohblondem Haar teilte gerade sein Eis mit einem Irish Setter, dessen traurige Augen überhaupt nicht zu dem buschigen Schwanz paßten, den er mit Freuden in der Luft wedelte.

Kevin liebte Tiere. Wenn er jetzt hier wäre, hätte er sich schon längst mit dem Hund angefreundet... Chris ließ ihren Blick auf die riesige Eiche am Rande des Spielplatzes hinüberschweifen und versank erneut in Erinnerungen...

»Schau mal, Mami! Schau doch her!«

Sie hatte ihr Buch gerade auf die Decke fallen lassen und sich gegen den Baumstamm gelehnt. Kevin kam auf sie zugerannt. Neben ihm trabte ein Hund, der fast doppelt so groß war wie er selbst.

»Mann, was für ein Riesenkerl! Wo hast du ihn nur aufgegabelt?« hatte sie gefragt, während sie den neuen Begleiter ihres Sohnes streichelte.

Kevin stellte sich vor sie hin. Der Hund legte sich daneben. »Am Sandkasten, und weißt du was?«

Sie lächelte. »Nee, weiß ich nicht. Sag’s mir doch.«

»Ich konnte ihn behalten.«

Chris beugte sich vor und streichelte den flauschigen Hals des Hundes. »Ja? Und wer sagt das?«

Kevin wandte sich dem Hund zu, preßte sein Gesicht an die feuchte Schnauze und umarmte ihn. »Er sagte es. Er ist nämlich mein Freund.«

»Aber er gehört doch jemand anderem, Kevin. Vielleicht sogar einem anderen kleinen Jungen. Was denkst du, wie er sich fühlt, wenn wir seinen Hund mit nach Hause nehmen?«

Kevin schluckte und schaute Chris kopfschüttelnd an. Nach langem Zögern antwortete er: »Vielleicht nicht so toll?«

Chris erinnerte sich nun an ihre Überlegung von damals: Wenn Kevin ein bißchen älter sein würde, dann könnten sie und Neil ihm einen Hund kaufen...

Plötzlich wurde aus der einzelnen, riesigen Eiche ein ganzer Wald voller Bäume, und es war ein ganz anderer Tag. Und Kevin war irgendwo in diesem Wald. Sie rannte wie eine Besessene zwischen den Bäumen hin und her, doch sie konnte ihn nirgends finden. Aber er mußte da sein, sie wußte es. Warum konnte sie ihn nicht finden?

Auf einmal sprang sie auf. Rasch wandte sie ihren Blick von der Eiche ab, Richtung Teich, und da sah sie ihn! Atemlos starrte sie auf den kleinen Jungen, der am Wasserrand kauerte und die Enten mit Popcorn fütterte. Zunächst blieb sie still stehen, bis er ihr das Gesicht zuwandte und sie ganz sicher war. Im nachhinein würde sie sich nicht mehr daran erinnern können, zum Teich gelaufen zu sein. Aber im Nu war sie dort, ganz nahe bei ihm, und streckte die Arme nach ihm aus.

»Kevin«, sagte sie so ruhig, daß sie ihre eigene Stimme kaum wiedererkannte.

Er schaute zu ihr auf, sagte aber nichts.

»Es ist doch Mami, Kevin.«

Seine blauen Augen wurden plötzlich ganz groß. Dann stand er auf und ließ langsam seine Popcorntüte fallen. »Jetzt ist alles wieder gut, Liebling. Mami ist da, um dich nach Hause zu bringen.«

Er trat einen Schritt zurück.

»Kevin, komm her!«

Jetzt machte er den Mund auf. Schrille, entsetzliche Schreie ließen Chris erstarren. Sie blieb wie angewurzelt stehen. In dem Augenblick erschien wie aus dem Nichts eine Frau, die Kevin hochriß und ihn fest in ihre Arme schloß.

»Lassen Sie ihn herunter!« rief Chris.

Im Nu bildete sich eine Menschenmenge – sie huschten aus dem Gebüsch und hinter den Bäumen hervor, so als seien sie schon immer dagewesen und auf der Lauer gelegen. Sie gingen auf Chris zu und bildeten um sie einen großen Kreis. Schließlich kam sie wieder auf die Beine und begann, sich auf den Jungen zuzubewegen. Es war, als würden Hunderte von Armen nach ihr greifen, sie festhalten, sie immer fester umklammern, je mehr sie versuchte, sich zu befreien.

Zwei Polizisten bahnten sich einen Weg durch die Menge. Chris versuchte, ihnen zuzurufen, den steigenden Lärm und die durcheinanderpurzelnden Worte zu übertönen.

»Schauen Sie sich das Bild an!« Sie streckte ihnen ihre Handtasche entgegen. Einer der Polizisten öffnete die Tasche, aber statt des Bildes holte er ihre Brieftasche hervor und begann, ihre Papiere und Kreditkarten durchzublättern. Von dem Foto, das dabei auf den Boden flatterte, nahm er überhaupt keine Notiz. Chris versuchte, sich wieder loszureißen, um das Bild aufzuheben, aber Hände und Arme griffen wieder nach ihr. Dieses Mal war sie es, die aus lauter Verzweiflung schrie.

Einige Zeit verging, doch so sehr sie sich bemühte, die Minuten zu zählen, konnte sie sich nicht erklären, wohin sie so schnell entschwanden.

Plötzlich wurde es still in der Menge. Die Leute zogen sich zurück. Dann kam durch eine Gasse, die sie gebildet hatten, Neil auf sie zugerannt. Er weinte – mein Gott, warum denn? Chris zeigte auf den kleinen Jungen. »Es ist Kevin. Ich habe ihn gefunden!«

Neil schaute flüchtig auf das Kind, drehte sich aber sofort wieder weg, als könnte er den Anblick seines eigenen Sohnes nicht ertragen.

»Verstehst du denn nicht? Es ist doch Kevin!«

Neil packte sie mit beiden Händen an den Schultern und fing an, sie kräftig zu schütteln.

»Chris, bitte! Hör auf. Er kommt nicht zurück!«

Sie holte aus und schlug mit beiden Fäusten gegen seine Brust. Sie krallte ihre Fingernägel in sein Gesicht, so daß es blutete.

»Du Schwein, du verlogenes Schwein!«

Er drückte sie zu Boden und setzte sich auf sie. Mit einer Hand hielt er ihre Handgelenke fest, mit der anderen kraulte er ihr durchs Haar.

»Chris!« Mit tränenerstickter Stimme redete er auf sie ein:

»Kevin ist tot... Kevin ist tot...«

Er wiederholte immer nur den einen Satz, bis schließlich der Krankenwagen kam.

Stimme des Blutes

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