Читать книгу Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 5

Kapitel 2

Оглавление

Als Chris wieder nach unten kam, waren David und Erin bereits gegangen. Der Frühstückstisch war abgedeckt, das Geschirr schon vorgespült und in die Spülmaschine geräumt. Anscheinend hatte es David noch erledigt, bevor er gegangen war. Chris schaute auf die Uhr – 8.30 Uhr. Der Termin beim Arzt war erst um zehn. Sie schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Zufrieden betrachtete sie ihre sauber aufgeräumte Küche.

Trotz Erins erster abweisender Reaktion, stellte Chris fest, daß es ihr überhaupt nicht leid tat, David aufgenommen zu haben. Im Gegenteil, allein seine Anwesenheit schien alles ein bißchen aufzuheitern. Das Haus mit seinen zwölf Zimmern war für ihre dreiköpfige Familie wirklich viel zu groß. Ursprünglich hatte sie mit Neil zusammen eine große Familie geplant, aber das war vor Kevins Zeit ... und Erins. Ihre zweite Schwangerschaft hatte nichts von dem wunderbaren Zauber der ersten; in einem Moment war sie aufgeregt, im nächsten voller Panik. Ihre Gefühlswelt war wie eine Achterbahn, in der nur zählte, daß sie heil ankam. Schließlich wurde Erin geboren, und Neil überredete sie danach, die Pille zu nehmen. Er versuchte sie auch zu überreden, wegzuziehen – weg vom Haus, weg vom Park. Aber Chris weigerte sich hartnäckig. Oft fand Neil sie in Kevins Zimmer vor dem großen Fenster, ihr Blick auf den Park fixiert. »Wozu nur?« fragte er. »Was bringt das noch?«

Sie hatten sich auf Kevins Geburt gründlich vorbereitet und waren auf alles gefaßt gewesen: das nächtliche Stillen, den Keuchhusten, die ersten Zähne ... Aber es kam alles ganz anders, so als wollte er ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Kevin schlief schon von der ersten Woche an durch. »Soll er so viel schlafen?« hatte Neil immer wieder gefragt. »Vielleicht langweilt er sich mit uns.«

»Er spart nur seine Kräfte«, antwortete sie. »Wart’s nur ab.« Und sie mußten auch nicht lange warten, denn schon mit sieben Monaten machte er die ersten Schritte; mit neun Monaten sprach er die ersten Worte, und mit zehn Monaten konnte er schon aus dem Kinderbett klettern. Sie konnte sich noch gut an den Morgen erinnern, als sie die Augen öffnete und auf eine kleine Gestalt mit herunterhängender Schlafanzughose blickte, die durch einen Türspalt in ihr Schlafzimmer schaute. Sie richtete sich auf, rieb sich die Augen und gab Neil einen Stoß mit dem Ellbogen. »Steh auf. Es sieht aus, als hätten wir Besuch.«

Neil gähnte und stützte sich auf einen Ellbogen. »Komm her, du kleines Schlitzohr.« Und Kevin stolperte freudig auf ihr Bett zu und hüpfte wie ein Äffchen auf der Matratze hin und her. Dies war der erste, gefolgt von vielen solchen morgendlichen Besuchen. Kevin wurde ihr Wecker. Pünktlich um 6.30 Uhr war er da und hatte meistens einige seiner Bücher mitgebracht. »Geschichte, Mutti!« sagte er dann, während er vorsichtig ein Buch zwischen ihre Nase und ihr Kopfkissen schob. Sie war für die Geschichten zuständig, Neil für die Comics in der Sonntagszeitung. Beide, Neil und Kevin, richteten das gemeinsame Sonntagsfrühstück im Bett. Neil brachte das vollgestellte Tablett mit Kaffee, Milch, Saft, Toast und Cornflakes, und Kevin brachte die Zeitung ... Chris holte ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Neil hatte sie einfach nicht verstanden. Das entscheidende war, daß die Erinnerungen alles waren, was ihr von ihrem Erstgeborenen übriggeblieben war. Und sie war nicht bereit, auch darauf zu verzichten.

Wenn man sie gefragt hätte, zu welchem Zeitpunkt sie den Entschluß gefaßt hatte, David das Zimmer zu geben, statt des anderen in der zweiten Etage, das sogar einen separaten Eingang hatte, sie hätte es nicht beantworten können. Es war, als hätte sie überhaupt keine bewußte Entscheidung getroffen. Und das gleiche galt für die Sache mit der Miete. Sie hätte nicht sagen können, wann oder wie sie auf den Betrag gekommen war, den sie David genannt hatte. Zwanzig Dollar die Woche und das bißchen Arbeit nebenbei? Das würde kaum reichen, um die Mehrkosten für sein Essen zu decken. In der Wohngegend hätte man leicht das Dreifache verlangen können. Und was würde Neil davon halten? Sie lächelte. David hatte das Zimmer wirklich gut gefallen. Das hatte sie gleich bemerkt, als er eintrat, wie er jedes Detail der Einrichtung begeistert aufgenommen hatte. Zwar war es ein bißchen seltsam, daß er nichts verändert haben wollte, aber was machte das schon?

Sie zog ihre Jacke an, nahm Handtasche und Schlüssel und verließ das Haus mit dem festen Vorsatz, sich einfach keine Gedanken mehr über die ganze Angelegenheit zu machen. Auch Erin würde sich daran gewöhnen, Platz und Aufmerksamkeit mit einem anderen zu teilen. Vielleicht würde sie eines Tages sogar zu David aufschauen. Auf jeden Fall wäre David eine große Hilfe. Und das Allerwichtigste war, daß Neil nun endlich nach Hause kommen würde.

Als Chris in die Storrow Street einbog, hatte sich der Berufsverkehr etwas beruhigt. Sie öffnete das Handschuhfach, nahm eine Kassette mit Beethovens Mondscheinsonate heraus, steckte sie in das Gerät und lehnte sich zurück. Sie ließ ihren Blick über die Kurven der Straße gleiten, begleitet von dem Auf und Ab der Triolen des Klavierspielers. Links schmiegte sich die Straße an die Konturen des Charles Rivers.

Seit dem 12. Juli fuhr Chris fast täglich diese Strecke, seit dem Tag, an dem Craig Phillips, Neils Assistent, sie angerufen hatte, um ihr die schreckliche Nachricht zu übermitteln. »Neil saß an seinem Schreibtisch und war mit einem Fall beschäftigt, als er plötzlich zusammensackte und seitlich umfiel.« Craig hatte sich schnell und präzise ausgedrückt; ihm waren Zeit und Worte kostbar.

Chris wartete mit Schrecken auf weitere Einzelheiten. Schließlich fragte sie: »Wird er überleben?« Sämtliche anderen Gefühle hatte sie für einen Augenblick verdrängt, um sich an Craigs Beteuerung festklammern zu können: »Ja, er wird leben.« Aber als sie Neil zum ersten Mal sah, bezweifelte sie es. Sein fahles, erstarrtes Gesicht glich einer Eisschicht. Nur an den Augen war er noch zu erkennen, an den tiefliegenden, mit schweren Lidern bedeckten Augen, die in einem Körper festgehalten wurden, der nicht mehr sein eigener zu sein schien. Nur seine Augen konnten noch sprechen, und Chris mußte ganz genau zuhören. S-c-h-1-a-g ... Die Buchstaben reihten sich in ihrem Bewußtsein aneinander und stellten sich wie ein Stichwort in einer Enzyklopädie dar. Im Mittelalter hielt man Schlaganfälle für Gottes Strafe an Sündern. Irgendwo hatte sie das schon mal gelesen, ein Fetzen nutzloser Information, gespeichert und im unpassenden Moment gegenwärtig geworden.

»Ein Schlaganfall tritt ein, wenn die Funktionen des Gehirns durch eine Unterbrechung der Blutversorgung gestört werden«, erklärte der Arzt. Er betonte jedes Wort, so als würde es ihr Verständnis erleichtern. »Bei Ihrem Mann – das wurde bei der KAT-Untersuchung deutlich – war es eine geplatzte Ader.«

»Warum?«

»Arteriosklerose. Adern werden, wie Knochen auch, mit zunehmendem Alter spröde. Überanstrengung oder Streß kann manchmal eine Blutung verursachen. Genau kann man es nicht sagen.« Er hatte ihre Frage mißverstanden, aber sie hatte eine Frage gestellt, die unmöglich zu beantworten war. Sie wollte wissen, warum von allen Menschen dieser Welt ausgerechnet Neil?

Neil war vor einem knappen Jahr zum Oberstaatsanwalt des Bezirks Middlesex gewählt worden. Obwohl er als Rechtsanwalt fast das Doppelte seines jetzigen Gehalts verdient hatte, war ihm der Wechsel willkommen, denn so konnte er die Rechte der Opfer vertreten, statt die der Täter. »Irgendwo«, hatte er gemeint, »ist der Kerl, der sich um mehr als um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, auf der Strecke geblieben. Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch zum Idealisten. Aber lieber spät als gar nicht.«

Im Gegensatz zu den meisten gewählten Amtsträgern hegte Neil keine höheren politischen Ambitionen. Er hatte nur ein Ziel: die strafrechtliche Verfolgung des Verbrechens, egal, in welch teurem Gewand es sich präsentierte. Wenn überhaupt jemand dazu imstande war, dann war es Neil. Er genoß den Ruf, einer der fähigsten Strafverteidiger des Bundesstaates Massachusetts zu sein. In den wenigen Monaten seit seinem Amtsantritt war es ihm gelungen, ein Nest voller Korruption auszuheben, an dem sogar hochgestellte, lang gediente Richter beteiligt waren.

Chris parkte den silberfarbenen Volvo auf dem Besucherparkplatz des Krankenhauses und ging zum Vordereingang. Als sie das Sprechzimmer von Dr. Frank betrat, nahm er seine breitrandige Brille ab und deutete damit auf einen Sessel.

»Guten Morgen, Mrs. Mathews.«

Sie legte ihre Jacke ab und setzte sich, während der Arzt Neils dicke Akte öffnete.

»Was halten Sie davon, wenn wir Neil am kommenden Montag entlassen?« fragte er.

»Wunderbar! Neil wird begeistert sein!«

»Dann dürfen Sie ihm die freudige Nachricht selbst überbringen.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Er wird einen Physiotherapeuten zu Hause brauchen, das haben wir schon besprochen.«

»Dreimal die Woche, je eine Stunde. Ich habe schon dafür gesorgt.«

»Gut«, sagte er und setzte seine Brille wieder auf. »Normalerweise gebe ich die Anweisung, daß der Patient beschäftigt werden soll, und daß er geistige Anregung bekommen muß, damit er nicht in Apathie verfällt. Aber in Neils Fall, glaube ich, besteht diese Gefahr kaum, denn er scheint sich selbst anzutreiben. Es wird vielmehr Ihre Aufgabe sein, ihn zu überzeugen, alles langsamer angehen zu lassen.«

»Das ist aber leichter gesagt als getan. Wenn Neil sich etwas in den Kopf setzt, ist er kaum zu bremsen.«

Der Arzt lächelte. »Das scheint mir auch so, und ich kann es ihm wirklich nicht übelnehmen. Immerhin ist es seiner Entschlossenheit zu verdanken, daß er heute schon soweit ist. Seine Genesungsfortschritte seit dem Anfall sind einfach enorm. Nein, ich mache mir darüber Sorgen, daß er in Wut geraten könnte, wenn er auf ein Hindernis stößt, das er noch nicht überwinden kann. Wenn er sich Mühe gibt, bin ich überzeugt, daß er fast alle seiner Kräfte wieder erlangen kann – wenn nicht sogar alle. Aber es wird nicht über Nacht geschehen.«

Neil saß vollständig angezogen am Fenster und starrte hinaus, als Chris ins Zimmer trat. Obwohl sein Gedächtnis im großen und ganzen wiederhergestellt war, gab es noch Lücken, fehlende Verbindungen. Hin und wieder fielen ihm einfache Wörter nicht ein; vergangene Gespräche und Ereignisse konnte er manchmal nicht mehr zusammenhängend darstellen. Chris hatte sich an den gespannten, fast gequälten Gesichtsausdruck gewöhnt, den sie jetzt in seinem Gesicht erkannte. Neil hatte seiner Konzentrationsfähigkeit immer große Bedeutung beigemessen: ein Patentrezept für alle Fälle und alle Probleme. Aber jetzt bedeutete Konzentration für ihn eine enorme Anstrengung, der er noch nicht gewachsen war.

Er nahm Chris’ Anwesenheit erst zu Kenntnis, als sie sich zu ihm hinabbeugte, um ihm den Nacken zu küssen. »Noch einmal, Schwester«, sagte er.

Sie drehte seinen Stuhl herum und sah ihm ins Gesicht. »Und was, bitte schön, soll das heißen?«

Erst lächelten seine Augen, dann auch seine Lippen. Einer seiner Mundwinkel ging höher als der andere. »Das Lächeln bekommst du schon ganz gut hin«, sagte sie. »Wenn du’s oft genug übst, wirst du darin Meister, wetten?«

»Gründe brauche ich. Nenne mir welche.«

Chris holte sich einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. »Na gut, aber nur, wenn du dich anständig benimmst, und nur, wenn du aufhörst, das ganze Personal hier verrückt zu machen. Vielleicht fällt mir dann etwas ein.«

Neil unternahm keinen Versuch, zu antworten.

»Was ist heute für ein Tag, Neil?«

»... Mittwoch,«

»Genau. Noch fünf Tage bis Montag, und dann wirst du entlassen.« Sie merkte, daß er es noch nicht ganz begriffen hatte. »Du kommst nach Hause, Neil. Am Montag bringe ich dich nach Hause.«

Er legte seinen noch etwas lahmen Arm auf ihr Knie. »Es wird auch langsam Zeit«, sagte er.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie versuchte, sie zurückzuhalten. Tränen jederart, ob der Freude oder der Trauer, störten ihn.

»Zurück zur Arbeit«, fügte er hinzu.

»Noch nicht.« Sie senkte ihre Stimme. »Laß dir damit noch etwas Zeit, Neil. Du kannst diesen Druck noch nicht aushalten, und das weißt du. Dr. Frank will, daß du nichts überstürzt. Es wird alles wieder gut werden, aber es braucht seine Zeit.«

»Frank weiß gar nichts.«

»Mag sein. Sagen wir einfach, daß Erin und ich dich ein bißchen um uns haben möchten, ganz für uns allein. Das solltest du uns gönnen. Oh, das erinnert mich an etwas – ich habe noch eine Neuigkeit für dich.«

Er wartete.

»Wir haben einen Untermieter, Neil. David Crane. Er ist siebzehn, im ersten Semester an der Universität. Er ist ein ganz besonderer Junge, ein bißchen schüchtern, etwas ungeschickt, aber er hat einen gewissen Charme. Ich bin sicher, daß du ihn mögen wirst. Er ist ein Fotonarr. Ich habe ihm die alte Wäschekammer als Dunkelkammer überlassen.«

Verblüffte Augen sahen sie an.

»Er wird uns im Haus helfen. Ich kann schon jemanden brauchen ...«

Er legte seine Hand auf ihre. »Chris, ich weiß nicht ...«

»Was gibt es denn da zu wissen? Wirklich, Neil, er ist ein ganz besonderer junger Mann.«

»Aber zu jung. Im gleichen Alter ...«

Sie atmete tief ein. »Ich möchte, daß du dir meinetwegen keine Sorgen machst. Ich hätte ihn nicht aufgenommen, wenn ich es nicht verkraften könnte.«

Eine Weile war Ruhe. »Wo?« fragte er schließlich.

»Was meinst du mit ›wo‹?«

»Welches Zimmer hast du ihm gegeben? Das unterm Dach?«

Chris holte noch einmal Luft, bevor sie ihm antwortete. »Nein, Neil. Nicht unterm Dach. Ich habe ihm Kevins Zimmer gegeben.«

Seine Gesichtsmuskeln wirkten wie eingefroren, und sie machte sich auf Schlimmeres gefaßt. Aber zu ihrer Überraschung kam nichts mehr. Statt dessen entspannte sich sein Gesicht, und er beugte sich zu ihr und küßte sie.

Stimme des Blutes

Подняться наверх