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Kapitel 5

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Beim Betreten der Küche entdeckte David sofort den Umschlag, den Chris für ihn hinterlassen hatte. Während er sich einen Teller Cornflakes zurechtmachte, fuhr er mit den Fingern an den Kerben und Kanten des silbernen Schlüssels entlang. Mit zehn Jahren hatte er einmal eine Fernsehsendung über »Schlüsselkinder« gesehen. Seitdem hatte er sich immer gewünscht, eines von diesen Kindern zu sein, die nach Hause gerannt kommen, mit dem baumelnden Schlüssel um den Hals, um die Tür zu einem leeren Haus aufzuschließen. Aber es geschah nie. Fletcher arbeitete zu Hause. Er war immer da und wartete auf ihn. Außerdem besaß David nie einen Hausschlüssel – bis jetzt, bis zu diesem Tag. Er legte ihn auf den Tisch und aß die Cornflakes, sein Blick wich nicht von dem Schlüssel.

Er wäre gern früher hinuntergegangen, um mit Chris zu frühstücken. Aber in dem Moment, als Erin in ihrer burschikosen Art die Tür zum Hinterausgang des Hauses zugeworfen hatte, hörte er auch schon Chris’ leise Schritte auf der Treppe. Er blieb im Bett liegen, die Augen geschlossen, und lauschte dem Plätschern der Dusche und etwas später dem Summen des Föns. Er konnte sich jede einzelne ihrer Bewegungen vorstellen. Nichts Erotisches, nichts dergleichen, nur die Faszination, wie Frauen, im Gegensatz zu Männern, es immer wieder verstanden, aus diesen Abläufen etwas Besonderes zu machen.

Er erinnerte sich an einen Artikel, den er in einem Mädchenmagazin gelesen hatte: »Fünfundzwanzig Schritte zur richtigen Körperpflege.« Mit Bildern und allem. Zunächst erklärte die Autorin, wie man die schwer zu erreichenden Stellen wäscht, dann, wie man ein Handtuch fachgerecht um den Kopf wickelt, so daß am Ende, wenn alle Ecken nach innen geschlagen sind, das Ganze einem indischen Turban gleicht. Als nächstes beschrieb sie ihren Lesern, wie man mit einem Handtuch die Haut so trockenreibt, daß sie rot wird. Es folgten Erklärungen zum Rasieren, zur Nagelpflege, zum Entfernen von unerwünschten Haaren, zum Glätten der rauhen Hautstellen mit einem Stück Bimsstein ... und viele andere grausige Einzelheiten. Ferner wurden die verschiedensten Puder und Cremes sowie sonstige Präparate besprochen, und als Höhepunkt wurde ein Spritzer Eau de Toilette empfohlen, um dem Körper ein erfrischend prickelndes Gefühl zu geben. Gemessen an der Zeit, die Chris bis zum Anziehen gebraucht hatte, dürfte sie keinen einzigen der Schritte ausgelassen haben, dachte er.

Nach solchen Gedanken wäre es ihm peinlich gewesen, ihr gleich zu begegnen. Deshalb wartete er, bis sie das Haus verlassen hatte, und stand dann auf. Er ging in das geräumige Badezimmer, um aufzuräumen. Er hätte eigentlich wissen müssen, daß Chris niemand war, der Unordnung hinterließ. Abgesehen von der Feuchtigkeit an den Riesen und einer Mischung verschiedener Düfte gab es kein Anzeichen dafür, daß sie dagewesen war. Er öffnete ein Schubfach im Frisierschrank: Pinzetten, Scheren, Rasiermesser, Cremes – eine komplette Drogerie breitete sich vor seinen Augen aus. Er schaute in den Wäschekorb und fand, was er dort vermutet hatte, zwei nasse Handtücher und ein Nachthemd. Mit schlechtem Gewissen legte er den Deckel wieder auf den Korb und stieg unter die Dusche.

David aß die restlichen Cornflakes, spülte den Teller aus, stellte ihn in die Spülmaschine und nahm seine Jacke vom Stuhl. Noch einmal schaute er auf die Uhr, bevor er den Schlüssel nahm. Ihm blieb gerade noch Zeit genug, um vor der Arbeit irgendwo anzuhalten und sich einen Schlüsselanhänger zu besorgen.

Vielleicht würde er sich einen Anhänger mit einem Hasenfuß kaufen – er hatte schon immer so einen gewollt.

Steels erste Tat an diesem Tag war, David das Auseinanderbauen und Überprüfen eines Fernsehers beizubringen.

»Hast du’s?« fragte er immer wieder, als er auf die einzelnen Teile zeigte. Er manövrierte seine übergroßen Hände durch den engen Innenraum des Gerätes, und David wartete nur darauf, daß eine Hand irgendwo steckenblieb, so daß er ihm helfen müßte, sie herauszuziehen. Aber es war nicht nötig. Vielmehr mußte er mit Erstaunen feststellen, wie geschickt Steels lange, dicke Finger waren.

»Ich hab’s«, antwortete David schließlich.

Steel stand auf und wischte sich mit einem öligen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht, dann deutete er auf eines der Regale.

»Na gut. Dann hol dir den da und bau ihn auseinander, damit wir ihn überholen können.«

David stellte ein großes Gerät mit einem 60-cm-Bildschirm auf den Arbeitstisch. »Was bringt denn so einer, Steel?« fragte er.

»In dem Zustand nichts. Aber wenn wir fertig sind, müßte er zweihundert bringen.«

»Woher hast du sie?«

»Schreibst du ein Buch, oder was?«

»Bin nur neugierig.«

»Neugierige Leute geraten leicht in Schwierigkeiten, Junge. Also tätest du gut daran, dir das abzugewöhnen. Das einzige, was dich zu interessieren hat, ist deine Lohntüte am Ende der Woche.«

Nach diesem kurzen Gespräch begann David mit der Arbeit an dem Fernseher. Während er arbeitete, gingen Kunden ein und aus, unter ihnen ein gutgebautes Mädchen um die fünfzehn, das Steel krampfhaft anzumachen versuchte. Nur drei Kunden kauften etwas – die restlichen Geschäfte verliefen andersherum –, Steel kaufte von den Kunden. Einer von ihnen, ein Kerl mit einer Tätowierung über die ganze Länge seines Arms, brachte drei Fernseher und eine Stereoanlage. Steel feilschte lange mit ihm über den Preis, bevor er schließlich mit deutlichem Widerwillen einige Scheine auf den Tisch legte. Man mußte kein Hellseher sein, um zu wissen, was da vor sich ging.

Als es drei Uhr vorbei war, stellte David fest, daß er mit dem Job einigermaßen zufrieden sein konnte. Zum einen bastelte er gern. Zum anderen ließ ihn Steel, trotz seiner barschen Art, größtenteils in Ruhe. Am wichtigsten war aber, daß er Zeit genug hatte, um nachzudenken. Und jetzt, wo sein Leben völlig auf dem Kopf stand, gab es einiges zum Nachdenken. Es war noch keineswegs alles in Ordnung: da waren Neils Wutanfälle und Erins Drohungen ... und da war auch noch seine Angst davor, daß Kevins Erinnerungen seine Gedanken wieder so in Beschlag nehmen könnten wie schon einmal, als David noch ein Kind war. Doch heute war es ihm gelungen, alle unangenehmen Gedanken zu vertreiben. Heute hatte er die meiste Zeit an Chris gedacht.

Erin wartete schon an der Treppe zur Haustür, als David nach Hause kam. Er hatte kaum die erste Stufe erreicht, als sie anfing, ihn mit Fragen zu löchern. »Wo bist du denn gewesen?«

»Ich studiere, falls du das vergessen hast.«

»Aber ich dachte, die Vorlesungen würden erst nächste Woche beginnen.«

»Ich war zur Studienberatung.« Er ärgerte sich gleich, denn er schuldete ihr bestimmt keine Erklärungen. »Dir kann das doch egal sein, oder?«

»Wir müssen einige Möbelstücke in Dads Zimmer stellen.«

Sie gingen zusammen ins Haus und Erin folgte ihm nach oben. In dem Flur der oberen Etage roch es stark nach Desinfektionsmitteln. David ging dem Geruch nach bis zu einem Zimmer neben dem großen Schlafzimmer der Mathews. Chris, die vor einer Kommode hockte, stand auf und sah ihn an. Sie trug Jeans, ein verwaschenes Sweatshirt und Turnschuhe. Ein blaues Stirnband, das ihre kurzen, dunklen Locken hinten zusammenhielt, betonte ihre hohen Wangenknochen, die ihm bisher noch nie aufgefallen waren. Sie sah anders aus – nicht schlecht, nur anders.

»Schön, daß du da bist«, sagte sie.

»Es tut mir leid ...«

»Keine Ursache«, sagte sie und erstickte seine Entschuldigung im Keim. »Erin und ich möchten nur gerne Neils Zimmer in Ordnung bringen.« Während sie sprach, deutete sie auf Besen, Schrubber, Putzlappen und Reinigungsmittel, die in einer Ecke des Zimmers standen. Daneben stand auch ein Eimer mit grauem Wasser, auf dessen Oberfläche ein dreckiger Schaum schwamm. »Was uns jetzt noch fehlt, ist ein bißchen mehr Muskelkraft, damit wir Neils Schreibtisch in sein Zimmer rücken können.«

»Zeig mir nur, wo es langgeht«, erwiderte David.

»Mir nach«, sagte Chris lächelnd. Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn zum anderen Ende des Flurs. Erin trabte hinterher. Dort befand sich eine Nische. Einige breite Stufen führten zu einer Doppeltür. Sie ließ seinen Arm los, stieß die Türen auf und ging hinein. David folgte ihr. Er war sprachlos. Das Zimmer war so groß wie ein kleiner Tanzsaal – ein mit dunklem Holz getäfelter Tanzsaal. Aber es war etwas anderes, was ihm den Atem nahm: die Bücher. Drei der vier Wände waren mit Regalen bis zur Decke voll, und in den Regalen waren Hunderte – nein, Tausende von Büchern.

»Neil ist eine Art Sammler«, erklärte Chris.

»Eine ganze Wand ist mit Gesetzbüchern gefüllt«, sagte Erin.

»Hat er sie alle gelesen?«

»Wahrscheinlich nicht alle«, erwiderte Chris, »zumindest nicht alle Gesetzbücher. Die braucht er hauptsächlich für seine Forschungsarbeiten.«

Als David nichts dazu sagte, ging Chris zu dem großen, aus Holz gearbeiteten Schreibtisch und begann mit dem Aufräumen.

»Hol bitte ein paar Pappkartons, Erin. Wir müssen die Sachen hier in Dads Zimmer bringen.«

Erin lief fort. »Wird er – Neil – zu Hause arbeiten?« fragte David.

»Ja, obwohl ich dagegen bin. Aber da er es nun einmal will, finde ich es besser, wenn sein Schreibtisch in seinem Schlafzimmer steht.«

»Schläft Neil nicht mit dir zusammen im großen Schlafzimmer?«

Chris hörte auf, die Stifte und Papiere aufzusammeln, und schaute ihn an.

»Normalerweise schon, aber unter diesen Umständen, eine Zeitlang ...« Sie hielt inne und fuhr mit der Zunge über die Lippen, als wären sie auf einmal zu trocken, um weiterreden zu können.

Am liebsten hätte David die Frage sofort wieder zurückgenommen. Sie war dumm und gefühllos. Vor allem hatte er Chris damit in Verlegenheit gebracht, und das war wirklich das letzte, was er erreichen wollte. In dem Moment platzte Erin wieder ins Zimmer, und David war zum ersten Mal froh, sie zu sehen. Sie warf die Pappkartons auf den Boden, und sie fingen an, die Schubladen auszuräumen.

Mit geringer Unterstützung von Erin und Chris gelang es David, den schweren Schreibtisch über die fünf Stufen und den langen Flur in Neils Zimmer zu bringen. An der Art, wie die beiden ihn dabei beobachteten, bemerkte er, daß sie über seine Stärke erstaunt waren. Natürlich hatte er die Jacke ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt, so daß sein Bizeps zu sehen war: dreißig Zentimeter Umfang – er hatte ihn schon irgendwann einmal gemessen. Doch nicht so ausgemergelt, nicht wahr, Erin?

Sie hatten gerade die letzten Akten und Ordner in den Schreibtisch zurückgelegt, als der Lieferwagen vor dem Haus hielt. Erin lief hinunter und machte die Haustür auf. Fünf Minuten später trugen zwei riesige Kerle Einzelteile herein, die sich als Neils Bett zusammenfügen sollten.

David sah zu, wie die Männer das braune Packpapier entfernten, die Teile zusammenbauten und schließlich die Matratze auf das fertige Gestell warfen ... Er senkte den Kopf und schloß die Augen. Er zwang sich jedoch, sie wieder zu öffnen, um auf das Bett zu schauen. Und da lag er: Fletcher in einer großen Blutlache. Seine langen Füße hingen über das untere Ende des Bettes, die dicken Arme berührten fast den Fußboden. David wich zurück, unfähig, das Bild loszuwerden. Er fühlte ein Zittern am ganzen Leib, aber er konnte es nicht unter Kontrolle bringen.

David handelte immer nach der Auffassung, daß das Bewußtsein programmiert ist, die Realität akzeptieren zu können. Wenn aber ein Fehler im Programm auftauchte und man dadurch in Panik geriet, war ein hilfreicher Trick, sich so schnell wie möglich zu entspannen. Er entschuldigte sich hastig, lief in sein Zimmer und legte sich auf den Boden und nahm eine Yogastellung ein. Mit allen verfügbaren Kräften versuchte er, die Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Man nannte dies die »Befreiung vom Selbst«, und es gelang ihm, denn er spürte weder etwas, noch nahm er irgend etwas wahr, bis er das leise Klopfen an seiner Tür hörte. Als er die Augen öffnete und auf die Uhr schaute –17.30 Uhr –, stellte er fest, daß eine Dreiviertelstunde vergangen war.

Beim Aufstehen fühlte er sich wohl, so wohl sogar, daß ihm ein Lächeln gelang, als er die Tür aufmachte und Erin vor sich sah. Und das Lustige war, daß sein Willkommenslächeln sie völlig aus der Fassung brachte. Sie stand sprachlos da, vielleicht das zweite oder dritte Mal in ihrem Leben, daß so etwas vorkam.

»Was willst du denn?« fragte er.

»Warum bist du einfach weggelaufen, David?«

»Ich mußte mal. Ich wußte nicht, daß ich dich um Erlaubnis bitten muß.«

»Ich dachte eher, du hättest ein Gespenst gesehen.« Ihr Blick drückte wirkliche Besorgnis aus. »Was war denn los?«

»Nichts«, antwortete er. »Mir wurde nur auf einmal schwindelig, sonst nichts.«

Sie schlenderte ins Zimmer, und ihre Augen nahmen jedes Detail auf. David störte es nicht, denn er hatte wohlweislich seine persönlichen Sachen weggeräumt.

»Setz dich«, sagte er, indem er den Stuhl vom Schreibtisch in die Mitte des Zimmers rückte. Erin nahm Platz, während er stehen blieb. Er merkte ihr sofort an, daß es ihr unangenehm war, daß er auf sie herabblicken konnte. Dies erinnerte ihn an einen Artikel, den er einmal gelesen hatte, über die strategischen Vorteile bestimmter Körperpositionen.

»Es hat sich nichts geändert«, stellte sie fest.

»Wie meinst du das?«

»Das Zimmer. Du hast hier nichts verändert, nicht einmal die Disney-Puppen.«

»Hast du etwas gegen Donald Duck?«

Sie lächelte. »Nein, es wundert mich nur. Die meisten Leute hätten irgend etwas verändert.«

»Also bin ich anders als die meisten Leute.«

»David, wollen wir nicht heute abend im Fotolabor arbeiten?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum denn nicht?«

Er lehnte sich gegen die Wand und starrte sie an. Ihre Knie waren zusammengepresst, als hätte sie Angst, er könnte ihr unter den Rock schauen. »Und ich habe dich für so klug gehalten.«

»Und was meinst du damit?«

»Was wolltest du im Fotolabor machen?«

»Na, lernen, wie man Fotos entwickelt, natürlich. Was denn sonst?«

»Aber man kann sie erst dann entwickeln, wenn man sie gemacht hat, oder ist mir etwas entgangen?«

Erins Wangen erröteten so stark, daß sie zu schmerzen schienen. Nach einer Weile stand sie auf und ging in Richtung Tür.

»Ich habe eine Idee, Erin ...«

Sie blieb stehen.

»Vielleicht kann ich morgen ein paar Filme holen«, sagte er. »Wir könnten den Nachmittag im Park verbringen und dort unsere Fotos machen. Wie wär’s?«

»Meinst du wirklich, David?« antwortete sie entzückt. Begeistert lief sie auf ihn zu, als wollte sie ihn umarmen, aber im letzten Moment blieb sie verlegen stehen und ging rückwärts aus dem Zimmer.

Nachdem sie gegangen war, schaute sich David noch einmal in seinem Zimmer um. Vielleicht sollte er einige der Spielsachen wegräumen, dachte er. Aber um ehrlich zu sein, er wollte es einfach nicht. Er ging zum Regal und nahm ein Sparschwein herunter – Schweinchen Dick. Aus seiner Hosentasche fischte er zwei Zehncentstücke und ließ sie in den Schlitz fallen. Zu seiner Verblüffung grunzte das Schwein! David setzte sich aufs Bett und betrachtete das Sparschwein und war ganz in Gedanken vertieft.

Er hatte nie verstanden, wie und warum sich Kevin mit seinem Geist verbunden hatte. Er verstand auch jetzt nicht, wie es geschehen war. Aber allmählich fing er an, zu begreifen, warum ... Ein Kind, das all das besaß, was er hier vorfand, würde sich dem Tod nicht so leicht ergeben. Nein, es würde alles mögliche tun, um am Leben zu bleiben.

Stimme des Blutes

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